Editorial

Hortensia Völckers, Kirsten Haß – Vorstand der Kulturstiftung des Bundes

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Wie können wir Krisen erkennen und so nutzen, dass wir Handlungsmaximen für die Zukunft gewinnen? Dies ist die Leitfrage dieser Magazinausgabe. Sie bezieht sich auf unser gesellschaftliches Lernverhalten in Phasen von Umbrüchen und in Notsituationen – auf unser „Krisenwissen“, unsere Ressource für die Zukunft. Je mehr Menschen wir die Frage stellten, desto klarer zeichnete sich ab: Unser Krisenwissen ist – noch – nicht zukunftsfähig.

Wir kommen durch einschneidende Erfahrungen von und mit Veränderungen zu neuen Erkenntnissen, die uns für kommende Krisen besser wappnen könnten. Doch diese Erkenntnisse finden nicht selbstverständlich Eingang in politische Prioritäten, kulturelle Gewohnheiten und ganz persönliches Verhalten. Ob wir von den langfristigen Folgen der Klimakrise sprechen oder vom akuten Pandemieverlauf, vom kommenden Umbau digitaler Demokratien in den nächsten 20 Jahren oder von Fragen des ökonomischen Gemeinwohls: Es klafft eine Lücke zwischen Wissen und Handeln; treffende Kritik stößt auf Hindernisse, die einer grundlegenden Veränderung unseres Zusammenlebens entgegenstehen.

Die Gesprächspartner dieser Magazinausgabe – der Rechts- und Kulturwissenschaftler Jedediah Purdy, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Alena Buyx, die Techniksoziologin Elena Esposito und das Medienkunstkollektiv Laokoon, vertreten durch Cosima Terrasse – beschreiben unsere Gegenwart als eine Periode großer ökonomischer, politischer und kultureller Veränderungen, die neue Formen des sozialen Zusammenlebens erfordern – lokal wie global. Wir wollten von ihnen erfahren: Wo gibt es Beispiele für eine gelungene Umsetzung von Krisenwissen in Krisenhandeln? Welche politischen, zivilgesellschaftlichen und kulturellen Akteure vermögen es, die Hemmnisse durch etablierte Institutionen und unreflektierte Konventionen zu thematisieren? Wo schaffen es Institutionen, sich erfolgreich von innen heraus zu reformieren? Woher kann die politische Energie für eine bewusste Gestaltung der notwendigen großen Veränderungen kommen, die uns – ob wir wollen oder nicht – in Europa und darüber hinaus bevorstehen?

Wir haben uns entschieden, das Thema dieser Magazinausgabe in Interviews und Gesprächen zu diskutieren. Diese Entscheidung darf als Plädoyer verstanden werden, Widersprüchen und offenen Fragen Raum zu geben. Krisenwissen kann keine abgeschlossene Wissensform sein, es ist ein lautes Nachdenken, gerne im Dialog. Hierbei tauchen Motive und Themen auf, die für alle unsere Gesprächspartner von grundlegender Bedeutung waren. Dank einer grafischen Spur können Sie diese Themen in jedem Text entdecken.

Die Klimakrise ist Jedediah Purdys Arbeitsschwerpunkt. Auch wenn ihre Auswirkungen auf unseren Lebensraum bereits ganz unmittelbar für jeden und zugleich als globale Herausforderung erfahren werden und die Dringlichkeit von Gegenmaßnahmen nicht mehr bestritten wird, betont Purdy, dass wir das Ausmaß dieser Krise weiterhin weder intellektuell noch emotional erfasst haben. Immerhin gehe es bei der Umweltpolitik um die Verantwortung dafür, wer leben dürfe und wer sterben müsse. Im Interview fragt Purdy auch nach der Rolle, die Realpolitik für die notwendige Etablierung einer Ordnung globaler Gerechtigkeit spielt. Es brauche Bildwelten, die uns begreifen und erfahren lassen, dass mit dem Klimawandel letztendlich die gesamte Infrastruktur des Lebensraums Erde instabil wird: eine Art „Welttheater“.

