Der unstillbare Bilderhunger

Florian Ebner und Christin Müller

Wenn die viral gewordenen Bilder unser Leben nicht mehr verlassen, wenn die social bots Wahlen entscheiden, wenn das Löschen von Bildern heute wichtiger ist als das Hochladen, wenn wir die Verwerfungen unserer Zeit nur noch als meme ertragen können und wenn die Apparate wissen, welche Bilder wir bevorzugen, dann erleben wir die Umwälzung aller Lebensverhältnisse. 

Teilen, Liken, Filtern und Samplen sind inzwischen alltägliche Handgriffe, die mit dem Fotografieren automatisch verknüpft sind. Wir zeichnen nicht mehr nur Ferienerlebnisse und Familienfeste auf. Wir fotografieren alles, immer und überall, suchen mit Bildern Partner, Häuser, Kleidungsstücke aus und bewerten mit einem Fingertippen Nachrichtenbilder und politische Inszenierungen. Mit dem nächsten Klick schicken wir diese einmal um die Welt und erhalten als Antwort ein Bild, das manchmal einfacher aufgenommen oder ausgesucht ist, als ein Satz formuliert, und in seiner Wirkung eine andere Wucht entfalten kann. Während sich im Privaten ein fast hemmungsloser Bilderrausch etabliert hat, wird die Kontrolle politischer Bilder und öffentlicher Datenströme immer ausgefeilter. Es sind Fragmente einer neuen Sprache, deren Umgangsformen sich gerade erst entwickeln und ausgehandelt werden.


Mit Revolutionen gingen stets neue Bilder und Codes einher. Die Ikonen der alten Ordnung wurden vom Sockel gestoßen und die Bildnisse der zukünftigen Machthaber durch die Straßen und neuerdings durch digitale Kanäle getragen. Nicht selten gehen von ihnen auch Revolutionen aus. „The Revolution will be Flickrized“, schreibt der ägyptische Aktivist Hossam el-Hamalawy im Mai 2008 auf seinem Blog arabawy und ruft dazu auf, Bilder von Demonstrationen und sozialen Unruhen auf digitalen Plattformen und sozialen Netzwerken zu verbreiten – dies anlässlich des im Westen kaum wahrgenommenen Aufstandes in Mahalla al-Kubra im vorrevolutionären Ägypten, drei Jahre vor Ausbruch des „arabischen Frühlings“. Heute ist die Euphorie über diese im Zeichen der Freiheit genutzten Kanäle dahin. Die dunkle Seite des Internets und der Bilder, ihre Gewaltausbrüche und propagandistischen Instrumentalisierungen, die unendliche Kommerzialisierung und die exzessive Speicherung von Nutzerdaten geraten in den Fokus. Wir leben in einer fließenden Dialektik zwischen demokratischer Artikulation und Überwachung, Mitbestimmung und Exhibitionismus.


Was ist innerhalb dieser schleichenden Digitalisierung eigentlich mit den Bildern passiert? Bereits in den 1990er Jahren wurde angesichts der Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, dem direkten Eingriff in die DNA der Bilder, vom „Tod der Fotografie“ gesprochen. Heute wird mehr fotografiert als je zuvor, der fotografische Prozess innerhalb der Kamera hat sich jedoch grundlegend gewandelt. Software-Entwickler erhöhen etwa die Bildqualität von Smartphone-Kameras nicht nur über eine Weiterentwicklung der Linse. Die Berührung des Auslösers, die klassische Aufnahme, ist nur noch Ausgangsmoment für die weiteren algorithmischen Prozesse, welche das Bild erst zu Ende rechnen. Die Aufnahme wird mit den Bilddaten abgeglichen, die sich in unserem Smartphone, in unserer Cloud oder den sozialen Netzwerken befinden und mit uns in Verbindung stehen. Über diesen Abgleich der Bilddaten generiert der Algorithmus das neue Bild. Die Kamera einer numerischen, auf Algorithmen basierenden Bildverarbeitung – die „computational photography“ – ist kein Aufzeichnungsgerät mehr, Hito Steyerl bezeichnet so generierte Fotografie als „social projector“, als ein Projektionsapparat der Gesellschaft, über den das visuelle Begehren und die kommerziellen Interessen unserer Gegenwart sichtbar werden. Vielleicht führt die „computational photography“ technologisch auf radikale Weise etwas zu Ende, was beim Entstehen einer Fotografie und unserem Gebrauch der Bilder bereits angelegt war. Hier sei Alfredo Jaars Postulat von 2013 erwähnt, der ein altes Sprachspiel zur Diagnose des Mediums erhob: „You do not take a photograph, you make it“ – auf einem Poster verwies er darauf, wie viel die Fotografie als vermeintlicher Wirklichkeitsverweis mit Konstruktion zu tun hat. Wenn technische Aufnahmeprozesse, öffentliche Bilderströme und unser eigener Umgang mit fotografischen Medien in so hohem Maße konstruiert sind, ist dann auch die Fotografie postfaktisch geworden? Oder war sie es nicht schon längst, war ihr „Gemachtsein“ schon immer abhängig von dem Gebrauch und den Kontexten, in denen sie zu sehen war?


