Wissenschaftler haben jahrhundertelang die Schöpfungsmythen der Weltreligionen abgeräumt und den Menschen aus dem Zentrum des Universums vertrieben. Als Ausgleich versprachen sie ein schöneres, längeres Leben. Kann Wissenschaft am Ende sogar den Glauben ersetzen? Können uns ihre Erkenntnisse ein festes Weltbild und tiefen Trost schenken?
In den vergangenen Monaten bin ich verschiedentlich gefragt worden, ob ich glaube, dass die Wissenschaft an die Stelle der Religion trete, dass die Kunst an die Stelle der Religion trete, dass der Sport an die Stelle der Religion trete oder die Politik und so weiter. Jedes Mal wurde dabei unterstellt, dass dieser Vorgang schädlich sei, dass jeder Erfahrungsraum seinen Platz habe und wir das eine nicht mit dem anderen verwechseln dürften. Kurz, es handelte sich um Fragen von verunsicherten Konservativen. Die Religion scheint derweil alles andere als auf dem Rückzug. Trotzdem werde ich nie gefragt, ob ich glaube, dass die Religion an die Stelle von Wissenschaft, Kunst, Sport, Politik etc. trete.
Menschen haben komplexere Ansprüche, als nur ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Obdach, Wärme, Raum zu befriedigen. Vor allem müssen Bedingungen für eine bestimmte geistige Verfassung geschaffen werden, für ein Glaubensgerüst oder zumindest Denkgewohnheiten, die uns erlauben, zu tun, was die Gesellschaft von uns erwartet, ohne uns auf der einen Seite eingezwängt zu fühlen oder auf der anderen von Sinnleere überwältigt. Wir brauchen eine Vision von Welt und Leben, um den Willen zum Weitermachen aufzubringen. Das ist nicht einfach.
Die Weltreligionen sind zahlreicher und unterschiedlicher, als die meisten Menschen vermuten; im Allgemeinen aber regeln sie das Leben so, dass es Sinn und Schwung hat. Eine Reihe von Schöpfungsmythen und Geschichten vom Umgang der Gottheit mit den Menschen erlaubt es den Gläubigen, ein Gefühl für ihren Platz im Universum zu entwickeln. Es gibt einen Generalplan für ein tugendsames Leben, über den sich außerdem ein großer Erfahrungsschatz erschließen lässt, von Arbeit über Kunst und Sex bis hin zur Mystik. Vor allem aber gibt es eine Gemeinschaft, von der diese Glaubensvorstellungen geteilt werden, so dass jedem Gläubigen ein Zugehörigkeitsgefühl garantiert ist. Er ist nicht allein. Er weiß, wie seine Beziehungen zu anderen Menschen mehr oder weniger aussehen sollten. Wenn seine religiösen Empfindungen stark sind, weiß ein Gläubiger, worum es im Leben geht, und die Gemeinschaft stützt seine Überzeugungen. Das war eine ganz schöne Leistung. Obwohl im Ergebnis oft eine Gemeinschaft gegen die andere kämpft.
Der Glaube ist der Schwachpunkt aller Religion. Wenn einem der Glaube fehlt, wird nicht nur das individuelle Schicksal infrage gestellt, sondern der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, das Leitbild für das Leben selbst. Und so wurde die Wissenschaft für die Religion unweigerlich zur Bedrohung. Die Geschichte der Neuzeit im Westen lässt sich über die verschiedenen Abkommen zwischen Wissenschaft und Religion begreifen, die es der Gesellschaft erlauben sollten, von der Wissenschaft zu profitieren und dabei ihre Religion mehr oder weniger intakt zu halten. In dieser Hinsicht war die kartesianische Spaltung zwischen einer materialistischen Sphäre der Forschung und einer spirituellen Sphäre des Glaubens von unschätzbarem Wert.
