Das Untote, und wie man dorthin gelangt

Georg Seeßlen

Ein Wort hat denkwürdige Konjunktur: untot. Es drückt ein weites, eigenartiges Empfinden der Zeit aus. Da-Sein und doch nicht Da-Sein; Dasein und doch kein Dasein. Man denkt an Gespenster, Zombies, Retortenwesen oder radikal Entwürdigte, an Menschen jenseits ihrer Geschichte und jenseits ihrer, nun ja, Menschlichkeit, an RoboCops und Pilleneinwerfer, Vampire und Junkies, an Bürokraten und Fließbandarbeiter, Soldatenmaschinen und Maschinensoldaten, Hirndoping und Flatliners. Leute, die sich halb zu Tode schuften, und Leute, die sich halb zu Tode amüsieren. An zum Tode Verurteilte, die Jahre lang auf die Vollstreckung warten, Dead Man Walking. Untot! Und immer denkt man, ein ganz klein wenig, an sich selber: Bin ich/ist Ich schon kontaminiert vom Untod?

Das Untote bezeichnet gerade eine neu entdeckte Unschärfe. Definiere ‚Leben‘! Definiere ‚Tod‘! Das war immer schwer und wird noch schwieriger. Nein, treibe dich stattdessen in der Untoten-Zone herum, bildlich, semiotisch, ungreifbar, aber fest entschlossen, wenigstens dieser Zukunft nicht auszuweichen: Da entsteht etwas zwischen dem gewohnten Leben und dem nach wie vor skandalösen Tod; verlängertes Leben, verändertes, verbessertes, enteignetes, reduziertes Leben, oder eben anders herum: verlängertes Sterben, philosophische Zombies, Wesen, denen ‚ihr eigener Tod‘, der ihnen versprochen war (als Todespoesie immerhin), verweigert wurde, der Kino-Spruch von einem, der tot ist, aber es noch nicht weiß, wiedergeboren als Maschine, als Monster, als Mutant, als – genau, Untoter.

So rätselhaft die Sache selbst ist, diese sich ausbreitende Zone einer Ungewissheit, die man sich auf die unterschiedlichste Weise, vom Diskurs zum Bild, von der ‚Erprobung‘ zum Modell, irgendwie vorzustellen versucht, so deutlich sind die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte, die sich ihr in ihrem jeweiligen Interesse und mit den jeweiligen Mitteln nähern und dabei auch in direkte und indirekte Wechselwirkungen treten.

Nicht, dass es einen Bereich zwischen Leben und Tod nicht schon immer gegeben hätte. Er mag sogar, genauer besehen, den Ursprung der Kulte und Kulturen, der Religion und der Philosophie, der Kunst und des Karnevals sein. Wie auch wäre es anders möglich bei einem Wesen, das in dem Augenblick, da es (im anderen) erkennt, dass es sterben muss, zugleich erkennt, dass es nicht sterben will? „Fast ein jeder hat die Welt geliebt, wenn man ihm zwei Hände Erde gibt“, sagt Brecht. Und fast ein jeder wünscht, die zwei Hände Erde nicht geben zu müssen. Wohin gehen die Toten? In eine bessere Welt, ins Paradies, in die ewigen Jagdgründe vielleicht. Wenn man sie richtig behandelt, wenn ihnen Respekt, Angedenken und Wegzehrung gegeben wird. Doch wenn dies alles nicht geschieht? (Und kann es überhaupt noch geschehen in einer Welt, in der nichts heilig ist und alles Profit und Entertainment?) Manchmal kommen sie wieder...

Die Doppelstrategie, den Tod kulturell zu akzeptieren und ihn technisch zu bekämpfen, hat sich lange bewährt, vor allem dort, wo Kultur und Technik in eine Balance gebracht werden. An den Brüchen von Kultur und Technik hingegen bricht die eine oder andere Panik aus; das eine Mal lähmt ein Totenkult (oder gar ein Todeskult), das andere Mal führt pure Technik zu bizarren Experimenten. 

