Tunesien liegt zwischen Namibia und Schlesien

Von Ijoma Mangold

Wie begegnet man Migranten? Thematisiert man im Gespräch, dass der andere anders ist, oder ignoriert man das besser? Angehörige der Mehrheitsgesellschaft haben eine ganze Reihe von Strategien entwickelt. Ijoma Mangold kennt sie bestens und erzählt von seinen persönlichen Erfahrungen als Mitbürger mit migrantischem Hintergrund. Nur hier. Und nie wieder.

Fast alle meine Ansichten, Hypothesen und Meinungen über die Welt gelten in meinem Freundes- und Kollegenkreis als bizarr, gesucht originell und nicht nachvollziehbar. Als Mann von Herz weiß ich das zu schätzen. Nur ein Thema gibt es, da ist das anders. Wann immer ich — und sei es nur andeutungsweise — davon rede, welche Erfahrungen einer in Deutschland machen kann, der äußerlich erkennbar das Klassenziel der Nürnberger Rassengesetze verfehlt hätte, wird jedes meiner Worte nicht nur widerspruchslos hingenommen, sondern als von hoher Glaubwürdigkeit und natürlicher Autorität empfunden. Als Mann von Geist und Herz ist mir das unangenehm.

Einmal, nur einmal (ich will ein Lügner sein, wenn das nicht stimmt) habe ich meinen negroiden Phänotyp zum Gegenstand eines Zeitungsartikels gemacht. Es war in der Zeit, als die Parteien über die deutsche Leitkultur diskutierten. Ich weiß zwar nicht genau, was deutsche Leitkultur ist, aber ich weiß, dass ich sie liebe. Trotzdem beschloss ich damals, meinen Beitrag zum Thema anekdotisch zu halten. Ich berichtete folgende komische Szene aus meinem Leben.

Es war im Jahr 1990. Ich fuhr mit dem Zug von Heidelberg nach München, um mich als wehrpflichtiger deutscher Staatsbürger um eine Zivildienststelle zu kümmern. In meinem Zugabteil saßen vier würdige Rentnerinnen, deren noch nachhallend lebhafte Unterhaltung mit meinem Eintritt augenblicklich verstummte. Mir war bewusst, dass ich das als Kompliment aufzufassen hatte. Die Damen lächelten mich mit einer derart enthemmten Freundlichkeit an, dass kein Zweifel bestehen konnte, dass sie den jungen Mann stillschweigend, aber einstimmig zum Ehrengast ihrer liebenswürdigen Runde erkoren hatten. Durchsichtige Ausflüchte wie die konzentrierte Lektüre eines Buches würden diese Damen, die sich schon als Trümmerfrauen nichts geschenkt hatten, nicht durchgehen lassen.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sie die Konversation eröffneten, jedenfalls dauerte es nicht lange, bis eine der Damen fragte, wo ich denn herkäme. Der Tonfall war der hingebungsvoller und hochherziger Gastfreundschaft. Und er unterstrich unüberhörbar die Grundsätzlichkeit der Frage. Ich war diese Frage gewöhnt und damals pflegte ich auf sie mit einer gewissen Bockigkeit zu reagieren, für deren Affektiertheit ich mich im Stillen sofort tadelte.

«Wo kommen Sie denn her, junger Mann?» «Aus Heidelberg», antwortete ich in meinem verbindlichsten Tonfall. «Nein, nicht wo Sie eingestiegen sind, wo Sie herkommen», half mir eine andere Dame auf die Sprünge. «Schon klar: aus Heidelberg.» «Wir meinen, wo Sie geboren sind?» «Ja, in Heidelberg eben», sagte ich, als wäre meine Begriffsstutzigkeit ungefähr so drollig wie ein Silberblick bei Mädchen. Aber die Fragetechnik der Damen war ebenso hartnäckig wie professionell. «Ja, ja, aber wo kommen denn Ihre Eltern her?» Und man sah dem Glanz ihrer Augen an, dass sie überzeugt waren, jetzt hätte sich die Schlinge zugezogen und allen meinen offensichtlichen Ausweichbewegungen wäre ein definitives Ende gesetzt.