Das Gespräch zwischen Elena Esposito und Cosima Terrasse vom Kollektiv Laokoon dreht sich um die Veränderung unserer Kultur unter dem zunehmenden Einfluss algorithmischer Datenauslese. Gefährden die Rückschlüsse, die Unternehmen, Versicherungen oder politische Organisationen aus individuellen Datenspuren im Internet ziehen, unsere Vorstellung von der Freiheit und Autonomie der Person so dramatisch, wie Elena Espositos Forschung es nahelegt? Das Kollektiv Laokoon hat zu dieser Frage im Rahmen des Projekts Made to Measure (öffnet neues Fenster) in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes eine interaktive Storytelling-Website entwickelt. Ihr künstlerisches Experiment der Datenanalyse macht den schmalen Grat sichtbar, der zwischen dem determinierenden Einfluss des algorithmischen Profilings und dem menschlichen Begehren nach Deutungshoheit über die eigene lebensgeschichtliche Erzählung verläuft. Gemeinsam überlegen Esposito und Terrasse, warum Menschen trotz besseren Wissens durch ihr Verhalten im Internet zum Aufbau eines datengetriebenen Kapitalismus beitragen. Und auch sie suchen nach Ansätzen für technische und politische Interventionen.

Alena Buyx schließlich, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, berichtet dem Politökonomen Robert Lepenies über die praktische Seite des Krisenmanagements, den Wissenszuwachs sowie die Angst- und Ohnmachtserfahrungen der letzten eineinhalb Pandemie-Jahre. Ihr persönliches Resümee betont die Notwendigkeit, gesellschaftliche Lernerfahrungen vor Verschleppung im politischen Alltag zu bewahren und sie zu stabilisieren. Wesentlich dafür sei ein neues positives Verhältnis zu staatlichen Institutionen. Deren regulierende Kraft müsse in Krisenzeiten gestärkt werden und ihre Fachexpertisen über Legislaturperioden hinaus Einfluss gewinnen können. Buyx richtet den Blick auf den Übergang in eine Epoche, in der Ausnahmesituationen Teil der Normalität und wechselnde Anpassungsleistungen regelmäßig nötig werden.

Stefanie de Velasco fragt in einem literarischen Beitrag, welche Anpassung auch die Künste leisten müssen, um in einer von Krisen geprägten Wirklichkeit Orientierung bieten zu können: „Was brauche ich für Texte, um die Gegenwart zu stemmen, zu ertragen, zu verstehen, zu fühlen, zu gestalten?“

Die Malereien, Zeichnungen und performativen Arbeiten des Künstlers Nicholas Grafia erzählen auf sehr persönliche Weise von Krisenerfahrungen, denen seine Figuren oft nur durch Transformation, durch Anpassung und Tarnung, begegnen können. Und doch scheint selbst in dieser transformativen Kraft die Möglichkeit zur Selbstermächtigung zu liegen, wenn Krisenwissen zu Krisenhandeln wird.

Der Vorstand

Die Künstlerische Direktorin Hortensia Völckers und die Verwaltungsdirektorin Kirsten Haß bilden gemeinsam den Vorstand der Kulturstiftung des Bundes.

Zu den Bildern von Nicholas Grafia

Der 1990 in Angeles City/Philippinen geborene Nicholas Grafia hat sich nicht auf ein künstlerisches Medium spezialisiert. Seine Malereien können als eigenständige Werke betrachtet werden, dienen aber genauso oft auch als Kulissenelemente in seinen Filmen und Performances oder nehmen mit weiteren skulpturalen Objekten die Form räumlicher Installationen an. Seine Zeichnungen fungieren als Moodboards zur Entwicklung und Visualisierung neuer Ideen oder werden vom Künstler zu Storyboards für die Erprobung szenischer Abfolgen verknüpft. Nicht selten ist es die bei seinen Live-Auftritten gemachte Erfahrung mit dem Publikum, die er zu neuen Motiven für seine musikalischen Stücke oder in bildnerischen Gestaltungsverfahren weiterverarbeitet. Mit seiner crossmedialen Praxis schafft Grafia detailreiche „Settings“ voll von kunsthistorischen, politischen und popkulturellen Referenzen, die er oftmals um autofiktionale Elemente ergänzt. In ihnen begegnen sich mythische Sagengestalten, Berühmtheiten aus Film, Fernsehen und dem Internet, historische Persönlichkeiten aus verschiedenen Kulturräumen und mitunter auch das Alter Ego des Künstlers selbst. Indem er sie in einer einzigen Bildwelt zusammenfließen lässt, offenbart Grafia die transtemporale Konstruktion von Typen, Figuren und Identitäten. Er thematisiert die In- und Exklusion bestimmter Individuen aus einer westlich geprägten Globalgeschichtsschreibung und zeigt, welchen Einfluss ihre mediale Darstellung und Repräsentation auf den Einzelnen nehmen kann.