So erscheinen die Untoten offenbar als Symptome des Bruchs zwischen Totenkult und Lebenstechnik. Es fällt uns nicht schwer zu behaupten, unsere derzeitige Form der Besessenheit von Untoten, Posthumanen und Transhumanen sei nicht nur der näher rückenden technischen Produzierbarkeit der früheren ‚Wunder‘ geschuldet, sondern vor allem ein Symptom der radikalen Vorherrschaft ökonomisierter Naturwissenschaft und Technologie gegenüber Philosophie und Kultur. Dauernd wird Technologie und Information „revolutioniert“, und am Elend von Alltag und Geschichte ändert sich so gut wie nichts. (Wer weiß, vielleicht wollen wir auch deshalb länger leben, möglichst unsterblich werden, um damit die Chance zu erhöhen, dieses Jammertal des Boring Age zu überleben. Fatalerweise scheinen wir es aber gerade durch diese Fixiertheit – lieber am neuen Menschen basteln als dem alten Bewusstsein für sich und seine Geschichte abzuverlangen –zu verlängern.) Frankenstein flieht vor der Langeweile; das klappt nie und nimmer.

Wir können nicht sagen, wo das Ausdifferenzieren unserer Gesellschaften in den Zerfall übergeht, wir wissen nur, dass sich an eben jenem Übergang das Untote ausbreitet. Es bildet indes nicht nur das Angstbild aus, es will, ganz im Gegenteil, erst einmal heilen. Das technologisch erzeugte und erhaltene Leben ist in aller Regel erst einmal Reaktion auf ein physisches Leiden und die Todesdrohung, in zweiter Linie auf ein psychisches (ich kann meine eigene Erscheinung nicht mehr ertragen; wenn ich kein Kind, nicht das richtige Kind bekomme, zerbreche ich endgültig; ich halte die Belastungen meines Berufes, meiner Karriere anders nicht aus; ich muss irgendwo, und sei’s am eigenen Körper, das eigene verwirklichen, das mir der Rest der Welt nicht zubilligt). Aber nie taucht dieses Untote als Lösung allein auf, immer ist es sogleich wieder Problem.


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Von solchem Unheimlichen, vom Leben, das an unserem nicht mehr teilhaben kann, raunt es dann auch in der Öffentlichkeit. Einige Beispiele aus den vermischten Seiten unserer Gazetten: Menschen, die „im Koma liegen“ und von denen niemand sagen kann, ob sie wieder „erwachen“ können, ob sie „etwas“ von der Welt um sie wahrnehmen oder ob sie eine Innenwelt ausbilden. Menschen, die durch Krankheit oder Unfall über nicht ausreichende Fähigkeiten des Gehirns verfügen, um als „normale“ Menschen zu leben. Menschen, die aufgrund einer Demenzkrankheit ihre eigene Geschichte und Umwelt verloren haben. Diese Menschen, die mit dem Kopf fort und mit dem Körper da sind, erzeugen die furchtbarsten individuellen Konflikte: Wie mit Wesen leben, die nicht mit uns leben? Wird, was „Mensch“ nicht mehr richtig sein kann, zum Tier, oder noch eher zu einem „Pflanzenwesen, zu einem „Ding, zu einem Teil der Maschine, an die es angeschlossen werden muss, weil dieses so oder so lebende System sich allein nicht erhalten kann? Die Maschine abschalten, zum richtigen Augenblick, das verlangt die kollektive Phantasie. Jede Entscheidung verlangt eine ungeheuerliche moralische und philosophische Anstrengung, das Leben und sein Wert müssen neu definiert werden (und nicht nur in Deutschland muss man in den historischen Abgrund zu jenen sehen, die bedenkenlos „lebensunwertes Leben“ vernichteten). Von solchen Hot Spots der offensichtlichen Trennung von Körper und Geist verbreitet sich, weit jenseits persönlicher Verantwortung und Tragödie, der Diskurs des Untodes in die Gesellschaft.