Aber nachdem die Geologie, die Astronomie und vor allem die Biologie einen Schöpfungsmythos nach dem anderen abgeräumt hatten, fanden manche Menschen es natürlich schwer, am Glauben festzuhalten, und eine Religion, die sich immer mehr gezwungen sieht, ihre wichtigsten Dogmen als Metaphern zu verstehen und nicht mehr als unumstößliche Tatsachen, verliert an Überzeugungskraft. Was den Religionen ihre Kraft verliehen hatte, war der Glaube an ein Absolutum. In den Religionen der Gegenwart kommt es mehr und mehr zu einer Polarisierung zwischen Fundamentalisten, die sich nach den alten Absoluta sehnen, aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Trotz, und Liberalen, die eine Konstruktion religiöser Hingabe ohne Buchstabenglauben wollen.
Zum Glück ist Religion nicht das einzige Mittel, ein Bild der Welt zu konstruieren, das uns zu leben erlaubt. Als Giacomo Leopardi, der italienische Dichter und Philosoph des 19. Jahrhunderts, über das „Massaker der Illusionen“ nachdachte, das die Wissenschaft ausgelöst hatte, sah er die Verfasstheit des Menschen der Neuzeit durch eine Art „Doppeldenk“ bestimmt: Man wusste, dass es nichts gab, woran man glauben konnte, aber da irgendein Glaubensgerüst notwendig war, um handlungsfähig zu bleiben, würden die Menschen solche Gerüste, wie wacklig sie auch sein mochten, anderswo errichten. Leopardi benannte folgende Gebiete: Wissenschaft, Kunst, Sport.
Die Wissenschaft bietet Fakten, Wahrheiten möglicherweise, zum Thema „Schöpfung“ (bzw. Evolution), und im Verein damit Begriffe sowohl von Determinismus und, wackliger, Fortschritt. Wir können unser Leben als Teil des vorwärts gerichteten Marsches der Arten begreifen. Gleichzeitig ermöglicht uns technischer Fortschritt auf der Basis wissenschaftlicher Entdeckungen ein angenehmeres Schicksal. Ja, irgendwie scheint die Wissenschaft ständig um Entschuldigung dafür zu bitten, uns unsere Illusionen geraubt zu haben, indem sie uns zum Ausgleich Entdeckungen andient, die uns ein schöneres oder längeres oder zumindest bequemeres Leben ermöglichen oder einfach ein interessanteres. Ein ziemlich schlechter Deal, denkt man an das allumfassende Weltbild und den tiefen Trost, den die Religion einst bot, aber wenn die Kunst unseren schwerer fassbaren und edleren Impulsen Form und Stimme gibt, wenn Sport und Politik einen Rahmen für Zugehörigkeitsgefühl und relativ harmlosen Wettbewerb setzen, wenn der Konsumismus (in sich stark von der Wissenschaft abhängig) den Menschen eine Reihe von Sehnsüchten schenkt, die sie erfüllen wollen, dann kann das Leben eine Gestalt annehmen. Und kulturelle Trägheit ist natürlich ein großer Aktivposten: Wir tun es unseren Eltern nach.
Daran ist nichts Perverses oder Seltsames. Wir haben Bedürfnisse, die früher von Religion befriedigt wurden. Für viele von uns geht Religion nicht mehr. Selbst jene, die sich zum Glauben bekennen, tun es meist auf eine Weise, die sich mit der tiefinnigen Überzeugung aus der Zeit vor einigen Jahrhunderten kaum vergleichen lässt. Die Welt ist heute nicht in Gläubige und Ungläubige geteilt, sondern in Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungsgraden oder, wie man sagen könnte, in Menschen, die Religion zu unterschiedlichen Zwecken „nutzen“: als Trost im Angesicht des Todes, für ein militantes Gemeinschaftsgefühl.
Auffällig ist, wie labil alle neuzeitlichen Denkweisen unweigerlich sind, seien sie religiös oder nicht, wie hart wir ständig daran arbeiten müssen, unserem Leben eine Richtung zu geben. Und vor allem: Wie schwierig es für uns ist, überhaupt einen Grund zu finden, uns als Individuen der Gesellschaft als Ganzem unterzuordnen. Louis Dumont hat es in seinen Untersuchungen menschlicher Hierarchien ungefähr so formuliert: Von dem Augenblick an, da wir keinen religiösen Glauben mehr haben, der eine hierarchische Ordnung der Menschheit stützt, wird jede Begegnung von Einzelwesen zum reinen Konkurrenzkampf.