 

Auf den Seiten des Magazins schlängeln sich viskos gewordene Gliedmaßen von einem Rand zum anderen und klappen sich Arme, Beine und Hände wie das Besteck eines Schweizer Taschenmessers auf und ein. Stets scheint der Künstler die Gestalten im Moment ihrer jeweiligen Transformation abzubilden und damit der Vieldeutigkeit von Gefahr und Bedrohung durch Anpassung und Tarnung Ausdruck zu verleihen. Wenn sich Mund, Ohren, Nase im Spiegelbild zu grotesken Auswüchsen verlängern oder wächserne Maskengesichter davonzuschmelzen drohen, dann scheint sich neben der Absurdität, die individuelle Einpassungsversuche mit sich bringen mögen, auch die psychische und physische Belastung zu transportieren, die es bedeuten kann, ein anderer als man selbst sein zu wollen oder werden zu müssen. Wie der Rotorkopf eines Hubschraubers umlaufen Augenpaare auf einer weiteren Zeichnung das Haupt ihres Trägers, der seinen Blick auf diese Weise gleichzeitig überall halten kann. Eine Vorsichtsmaßnahme? Die große Kraftanstrengung der permanenten Maskierung bedeutet für viele Angehörige stigmatisierter und diskriminierter Minderheiten jedenfalls notwendige Überlebensstrategie, wenn das Ausstellen von sexueller Identität, Geschlecht oder Hautfarbe eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben darstellt. Grafia zeigt, dass sie auch zum Akt der Selbstermächtigung avancieren und das Lossagen von repressiven Konventionen und Normen bedeuten kann.

 

Seit 2014 arbeitet Grafia regelmäßig mit dem 1989 in Posen/Polen geborenen Künstler Mikołaj Sobczak zusammen. Im Dialog entwickeln sie zumeist aus der Tradition slawischer und philippinischer Mythologien und Überlieferungen generierte Filme und Performances, in denen ein vermeintlicher „Volksglaube“ auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten trifft. In ihrer im Magazin in Auszügen abgedruckten Performance „The Lip Sync Sculpture“ von 2017 sind sie dafür in die Rollen der Transgender-Aktivistinnen und Ikonen der New Yorker Stonewall-Unruhen der 1960er und 70er Jahre Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera geschlüpft. Nach ihrem Vorbild ringen sie hier um gegenwärtige Männlichkeitsmodelle und kehren die Rolle der Opfer von Homophobie und Rassismus damit in eine der neuen Sichtbarkeit und Handlungsmacht um. Ihre gemeinsame Arbeit wurde bereits europaweit ausgestellt und war zuletzt im Museum of Modern Art in Warschau (2018), bei Tramway in Glasgow (2019), beim Steirischen Herbst in Graz, im KW Institute for Contemporary Art und im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (alles 2021) zu sehen. Grafia ist ab Dezember 2021 Teil des Residenzprogrammes „Art Explora – Cité internationale des arts“ in Paris, Sobczak ist Resident an der Rijksakademie in Amsterdam. Für die Kulturstiftung des Bundes waren sie 2021 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Z2X – Festival der neuen Visionäre (öffnet neues Fenster) aktiv.

 

Stephanie Regenbrecht (Kunsthistorikerin)

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