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Zum zweiten geht es um Menschen, die sich, zum Beispiel durch plastische Chirurgie, so sehr verändert haben, dass weder sie selbst noch ihre Umwelt sagen könnte, sie seien im Wesentlichen noch sie selbst. Die Verwandlungen von schwarz in weiß, alt in jung, Mann in Frau etc. sind da eher Vorübungen wie die Verwandlung nach einem Schönheitsideal (die Verwandlung in das Bild), die Verwandlung nach einem Effizienz-Grundsatz (die Erzeugung eines ‚künstlichen‘ Supersportlers), die Auslagerung von ‚Entscheidungen‘ (Mikrochips im Gehirn, ‚intelligente‘ Prothesen, programmierte Drogierung etc.). Es ist die genau entgegengesetzte Frage: Geht es im ersten Fall um die unnatürliche Verlängerung des Sterbens so hier um ein unnatürlich getuntes Leben. Fundamentalisten mögen fragen: Darf man das? Uns normalen Menschen gehen angesichts der „enhanced humans“ andere Fragen im Kopf herum: Wie kommuniziere ich eigentlich mit einem Menschen, der so sichtbar Erscheinung und Sein getrennt hat? Der, um etwas sehr einfaches zu erwähnen, durch die mechanische, chemische oder organische Veränderung seines Körpers etwas kann, was weder in seinem Kopf noch in seiner Biographie „vorgezeichnet“ ist? Eine „Sexbombe“, in der die Seele einer alten Frau wohnt; ein Politiker, der das Dauergrinsen nicht einmal sein lassen kann, wenn die Kameras abgeschaltet ist, weil es ihm wahrhaft eingepflanzt wurde; eine Frau, die sich mit Hilfe ihrer Ärzte alle Nase lang „neu erfindet“. Ein schleichender Untod ist dies: Menschen (auch das kennen wir aus dem Horrorfilm), deren körperliche Erscheinung von einem Inneren nichts mehr preisgibt, eine Maske, die nicht mehr abgenommen werden kann, (schlimmer noch: man weiß nicht mehr, was Maske und was Gesicht ist).

Statt durch eine sicht- und spürbare Veränderung des Körpers (die ohne Veränderung der Seele nicht stattfinden kann, wenn man nur Schmerz als Einschreiben des Körperlichen ins Seelische begreift) das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz (und damit wohl auch Hierarchie, Ordnung und sexuelle Ökonomie) zu regeln, geht es nun, buchstäblich, um Deregulation, Privatisierung, und auch für den Körper soll gelten: Das regelt der Markt. Der Versuch, am Körper Bedeutungen und Fähigkeiten zu erzeugen, die es ‚im Leben‘ nicht gab (und schon gar nicht in der Arbeit und in der Liebe). 

Wo fängt das an? Im kleinen Corriger la fortune der Kosmetik, im Fitnessstudio, bei der Brustvergrößerung und Botox für den Hausgebrauch? Bei der mehr oder weniger lustvollen Scarification des Körpers durch Piercing und Tattoos? Beim Doping von Körper und Geist (unfair!), bei der Verschmelzung des Körpers mit dem Gerät, das eine nur noch für das andere da und ohne einander nicht mehr zu denken, bei der Prothese, die, weit jenseits von Captain Hooks Enterhaken und Ahabs Bein aus Walknochen, mitdenkt und besser läuft als geschmiert? 

Offensichtlich gibt es einen Punkt, in dem die körperlich-technische Verstellung vom Mittel zum Zweck wird, und die Vortäuschung durch solche Veränderungen nicht mehr den anderen, sondern dem Subjekt selber gilt: Man will nicht mehr als jemand anderes gelten, man will jemand anderes werden, was die Eingriffe in die Semiotik und Mechanik des Körpers immerhin unumkehrbar macht. Anders als für den Mann mit der Maske gibt es für den Untoten keinen Ort der Zuflucht, und einem Zombie ist verwehrt, was noch der furchtbarste Alien besitzt: Zuhause. Ruhelos ist alles Untote, selbst wenn es gefesselt ist, im Inneren wie im Äußeren. Es ist, als müsse sich der Mensch angesichts des Todes entscheiden, zu sterben oder nie mehr heimzukommen. Drehen wir den Spieß noch einmal um: Die Voraussetzung für den Untod ist die Heimatlosigkeit des Menschen.