Und damit bin ich bei meinem Interesse an dem Projekt „Wissenschaft als Religion?“ des Deutsch-Amerikanischen Instituts Heidelberg angelangt, zu dem ich als „Praktikant“ eingeladen bin. Christentum und westliche Wissenschaft haben einen gemeinsamen Begriff von der Überlegenheit des Bewusstseins des Menschen als Individuum auf Erden, der Überlegenheit seines Geistes oder seiner Seele. Schon das Christentum hat eine direkte Beziehung zwischen dem Individuum und Gott postuliert, neben der alle anderen Beziehungen zweitrangig sind. Die unsterbliche Seele, das Selbst war es, was zählte. Die kartesianische Spaltung zwischen Materialität und Spiritualität verstärkte diese Sicht. Der menschliche Geist war irgendwie von der Welt getrennt, ein spirituelles Wesen in einem materiellen Schädel. Man konnte ihn sich sogar als unsterblich denken, wenn nicht durch die Himmelfahrt, dann vielleicht durch eine raffinierte, noch zu programmierende Software.
Im Laufe der vergangenen Jahre haben Wissenschaftler mit Hilfe der Fortschritte in der Hirnforschung und überlegener neuer Scanner versucht, Belege für dieses Leitbild zu finden und das Bewusstsein im Körper zu lokalisieren. Die Seele gewissermaßen festzunageln. Dabei sind sie komplett gescheitert. Weder hat das Selbst sich lokalisieren lassen, noch hat sich eine völlig überzeugende Vorstellung von Bewusstsein herauskristallisiert.
In jüngster Zeit habe ich begonnen, mich für die Arbeit der „Externalisten“ zu interessieren, die den Grund für dieses Scheitern gerade in der falschen Vorstellung sehen, der Geist sei irgendwie im Inneren des Kopfes eingeschlossen, abgetrennt von der Welt. Ihrer Ansicht nach ist das Bewusstsein eher ein Kontinuum, das nur durch den konstanten Austausch des Körpers mit der Welt besteht. Es gibt kein vom Kopf umschlossenes Selbst. Es gibt keine Seele. Diese Haltung ist viel näher an einer östlichen Sicht der Beziehung von Mensch und Natur. Wenn ich zum Beispiel einen Apfel sehe, ist das nicht, als würde ich ein Foto des Apfels schießen, das ich dann im Kopf aufbewahre, vom Apfel getrennt. Nein, das Bewusstsein des Apfels befindet sich im direkten Austausch zwischen dem Apfel und meinen mentalen Rezeptoren, und jede spätere Erinnerung an den Apfel ist ein Widerhall dieses Austauschs, kein Abbild, das ich besitze und mit meinem geistigen Photoshop bearbeite.
Dieser Denkansatz hat weitreichende Konsequenzen. Wenn wir uns radikal als Wesen verorten, die in der Welt aufgehen, und jede Art von Teilung zwischen einer eklen materiellen Welt und einem davon abgetrennten, edleren menschlichen Bewusstsein ausschließen, würde das unsere Beziehung zur Natur und zueinander zweifellos umwälzen. Das ist es also, was ich gerne ein wenig tiefer untersuchen würde. Dass solche Ideen mit erheblichem Widerstand rechnen müssen, versteht sich von selbst. Die Menschen haben Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren damit zugebracht, die Vorstellung zu nähren, dass sie etwas Besonderes, Einmaliges sind und vor allem über eine Individualität verfügen, die sich irgendwie aus der wirklichen Welt, der sinnlich erfahrbaren Welt herausrechnen lässt und für die die Gesetze des Wandels, denen alle Materie unterworfen ist, nicht gelten. Schon der Begriff „sinnlich erfahrbare Welt“ soll betonen, dass wir ihr überlegen sind und sie unseren Sinnen unterwerfen. Solche Vorurteile werden sich lange halten.
Aus dem Englischen von Robin Detje