Auf diesen Moment hatte ich gewartet. Aber es sollte kein Triumph von Dauer sein. Wahrheitsgemäß antwortete ich: «Meine Mutter ist aus Schlesien.» Und wie mit einer Stimme replizierten die Damen: «Aus Tunesien! Das sieht man doch gleich.» Und beglückt nickten sie sich gegenseitig zu, als gratulierten sie sich zu diesem Volltreffer. Das Thema war im übrigen damit für die Damen zu ihrer vollen Zufriedenheit erschöpft, und das Gespräch wandte sich für die weitere Fahrt in bester Laune gänzlich anderen Gegenständen meines Tuns und Treibens zu.

Diese kleine Szene, für die Zeitung damals viel knapper gefasst als hier, die ich weder kommentierte noch irgend deutete, fand unter Lesern wie unter Kollegen breiteste Zustimmung — und zwar aus vollem Herzen. Was genau sie da zustimmten, war mir allerdings völlig schleierhaft. Ich selbst fand diese Szene irgendwie charakteristisch, aber ich wüsste nicht zu sagen, charakteristisch wofür? Vermutlich schmunzelten die Leser und ich noch nicht einmal annähernd über dieselben Aspekte der kleinen Anekdote. Ich zumindest schmunzle vor allem über zwei Dinge. Meine Mutter ist noch in Schlesien geboren, mein Vater kommt aus Nigeria. Tunesien liegt so ziemlich genau in der Mitte zwischen beiden Landstrichen. Das finde ich komisch.

Etwas anderes finde ich auch komisch. Als ich antwortete: «Aus Schlesien», da war das nicht nur wahrheitsgemäß, sondern auch von Herzen gesprochen. Ich sehe mich als bekennender, im Übrigen gänzlich unfundamentalistischer Schlesienvertriebener der zweiten Generation. Das ist wieder so etwas, was meine Freunde für bizarr, gesucht originell und nicht nachvollziehbar halten. Aber Schlesien bedeutet mir wirklich sehr viel. Und deshalb finde ich es komisch — weil ich dann über mich selbst lachen kann —, wie die Damen mein geliebtes Schlesien kurzerhand in Tunesien verwandelten.

Natürlich war mir klar, dass die Leser diese Anekdote aus ganz anderen Gründen für lustig und bezeichnend hielten. Sie sahen in ihr vermutlich eine Bestätigung ihrer Befürchtung, dass Menschen anderer Hautfarbe in diesem Land nicht als Deutsche akzeptiert werden. Dass wir immer noch ein biologistisches Paradigma nationaler Identität in unseren Köpfen hätten und dass das gefährlich sei und desintegrativ wirke. Und ganz allgemein, dass man Menschen nicht penetrant nach ihrer Herkunft fragen soll, nur weil sie nicht wie Hans Albers aussehen. Ich schwöre bei Gott, all dies wollte ich damit bestimmt nicht sagen. Namentlich das Frageverbot, wie Sven Regner sagen würde, bin ich kein Kunde von.

Dass mir bei diesem Thema ohne jede Prüfung und quasi argumentfrei eine natürliche Autorität noch für Positionen, die gar nicht die meinen waren, zuwuchs, erschütterte mich so nachhaltig, dass ich mir schwor, mich nie wieder in der ersten Person Singular zu diesem Thema zu äußern.

Und im Ernst, das ist doch wirklich heikel. Oft fragen mich Leute, ob ich meine, dass Deutschland ausländerfeindlich sei. Und was immer ich antworte, in diesem einen Fall halten sie jeden meiner Sätze für ein getreues Abbild der Wirklichkeit. Das kann ich nicht verantworten. Denn ich weiß wirklich nicht, ob Deutschland ausländerfeindlich ist.

Zum Beispiel ist mein Eindruck, dass viele Deutsche manches für alarmierend und irgendwie rassistisch halten, was mir selbst völlig harmlos vorkommt. Manchmal zum Beispiel, wenn ich auf dem Lande in einer Bäckerei einkaufe, redet die Verkäuferin vollkommen grammatikfrei mit mir («Sie Semmeln wollen fünf»), obwohl ich mein Begehr zuvor in gestochenstem Hochdeutsch und unter Verwendung mindestens eines abhängigen Nebensatzes formuliert hatte. Ich finde das komisch, aber nicht tadelnswert.