Der Eingriff ins Körperliche, so will es die Mythologie (und so leicht, Fortschritt hin oder her, treten wir aus dem Mythos nicht heraus, wie wir uns unter die Messer der plastischen Chirurgie begeben), entspricht einem Verlust an Seele, oder, säkularer gesprochen, an Identität. Es ist die Geschichte vom Bildnis des Dorian Gray, rückwärts erzählt; als müsste die äußere Schönheit oder die mechanische Effizienz mit einer inneren Leere erkauft werden. So viel Angst und Reaktion in diesem Mythos vom Verrat an der menschlichen Ganzheit auch stecken mag, für die soziale Praxis bleibt die Frage: Als wer oder was betritt dieser veränderte, verbesserte und entganzheitlichte Mensch (der neu erfundene) den öffentlichen Raum? (Und wieder ein furchtbarer Verdacht zur Ausbreitung des Untoten in der Gesellschaft: Der ‚leicht‘ posthumane Mensch kann den öffentlichen Raum gar nicht mehr betreten, sein Lebensraum beschränkt sich auf das Medium und das Spektakel. Dieser ‚ein bisschen‘ untote Mensch lebt nur im Spektakel und in den Medien, er kann daraus, wenn man so will, nicht mehr zu sich selbst zurückkehren.) Problematisch also wird diese allgemeine, konventionelle und weitläufig kontrollierte Posthumanisierung, wenn sie die Sphären der Kunst, der Politik, des Sports und der Unterhaltung verlässt. Kann man sich für den Alltag neu erfinden, oder wird, umgekehrt, durch solche Zurichtung des Körpers der Alltag selber verspektakelt? (Kann, nur zum Beispiel, dann der Discounter-Manager verlangen, dass ‚seine‘ Kassiererinnen sich in kundenfreundliche Barbie-Dolls verwandeln, die durch künstliche Gelenke nie ermüden und auch bei der nächsten Lohnkürzung ihr körper-eingeschriebenes Lächeln nicht verlieren? Feuchter Traum des Neoliberalismus; wir arbeiten dran.)


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Nach den Menschen, die wir nicht sterben lassen, und nach den Menschen, die sich verbessern und neu erfinden, geht es um jene sozialen Untoten, die existieren, ohne von der Gesellschaft einen Platz dafür zugeordnet zu bekommen (die überflüssigen Menschen, von denen es allenthalben raunt) oder die ihren Platz durch eigene Schuld verloren haben (Junkies, Fernsehsüchtige, Workaholics und andere, die das Klassenziel des ‚reichen und erfüllten Lebens‘ so gründlich verfehlt haben, dass sie von ihren Mitmenschen oft als Zombies bezeichnet werden). Hinter dem Zerfall die einen, die das Vorbild für die Zombies der Horror-Ikonographie abgeben mögen, hinter dem Funktionieren die anderen, in deren Erscheinung sich jene Leere auszubreiten scheint, die die mittelständischen ‚verbesserten‘ Menschen in ihr Inneres verbannen mussten. Die Verhältnisse von Erscheinung und Wesen drehen sich hier noch einmal um, der verfallende Körper eines nächtlichen Obdachlosen birgt die Vita eines Universitätsprofessors, ein Scheidungsdrama, eine Krankheitsgeschichte, der medizinisch nicht adäquat begegnet wurde; hinter dem leeren Körper des Bankers verbirgt sich eine dramatische Familiengeschichte, eine große Kränkung vielleicht, eine Entseelung, ein Missbrauch. (Wir bewegen uns, natürlich, in einer Sphäre der Klischees und der Legenden, wie stets auf der Flucht vor schierer Banalität. Aber wir wussten von Beginn an, dass es um Bilder und Erzählungen geht; für die ‚harte‘ Wissenschaft macht das Wort untot in seiner gezielten Unschärfe ja keinen Sinn.)