Gerade jetzt ist ein guter Zeitpunkt, das Feld der Fotografie neu abzustecken, so dass die Brüche und Kontinuitäten sichtbar werden. Farewell Photography lautet der Titel der ersten Biennale für aktuelle Fotografie, die in der Nachfolge des Fotofestivals Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg steht. Doch wie kann man sich einen „Abschied von der Fotografie“ als „aktuelle Fotografie“ vorstellen? Der Widerspruch wird produktiv, wenn wir verstehen, von welchen Formen und Vorstellungen des Fotografischen wir Abschied nehmen und Vorläufer und zukünftige Entwicklungen der aktuellen Bildpraktiken betrachten. Allein der Begriff des Fotografischen kennt viele Definitionen und Ausdeutungen. So ließen sich zum Beispiel darunter jene spezifischen Qualitäten und Sichtweisen verstehen, die über das Medium selbst hinausweisen und die unsere Wahrnehmung, unsere Berichterstattung, aber auch die Künste der Moderne revolutioniert haben. Da ist die Bedeutung der Spur, etwa einer Geste auf der Leinwand oder Licht auf Papier, oder auch die Zeugenschaft eines Geschehens, die visuelle Archivierbarkeit von Welt, nicht zuletzt die Art und Weise, wie sich individuelle und kollektive Erinnerung über Bilder konstituiert. Was bleibt von all dem, was folgt dem Fotografischen in Zeiten der totalen digitalen Überbelichtung?


Farewell Photography – den Titel der Biennale haben wir Daido Moriamays inzwischen legendärem Buch entliehen. Mit den dort 1972 versammelten Fotografien brach er mit Bildkonventionen und Erzählstrategien von Fotobüchern, seine Fotos schienen auf nichts zu verweisen als auf sich selbst, ein Art Degré zéro, eine Endstufe der Fotografie … und doch ging es weiter. Dieser Rückverweis beschreibt unsere methodische Herangehensweise: Mit zeitgenössischen Arbeiten und punktuell platzierten historischen Bildern wird der gegenwärtige Diskurs um das Medium aufgefächert und nach den Bildern gefragt, die uns aktuell beschäftigen.


Es ist die dialektische Figur von Analyse und Empathie, die sich durch die unterschiedlichen Kapitel ziehen wird. In diesem Sinne versteht sich die Biennale als eine Bestandsaufnahme der aktuellen Bilder, fern jeglicher Nostalgie, aber getragen von einer gewissen Zuneigung zur Fotografie. Dieser Umbruch ist als eine Chance zu begreifen, die Fotografie einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Wenn wir es versäumen, frisst die Revolution ihre Kinder.

Florian Ebner, Christin Müller

Florian Ebner leitet seit 2012 die Fotografische Sammlung des Museum Folkwang in Essen. Christin Müller arbeitet als freie Kuratorin und Autorin für Fotografie in Leipzig. Gemeinsam haben sie die künstlerische Leitung der ersten Biennale für aktuelle Fotografie 2017 inne und kuratieren seit 2015 die Ausstellungs- und Publikationsreihe "with/against the flow. Zeitgenössische Fotografische Interventionen".

Farewell Photography

Im Zentrum der Biennale für aktuelle Fotografie steht die Frage nach den großen Umbrüchen und Veränderungen in der zeitgenössischen Bildkultur. An sieben Ausstellungsorten in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg und im öffentlichen Raum thematisieren Kuratoren und Künstler Fragen nach Materialität und Verfasstheit, nach Nutzungs- und Erscheinungsformen und nicht zuletzt nach dem aktuellen gesellschaftlichen Potenzial der Fotografie.

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