Wie können wir Krisen erkennen und so nutzen, dass wir Handlungsmaximen für die Zukunft gewinnen? Dies ist die Leitfrage dieser Magazinausgabe. Sie bezieht sich auf unser gesellschaftliches Lernverhalten in Phasen von Umbrüchen und in Notsituationen – auf unser „Krisenwissen“, unsere Ressource für die Zukunft. Je mehr Menschen wir die Frage stellten, desto klarer zeichnete sich ab: Unser Krisenwissen ist – noch – nicht zukunftsfähig.
Wir kommen durch einschneidende Erfahrungen von und mit Veränderungen zu neuen Erkenntnissen, die uns für kommende Krisen besser wappnen könnten. Doch diese Erkenntnisse finden nicht selbstverständlich Eingang in politische Prioritäten, kulturelle Gewohnheiten und ganz persönliches Verhalten. Ob wir von den langfristigen Folgen der Klimakrise sprechen oder vom akuten Pandemieverlauf, vom kommenden Umbau digitaler Demokratien in den nächsten 20 Jahren oder von Fragen des ökonomischen Gemeinwohls: Es klafft eine Lücke zwischen Wissen und Handeln; treffende Kritik stößt auf Hindernisse, die einer grundlegenden Veränderung unseres Zusammenlebens entgegenstehen.
Die Gesprächspartner dieser Magazinausgabe – der Rechts- und Kulturwissenschaftler Jedediah Purdy, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Alena Buyx, die Techniksoziologin Elena Esposito und das Medienkunstkollektiv Laokoon, vertreten durch Cosima Terrasse – beschreiben unsere Gegenwart als eine Periode großer ökonomischer, politischer und kultureller Veränderungen, die neue Formen des sozialen Zusammenlebens erfordern – lokal wie global. Wir wollten von ihnen erfahren: Wo gibt es Beispiele für eine gelungene Umsetzung von Krisenwissen in Krisenhandeln? Welche politischen, zivilgesellschaftlichen und kulturellen Akteure vermögen es, die Hemmnisse durch etablierte Institutionen und unreflektierte Konventionen zu thematisieren? Wo schaffen es Institutionen, sich erfolgreich von innen heraus zu reformieren? Woher kann die politische Energie für eine bewusste Gestaltung der notwendigen großen Veränderungen kommen, die uns – ob wir wollen oder nicht – in Europa und darüber hinaus bevorstehen?
Wir haben uns entschieden, das Thema dieser Magazinausgabe in Interviews und Gesprächen zu diskutieren. Diese Entscheidung darf als Plädoyer verstanden werden, Widersprüchen und offenen Fragen Raum zu geben. Krisenwissen kann keine abgeschlossene Wissensform sein, es ist ein lautes Nachdenken, gerne im Dialog. Hierbei tauchen Motive und Themen auf, die für alle unsere Gesprächspartner von grundlegender Bedeutung waren. Dank einer grafischen Spur können Sie diese Themen in jedem Text entdecken.
Die Klimakrise ist Jedediah Purdys Arbeitsschwerpunkt. Auch wenn ihre Auswirkungen auf unseren Lebensraum bereits ganz unmittelbar für jeden und zugleich als globale Herausforderung erfahren werden und die Dringlichkeit von Gegenmaßnahmen nicht mehr bestritten wird, betont Purdy, dass wir das Ausmaß dieser Krise weiterhin weder intellektuell noch emotional erfasst haben. Immerhin gehe es bei der Umweltpolitik um die Verantwortung dafür, wer leben dürfe und wer sterben müsse. Im Interview fragt Purdy auch nach der Rolle, die Realpolitik für die notwendige Etablierung einer Ordnung globaler Gerechtigkeit spielt. Es brauche Bildwelten, die uns begreifen und erfahren lassen, dass mit dem Klimawandel letztendlich die gesamte Infrastruktur des Lebensraums Erde instabil wird: eine Art „Welttheater“.
Das Gespräch zwischen Elena Esposito und Cosima Terrasse vom Kollektiv Laokoon dreht sich um die Veränderung unserer Kultur unter dem zunehmenden Einfluss algorithmischer Datenauslese. Gefährden die Rückschlüsse, die Unternehmen, Versicherungen oder politische Organisationen aus individuellen Datenspuren im Internet ziehen, unsere Vorstellung von der Freiheit und Autonomie der Person so dramatisch, wie Elena Espositos Forschung es nahelegt? Das Kollektiv Laokoon hat zu dieser Frage im Rahmen des Projekts Made to Measure (öffnet neues Fenster) in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes eine interaktive Storytelling-Website entwickelt. Ihr künstlerisches Experiment der Datenanalyse macht den schmalen Grat sichtbar, der zwischen dem determinierenden Einfluss des algorithmischen Profilings und dem menschlichen Begehren nach Deutungshoheit über die eigene lebensgeschichtliche Erzählung verläuft. Gemeinsam überlegen Esposito und Terrasse, warum Menschen trotz besseren Wissens durch ihr Verhalten im Internet zum Aufbau eines datengetriebenen Kapitalismus beitragen. Und auch sie suchen nach Ansätzen für technische und politische Interventionen.
Alena Buyx schließlich, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, berichtet dem Politökonomen Robert Lepenies über die praktische Seite des Krisenmanagements, den Wissenszuwachs sowie die Angst- und Ohnmachtserfahrungen der letzten eineinhalb Pandemie-Jahre. Ihr persönliches Resümee betont die Notwendigkeit, gesellschaftliche Lernerfahrungen vor Verschleppung im politischen Alltag zu bewahren und sie zu stabilisieren. Wesentlich dafür sei ein neues positives Verhältnis zu staatlichen Institutionen. Deren regulierende Kraft müsse in Krisenzeiten gestärkt werden und ihre Fachexpertisen über Legislaturperioden hinaus Einfluss gewinnen können. Buyx richtet den Blick auf den Übergang in eine Epoche, in der Ausnahmesituationen Teil der Normalität und wechselnde Anpassungsleistungen regelmäßig nötig werden.
Stefanie de Velasco fragt in einem literarischen Beitrag, welche Anpassung auch die Künste leisten müssen, um in einer von Krisen geprägten Wirklichkeit Orientierung bieten zu können: „Was brauche ich für Texte, um die Gegenwart zu stemmen, zu ertragen, zu verstehen, zu fühlen, zu gestalten?“
Die Malereien, Zeichnungen und performativen Arbeiten des Künstlers Nicholas Grafia erzählen auf sehr persönliche Weise von Krisenerfahrungen, denen seine Figuren oft nur durch Transformation, durch Anpassung und Tarnung, begegnen können. Und doch scheint selbst in dieser transformativen Kraft die Möglichkeit zur Selbstermächtigung zu liegen, wenn Krisenwissen zu Krisenhandeln wird.