Der Bereich des Untodes aber breitet sich auch jenseits solcher Erscheinungsformen eines unvollständigen, gespaltenen oder maschinisierten Lebens aus. Eine mediale Doppelexistenz gehört zur Lebenspraxis: Man ist imaginäres Mitglied einer Soap Opera-Familie, man sucht ein ‚erfülltes und reiches Leben‘ im Second Life, wo die oben beschriebene, leicht posthumane Zurichtung bereits digitale Vor-Schrift ist, man beginnt ein ‚wahres Leben‘ jenseits des Alltags in Performance und Extremsport und, anders als das privilegierte Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft von einst, lernt man die Sphären sorgfältig voneinander zu scheiden: Hier bin ich ein anderer als dort. Die Gegenwart des Fernen (im Fernsehen, zum Beispiel) und die Entrückung des Nahen und Nachbarschaftlichen, kurzum ein Mangel an sozialer Praxis, der durch mehr oder weniger künstliche Parallelwelten ausgeglichen werden soll, erscheint als nächster Verrat am Ideal der Ganzheit des menschlichen Lebens oder des im allgemeinen so benannten Subjekts (lassen wir philosophisch-theoretisches Fein-Tuning des Begriffs einmal beiseite). In den einzelnen Sphären kann man nur leben, wenn man die Kunst beherrscht, nicht ganz da zu sein; der clevere Mensch unserer Zeit und unseres Raumes richtet sich weder an der Konzentration noch an der Kohärenz aus. 

Wir ahnen möglicherweise schon bei solchen ersten, vorsichtigen und äußeren Annäherungen, noch weit vom „heißen Kern“ des Diskurses entfernt, dass sich in der Ausbreitung von Untot als Begriff – Empfinden, Gerücht, Mythos, Karikatur, Zuschreibung, Kränkung usw. – ein anderes, übergeordnetes Projekt zeigt: Die Ablösung des aufklärerischen (und, gewiss doch, dann: romantischen) Ideals der Ganzheit in Subjekt und Identität. Um den neuen Menschen (den neu erfundenen Menschen/den sich neu erfindenden Menschen) zu erzeugen, geht dieses Projekt nicht von der Verwandlung des ganzen subjekthaften und identischen Menschen aus (wie es freundliche Utopisten noch zu tun pflegten), sondern von seiner Zerlegung und Neu-Zusammensetzung. 

Das Untote als utopisch/apokalyptischer Ort erscheint nun als kommunizierendes Element in einem System, das wir ohne weiteres auch als Zivilisationsprozess ansehen können (die Angleichung des Menschen und seiner Umwelt mit dem Ziel, einander „irgendwann“ einmal vollkommen zu entsprechen: Was Marx als Aneignung und Vermenschlichung der Natur angesehen hat, und Kant als Erkenntnis des Menschen zugleich seiner selbst und seiner Umwelt, das soll nun technologisch vollbracht werden: Man muss es nicht erarbeiten, es wird mit einem gemacht).

Neben den medizinischen und sozialen Formen des Untoten gibt es ein weites Feld, dem Tod zu entgehen: Lebensverlängerung und -verbesserung mit allen Mitteln, Anti-Aging, immer neue Erkenntnisse (und damit immer neue Kulte) zum ‚gesunden Leben‘ (An Apple a Day keeps the Doctor away, vor allem wenn man dazu ein wenig Bewegung in frischer Luft betreibt, das Rauchen und den Alkohol vermeidet und, sagen wir mal, durch Simplifying oder positives Denken den allfälligen Stress bewältigt), jene „demografische Entwicklung“, die den Versicherungsmathematiker und den Steuereintreiber verzweifeln lässt: Wir leben einfach zu lange! Und wir leben immer länger! Aber wozu?

Dass das Glück der Länger-Lebigkeit (passende Bilder dazu bieten Fernsehen und Werbung: rüstige Rentner, gute Kunden und eifrige Leser der Apotheken-Rundschau) zugleich ein ökonomisches Problem ist, geht an die Substanz der post-bürgerlichen Gesellschaft und zerreißt, nach dem identischen Subjekt mit der Solidargemeinschaft auch die Genealogie (nachdem die Verehrung von Vater und Mutter, der Ahnen überhaupt, bereits in der bürgerlichen Gesellschaft spürbar nachließ und durch künstliche Kulte ersetzt werden musste); die Generationen empfinden sich gegenseitig als Untote, hier die alten Zausel, die nicht sterben wollen und von „unserem Geld“ weiterleben, ohne Nutzen zu bringen, dort die von Sex, Drogen und Rock’n’Roll (oder was da gerade in Mode sein mag) durchdrungenen besinnungs- und verantwortungslosen Mitglieder der entkörperten und überkörperten Spaßgesellschaft). Kultiviertere Menschen zeigen statt Hass und Häme aufeinander Mitleid und Einfühlung, was die Sache aber keineswegs viel besser macht: In dieser neuerlichen Spaltung von alt und jung und in einer neuerlichen Hysterisierung des Jung-Seins spiegeln sich verschiedene Formen des unvollkommenen, sinnlosen Lebens ineinander. Grufties, Junkies, Workaholics und Karrieristen finden sich zum Untoten-Tanz – aber ohne anfassen. So ist untot nicht nur ein inneres Empfinden und ein äußeres Projekt, sondern auch eine Form der distanzierenden Denunziation. Im Regelfall sind die Zombies immer die anderen. 


