Als Schamanen sind wir nicht zu gebrauchen, dabei täten unserer Gesellschaft ein paar kleinere und größere Ekstasen ganz gut
Die Ekstatiker und wir
Auch wenn wir Angehörige kapitalistischer Industriegesellschaften viele fremde Kulturen mit ihren farbenfrohen kollektiven Tänzen, ihren Trancen, ihren Ritualen des Drogengebrauchs oder der kollektiven Sexualität oft als die exemplarischen Praktikanten und Träger ekstatischer Zustände wahrnehmen, so ist uns selbst die Ekstase doch andererseits nicht völlig fremd. Wir meinen sie zu kennen aus unseren Erfahrungen mit Sexualität und Drogen, aus dem Karneval, vom Oktoberfest oder der Betriebsfeier; als sogenannten „Spielrausch“, in den Fußballmannschaften mitunter geraten können, oder auch über die lautstarken und nicht selten gewalttätigen Begeisterungen und Exzesse ihres Publikums; als psychische Effekte der Ausschüttung endogener Körpersubstanzen etwa beim Langstreckenlauf, bei Riskiosportarten wie Rafting, Bouldern und Bungee-Jumping, beim Laufen über glühende Kohlen im Wochenendseminar für Führungskräfte oder auch beim Fasten; aber ebenso vielleicht aus bestimmten Momenten der beruflichen Tätigkeit, als sogenannte „Flow“-Erlebnisse von Börsenbrokern, als Schaffens- oder Schreibrausch von Künstlerinnen oder Schreibenden. Und wenn die europäischen Beobachter am Beginn des 20. Jahrhunderts als Vertreter einer „heißen“, auf das geschriebene Wort zentrierten Kultur noch befremdet, entsetzt oder regelrecht angewidert reagierten angesichts der kollektiven Tanzekstasen vieler fremder Kulturen, so hat sich unsere eigene, westliche Kultur vor allem nach dem 20. Weltkrieg, wie der Medientheoretiker Marshall McLuhan bemerkt, wieder „abgekühlt“ und „retribalisiert“: sie gleicht nun in manchen Zügen wieder den Praktiken der Stammeskulturen – etwa wenn man an die lautstarken und massiv zur Selbstvergessenheit tendierenden kollektiven Tanzpraktiken in Diskotheken oder auf Techno-Partys in westlichen Metropolen denkt.
Nicht alles freilich, was in fremden Kulturen regelmäßig vorkommt, haben wir für uns wiederzugewinnen vermocht; oder vielleicht auch nicht unbedingt wieder herbeigewünscht: das „Sprechen mit fremden Zungen“ (die sogenannte Glossolalie), die wahnhaften Visionen oder Auditionen, körperliche Konvulsionen, Epilepsie-ähnliche Anfälle, Besessenheiten oder Zwänge wie zum Beispiel, dass man nach Abweisung eines Liebesantrags nicht mehr aufhören kann zu tanzen und zu Tode kommen muss wie der junge Aborigine in Nicolas Roegs schönem Film The Walkabout. Solche Phänomene treten für uns, wenn überhaupt, vor allem als klinische, individuelle Erscheinungen in der Psychiatrie oder Psychoanalyse auf; wir halten sie durchwegs für unangenehm und therapiebedürftig. Ob andere Kulturen, die dergleichen oft mit Absicht und in kollektivem Rahmen herbeiführen, auch in der Lage sind, solche Zustände als lustvoll oder sinnvoll zu erleben, erscheint uns fragwürdig oder schwer vorstellbar.
Draußen, aber wovon?
Nicht ganz leicht fällt es der Kulturtheorie auch, anzugeben, worin die Ekstase genau besteht. Der buchstäbliche Wortsinn des „Außenstehens“ oder „Hinausstehens“ lässt die Frage offen: außen wovon? Oder woraus genau hinaus?
Bestimmt man die Ekstase, wie es manchen Autoren naheliegend erscheint, als „Verlust der Herrschaft des Menschen über sich selbst“, so ist vielleicht einerseits zu vieles damit in die Definition hereingenommen: schon der gewöhnliche Wutanfall, die Eifersucht, der Lachanfall, das übertriebene Mitteilungsbedürfnis, die Verführbarkeit oder die paar Gläser Wein über den Durst hinaus wären dann wohl ekstatisch zu nennen. Andererseits aber scheint diese Definition zu wenig zu umfassen. Denn manche ekstatischen Zustände scheinen nicht unbedingt nur in einem Verlust zu bestehen. Das Beispiel der Nachtwandler hat bekanntlich dem Philosophen Spinoza zu denken gegeben: dass sie „im Schlafe vieles tun, was sie im wachen Zustand nicht wagen würden“, zeige doch zur Genüge, schrieb er, „dass der Körper an sich nach den bloßen Gesetzen seiner Natur vieles vermag, worüber sich sein eigener Geist wundert“. Wenn Menschen also außer sich oder außerhalb ihrer – bewussten – Herrschaft über sich selbst geraten, dann bedeutet das nicht notwendigerweise, dass sie gleichsam steuerlos unterwegs wären. Es könnte vielmehr auch sein, dass dann andere Systeme die Steuerung übernehmen, von deren Existenz sie wenig ahnen und die vielleicht in Bezug auf manche Aufgaben sogar leistungsfähiger sind als die bekannten. Sigmund Freuds Einsicht, dass man nur dann gute Witze machen kann, wenn man das bewusste Material für einen kurzen Moment einer unbewussten Bearbeitung überlässt, liefert ein auch für uns vertrautes, mildes Beispiel für diese Art von überlegener Leistungsfähigkeit eines anderen psychischen Systems für bestimmte Anforderungen.
Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt ein anderer Bestimmungsversuch der Ekstase; nämlich ihre Beschreibung als ein „Denken und Verhalten, das von den jeweils herrschenden Vorstellungen einer Gesellschaft oder Gruppe abweicht und als außergewöhnlich oder nichtnormal angesehen wird“. Wieder ist diese Definition einerseits zu weit, denn sie erfasst derzeit zum Beispiel an manchen US-Universitäten schon das Äußern kontroversieller Argumente oder das Tragen von Stöckelschuhen. Andererseits aber verfehlt diese Definition wieder eine entscheidende Pointe der Ekstase, durch die sie sich von anderen Formen devianten oder pathologischen Verhaltens unterscheidet: Gerade in jenen Kulturen, die uns als die am meisten in der Ekstase geübten erscheinen, ist das ekstatische Verhalten zwar vielleicht ein besonderes Verhalten, aber darum doch eben keines, das als „nichtnormal“ (in unserem kriminologischen oder klinischen Verständnis) angesehen wird; und es weicht eben nicht von den herrschenden Vorstellungen der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe ab. Vielmehr ist es, anders als in unserer Kultur, wo es meist als individuelle Pathologie betrachtet wird, dort ein durch kulturelle Vorstellungen und soziale Rollen (wie etwa die des Schamanen) vorgesehenes und sozusagen gesellschaftlich „gedecktes“ Verhalten.
Vielleicht sollten wir diese beiden „Pointen“ der Ekstase zusammen betrachten: dass sie Menschen zu Dingen befähigt, zu denen sie von sich aus kaum imstande wären; und dass sie in manchen Kulturen ein in manchen Situationen vorgesehenes, ja vielleicht sogar erwünschtes Verhalten darstellt. Wir könnten dann sagen: vielleicht sind die Menschen dort manchmal zu etwas Außergewöhnlichem fähig, weil die Gesellschaft oder Gruppe es von ihnen wünscht und weil sie es als etwas Wertvolles würdigt. (Ein Beispiel für den Übergang von einer „ekstasefreundlichen“ zu einer „ekstasefeindlichen“ Haltung einer Gruppe innerhalb unserer Kultur wäre die für die 1980er Jahre charakteristische Diskussion, ob die Sozialdemokratie Visionen brauche oder aber ob jemand, der Visionen hat, einen Arzt brauche.) Die Ekstatiker wären in solchen Kulturen zwar vielleicht außer sich, aber doch zugleich innerhalb der Gruppe. Die Ekstase bildete mithin sozusagen ein „inneres Außen“ solcher Kulturen.
Ekstatische Kulte und Kulte der Vermeidung
Wir hätten es also zu tun mit einem Unterschied zwischen Kulturen wie der unseren, die den Individuen weitgehende Selbstbeherrschung abverlangen, und solchen, die ihnen nicht nur weniger davon abverlangen, sondern die im Gegenteil von ihnen verlangen, dass sie diese Selbstbeherrschung zugunsten von etwas für wertvoller Erachtetem hintanstellen. Der Unterschied zwischen der Ächtung der Ekstase und ihrer Würdigung ist somit kein Unterschied etwa zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern vielmehr einer zwischen bewusster, individueller Selbststeuerung und weniger bewusster, kollektiver. Wenn Menschen also weniger ekstatisch werden, dann werden sie nicht etwa vernünftiger, sondern lediglich eigensinniger und weniger solidarisch. Max Webers Bemerkung, wonach die „Entzauberung der Welt“ nicht etwa ein Prozess der Aufklärung sei, sondern vielmehr ein Vorgang fanatischer religiöser Verinnerlichung, deutet genau in diese Richtung.
Michel Leiris und Georges Bataille hatten dementsprechend in den 1930er Jahren versucht, das „Heilige des Alltagslebens“ zu retten und es für die politische Linke zu reklamieren. Denn dass Menschen manchmal ihr profanes, zweckrationales Funktionieren zur Erhaltung ihrer Existenz unterbrechen, um sich Momente des Feierns, der Großzügigkeit, der Verschwendung von Zeit, Geld, Schlaf etc. zu gönnen, ist aus linker Perspektive notwendig – sowohl um sie zu stolzen, souveränen Wesen werden zu lassen, die schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod; als auch um sie zu solidarischen Wesen werden zu lassen, die in der Lage sind, das Glück des jeweils anderen auch als ihr eigenes Glück zu begreifen.
Die von den Französischen Theoretikern des Sacré quotidien erkannte Demarkationslinie scheint auch heute wieder eigenartig aktuell. Sie bestimmt eine Reihe von kulturellen Mikrokonflikten wie zum Beispiel die Frage, ob man dem Niesenden Gesundheit wünschen oder lieber schweigen soll, oder auch, ob man die neue Frisur der Kollegin mit einem Kompliment würdigen muss oder aber lieber so tun soll, als hätte man nichts gesehen. „Positive Kulte“, in denen Individuen von der Kultur aufgefordert erscheinen, ein Stück weit aus sich herauszutreten und generöser, eleganter und verbindlicher zu agieren, als sie vielleicht für sich genommen sind, stehen hier gegen „negative Kulte“ der Vermeidung. Leiris, Bataille und ihre Mitstreiterinnen und Genossen aus ihren Initiativen Contre-attaque und Collège de sociologie du sacré hätten gewusst, was hier auf dem Spiel steht und hätten Partei ergriffen: und zwar nicht für das, was sich hier fälschlich als Vernunft oder „Zivilisationsprozess“ ausgibt, sondern vielmehr für die kleinen oder größeren Ekstasen – die positiven Kulte der Geselligkeit und der Souveränität.