Ich will aber auch ein verantwortungsbewusster Mensch sein und nichts verharmlosen, nur weil mir das Glück immer hold war. Wenn mich Leute fragen, ob ich je Nachteile in Deutschland durch mein anderes Aussehen erfahren hätte, kann ich nur voller Überzeugung antworten: Nein, eher im Gegenteil. (Mancher Frager hat da schon auf so heftige Weise erleichtert genickt, dass es von Enttäuschung kaum mehr zu unterscheiden war.) Schreibe ich aber diese gute Nachricht nieder, bekommt sie eine Allgemeingültigkeit, für die ich auch wieder nicht einstehen möchte. Zumal ich zugleich seltsamerweise der Meinung bin — allerdings eher theoretisch und abstrakt als konkret und praktisch —, dass Deutschland natürlich irgendwie rassistisch ist — wie alle Länder. Xenophobie ist eine anthropologische Konstante, wie jede Form der Abweichung strukturell von den kollektiven Instinkten verfolgt ist. Aber prägt das meine Lebenswirklichkeit? Nein.

Aber es gibt noch eine andere Versuchung — und ich gebe zu, ihr schon das eine oder andere Mal erlegen zu sein. Ich weiß, dass ich unangreifbar bin, wenn ich in zweideutiger Weise Ausdrücke verwende, die so einen leichten Diskriminierungstouch haben. ‹Mulatte› ist so ein Wort — ich mag es, und ich weiß, dass man das nicht sagen darf, und ich weiß natürlich auch, dass mir das Wort gerade deswegen gefällt, und ich weiß, dass mir keiner kommen kann — und weil ich nicht völlig blöd bin, weiß ich eben auch, dass diese Provokation ein sehr wohlfeiler Triumph ist. Und deswegen ist es eben besser, wenn ich über dieses Thema nicht in der ersten Person schreibe.

Ein ähnlicher Fall ist folgender: Freunde und Menschen, die mich halbwegs gut kennen, verspüren oft den Drang, in meiner Gegenwart Anspielungen zu machen im Sinne von Urwald, Häuptling, Nubier. Sie tun dies als Geste der Freundschaft, weil dadurch zum Ausdruck kommt, wie vertraut man miteinander ist, und dass man sich diese Form von Witzen bedenkenlos erlauben kann. Das stimmt ja auch. Mein Problem damit ist nur, dass die Variationsbreite dieser Witze so extrem klein und ihr Humor so dünn ist, ich mich aber immer zum Lachen verpflichtet fühle, schon um dem Eindruck vorzubeugen, ich lachte etwa nicht, weil ich den Witz für rassistisch hielte.

Dann gibt es die Sorte von Menschen, die sich selber als eigenwillige Intellektuelle beschreiben würden. Manche von ihnen verspüren den Drang, das Wort ‹Neger› möglichst freimütig in den Mund zu nehmen, gerne unter Hinweis auf die lateinische Etymologie des Wortes. Ich finde das Wort ‹Neger› auch nicht grundsätzlich schlimm, und ich weiß weiter, dass die, die es im Munde führen, dies nicht in diskriminierender Absicht tun, sondern nur, um ihre Unabhängigkeit von der Diktatur der politischen Korrektheit unter Beweis zu stellen. Aber auch das ist doch ein sehr wohlfeil errungener Beweis der eigenen Unabhängigkeit, und ich weiß nicht, ob ein solcher Mensch sich deswegen schon mit Recht für einen Freigeist halten sollte — und deswegen mag ich das nicht.

Ich bin sicher, auch wenn ich es selber nie erfahren habe, dass man als — wie es neuerdings gerne und erwartungsgemäß steif heißt — «Mitbürger mit Migrationshintergrund» in Deutschland manch demütigende Erfahrung machen kann. Mir steht es nicht an, das zu relativieren. Angesichts solcher Erfahrungen sind meine eigenen Überlegungen zweifelsohne geschmäcklerisch. Und deswegen werde ich den Teufel tun, je über dieses Thema in der ersten Person Singular zu schreiben.

Über den Autor

Ijoma Mangold, geboren 1971, ist Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung.

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