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Ein weiterer Bereich des Untodes ist gebildet aus dem Maquis einer utopisch-ideologischen Gemeinschaft von Wissenschaftlern und Propheten, die das posthumane Leben (unsterblich nahezu, nicht leidend, nicht verlustreich) oder das transhumane Leben (das Weiterleben in anderer Form, die Entkopplung der Software Mensch von der Hardware Körper) in den Diskurs des bürgerlichen oder post-bürgerlichen Progressismus einschrieben. Das klingt, zum Beispiel bei Ray Kurzweil, eigentlich ganz einfach: „Schon mit dem heutigen Wissen können selbst Angehörige meiner Generation [da war Kurzweil gerade sechzig – d. Verf.] in fünfzehn Jahren noch bei guter Verfassung sein. Ich nenne das Brücke eins. Danach wird es möglich werden, unsere Biochemie zu reprogrammieren und unser biologisches Programm durch Biotechnologie zu modifizieren, das ist Brücke zwei. Dies wird uns wiederum lange genug leben lassen, um Brücke drei zu erreichen. Und dann werden uns die Nanotechnologie und Nanoroboter in unserem Körper dazu befähigen, ewig zu leben“. 

Die Life Sciences müssen sich, ethisch befragt, mit ganz anderen Formen jener Zonen zwischen Leben und Nicht-Leben beschäftigen als wir es schon im Alltag tun: Wie viel Künstliches darf ein Leben enthalten (und ist, was Craig Venter mit seiner Zelle und einem Computerprogramm erzeugt, schon künstliches Leben?); wie weit darf die Trennung von Hardware und Software gehen (darf also ‚Software‘ des Lebens beliebig gespeichert, sortiert und kombiniert werden?), wann ist ein menschliches Leben entstanden, das nicht mehr „getötet“ werden darf? Arbeiten wir bereits an einer Psychologie des Klons? Werden die Frozen Angels einmal über uns kommen? Und was vermag Synthetische Biologie?

Das doppelte Untot-Werden, von dem wir ausgegangen sind, als Verlängerung des Lebens in die todesnahen Sphären hinein einerseits (untote Gewinner) und als Vorgriff des (sozialen, geistigen, schließlich organischen) Sterbens in die ‚eigentlich‘ lebensvollen Sphären (untote Verlierer), nimmt in diesem Bereich der Life Sciences eine ganz andere Position ein. Zustand, Empfindung oder Zuschreibung des Untodes ist nun eine Zone, durch die man hindurch muss um zum (mehr oder weniger) ewigen Leben zu gelangen, also nicht mehr Symptom und Entwicklung, das Untote ist hier vielmehr selber der Experimentier- und Schaffensraum des Nach-Menschen. Und so rational und luzide sowohl der Ausgangspunkt (leidbehaftetes, erheblich verbesserungsbedürftiges menschliches Leben) als auch das Ziel (einfach super leben) erscheinen mögen, so mysteriös und gefährlich bleibt doch diese zu durchquerende Zone, keine Black Box (radikale aber hoch begrenzte Finsternis), sondern in der Tat Twilight, durchzogen von halbem Wissen, Spekulationen, Phantasmen, Rationalisierungen und Karnevalisierungen, um nur die freundlichsten der Gespenster in der Untoten-Zone zu nennen. Und noch zum Harmlosesten (auf den ersten Blick), was da geschehen könnte und was wir uns vorstellen können, zählt eine radikale und möglicherweise nicht gewaltfreie Komplexreduzierung des menschlichen Lebens. Muss, einfaches Beispiel, der neue Mensch nach seiner Wanderung durch das Tal der Untoten, jenen alles heilenden und alles erkennenden Nanorobotern, von denen Ray Kurzweil träumt, einen Teil seines Denkens abtreten? Was verliert ein Mensch an Wahrnehmung und Erkenntnis, der nicht mehr über den Schmerz mit der Welt verbunden ist? Was geschieht, wenn ‚vereinfachte‘ Menschen auf eine komplexe Welt treffen – so dass wir, nicht nur in Science Fiction-Romanen davon träumen müssen, die Roboter, Cyborgs und Androiden müssten den Menschen nicht nur das Denken, sondern auch das Fühlen abnehmen, eben alles, was zur Komplexität gehört? Käme also beim ewig lebenden, extrem komplexreduzierten Post-Menschen so etwas wie ein ewiger Säugling heraus, genährt an den virtuellen Brüsten digitaler Ammen? Oder ein mit Wetware verbundener mechanischer Arbeitssklave?

