Haben Künstler traditionell eine besondere Affinität zu Rausch und Ekstase?
Carsten Höller: Man muss sich die ersten Künstler als Ritualisten vorstellen. Diesen Schluss legt Roberto Calassos wunderbare Studie "Die Glut" nahe, die der vedischen Kultur gewidmet ist, wie sie vor 3.000 Jahren in Indien existierte. Die vedische Opferkultur hatte einen ausgeprägten Sinn für die Ekstase. Das Soma, eine mysteriöse Substanz, gilt als die Mutter aller Rauschmittel. Wenn es in der Tat von Beginn an eine Nähe zwischen Kunst, Ekstase und Ritual gibt, heißt das keineswegs, dass das Ästhetische aus dem bloßen Sich-gehen-Lassen entspringt. Vielmehr entfaltet sich der Rausch innerhalb einer Zeremonie, die mit unendlich vielen Anweisungen und ins kleinste Detail gehenden Vorschriften angefüllt ist.
Kunst ist beides: der Rausch und die Regel.
Geht es Ihnen darum, dem Publikum Erfahrungen außerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ermöglichen oder eher darum, „aus sich selbst“ herauszutreten, sich anders wahrzunehmen?
Höller: Ohne Veräußerung keine Kunst. Meine Arbeiten sind Formen der Selbstdistanzierung, die im besten Fall auch dem Publikum einen anderen Wahrnehmungshorizont eröffnen. Dieser Vorgang ist nicht mit einer irgendwie gearteten Flucht aus der Wirklichkeit zu verwechseln. Erst durch den Abstand, die Entrückung ergibt sich die Möglichkeit eines neuen Zugriffs – auf die Kunst wie auf die Gesellschaft.
Brauchen wir heutzutage dringender Erfahrungen eines „anderen Zustands“?
Höller: Die meisten Statistiken belegen, dass der Konsum rauschhafter Substanzen unter jungen Menschen überall in Europa rückläufig ist. In andere Zustände versetzt man sich also nicht mehr durch Drogen. Es kann gut sein, dass Technologien diese Rolle übernommen haben. Es bildet sich in der einschlägigen Forschung allmählich ein Konsens heraus: Unsere Präsenz in den sozialen Medien wirkt sich auf unsere neuronales Belohnungssystem aus. Liken, Teilen, Chatten sind die Highs des 21. Jahrhunderts. Das ist kein Grund, in Kulturpessimismus zu verfallen, aber reichhaltiges Material für die Kunst bietet dieser Befund allemal. Was bedeutet es, wenn kleine rauschhafte Explosionen in unserem Gehirn nicht mehr auf die Sphäre des unmittelbar Sozialen angewiesen sind, sondern sich in den Raum und die Zeit des Digitalen verlagern?
Immer mehr Menschen suchen eine andere Realität - durch Drogenkonsum, Extremsport oder pornographisch erzeugte Lust. Inwieweit zeigen diese „einsamen“ Ekstasen einen Rückzug aus der sozialen Wirklichkeit an?
Höller: Das Ziel des ekstatischen Erlebens, so schrieb Michel Houellebecq in seinem 1996 in der französischen Jugendzeitschrift "20 ans" erschienene Essay „La fête“, bestehe ja gerade darin, gleichsam Ferien vom Selbst zu nehmen. So lassen sich die eigene Sterblichkeit und das unüberwindbare Gefühl der Einsamkeit, das damit einhergeht, zumindest eine gewisse Zeit lang vergessen. Dass zeitgenössische Formen des Außer-sich-Seins uns nun ausgerechnet dem eigenen, vermeintlich wahren Ich noch näher bringen sollen, lässt sich mit dem ursprünglichen Zweck des Rausches nur schwer vereinbaren. Vielleicht lässt sich aus dieser Warte auch der bemerkenswerte Aufstieg der Performance-Kunst deuten: Einerseits wird darin oft das Leiden an der Vereinzelung thematisiert, andererseits geschieht dies in einem Rahmen des beobachtenden und nachvollziehenden Miterlebens, der selbst wiederum Gemeinschaft stiftet.
Fürchten oder begrüßen Sie gesellschaftliche, massenhaft organisierte Ekstasen?
Höller: In Deutschland, aber nicht nur dort, stand die letzte große soziale Entrückung ganz im Zeichen der Beats. Der Siegeszug der elektronischen Musik führte über zunächst überschaubare Raves hin zu den Massenfestivals der Love Parade, die ihren Höhepunkt Ende der neunziger Jahre erreichten. Erstaunlich war, wie sehr dieses Phänomen Intellektuelle und die Kunstwelt spaltete. Die einen meinten, darin ein unheilvolles Echo einer düsteren Vergangenheit zu erkennen. Erinnerte der drogeninduzierte und von der Musik befeuerte Gleichschritt nicht an militärische Aufmärsche? Und stand der Wunsch, in einer homogenen Masse aufzugehen, nicht für eine völkische, möglicherweise sogar faschistoide Sehnsucht? Dazu kam das zunehmende Misstrauen der Theorie gegen die Popkultur, der man lange emanzipatorisches Potenzial zusprach, bis man nach dem Mauerfall feststellen musste, dass auch Neonazis in Public-Enemy-T-Shirts herumlaufen. Rückblickend betrachtet würde ich jedoch all jenen zustimmen, die in der Love Parade ein utopisches Moment aufblitzen sahen: eine Ekstase, die nicht nur Ost und West friedlich im Feiern verband, sondern auch unterschiedliche Gesellschaftsschichten, die sich seitdem eher polarisierten und mit zunehmenden Befremden begegneten. Diese Masse war gleichzeitig eine Stätte der Begegnung, die mittlerweile fehlt.