Gewiss schlägt die Phantasie da wieder einmal ihre Blasen, wie bei jeder Twilight Zone des Fortschritts – allesamt auch „große Kränkungen“, vom Kopernikus über Darwin bis zu Sigmund Freud: die Vertreibung des Menschen aus seinem Welt-Zentrum und am Ende aus sich selbst, nach Sonnensystem, Evolution, und Psychoanalyse nun vielleicht die Gattung selber: Den Menschen gibt es nicht mehr, und wenn es ihn nicht mehr gibt, so viel negative Dialektik ist uns gegeben, dann hat es ihn womöglich nie gegeben. Unsere „Katastrophenphantasie“ regt sich nicht umsonst (und nein, sie wird auch diesmal nicht dazu dienen, eine Katastrophe durch ihr „Ausmalen“ zu verhindern). 

Es ist dieses Ineinander, das Wechselspiel von scharfen und unscharfen Diskursen, von Modellen und Traumbildern, von Zahlen und Blasen, was das Untote der gesellschaftlichen Bearbeitung durch das öffnet, was Jacques Rancière die „Softethik“ nennt: eine Ethik, die sich weniger von Projekten und Positionen bestimmen lässt, als durch das Ad hoc ständiger Reparaturen und Nachjustierungen. Softethik versucht unentwegt entstandene Brüche zu schließen, Löcher zu stopfen und sich im Übrigen mit dem Faktischen (oder wenigstens mit dem in den Medien Abgebildeten) zu arrangieren. 

Diese vier Bereiche des Untodes stehen einer wahrhaft unheimlichen Produktion der populären Kultur an Bildern und Erzählungen gegenüber, die zugleich in archaische Tiefen reichen, in Religion, kindliche und animistische Prä-Religion und semiotisch entfesselte Post-Religion, und die sich an den geheimen Machbarkeiten von Medizin, Wissenschaft, Informatik und Technologie festmacht. „Wirklichkeitspartikel“ durchziehen so sehr die Produktion von Bildern und Erzählungen auf dem Traummarkt, wie umgekehrt Fiktionen und Bilder in den Laboratorien der Life Sciences spuken. Wenn Produzenten ihre heftigen Untoten-Träume in der Unterhaltungsindustrie rechtfertigen müssen, dann verweisen sie auf das eigene Produkt als Metapher realer Wissenschaft und Technologie; wenn sich Vertreter der Informatik, der synthetischen Biologie, der Life Sciences und verwandter Diskurse öffentlich (das heißt: medial) zu Wort melden, dann benutzen sie Sprache und Bilder der populären Kultur (was manchen Ortes den Eindruck verstärkt, es handele sich um „spielende Kinder“, die sich als Sandkasten nichts geringeres als ‚unser Leben‘ ausgesucht haben). 

Hier treffen sich die Effizienz der ökonomisierten Wissenschaft und das Unterhaltungsinteresse der Medien: Wissenschaft auf dem Markt muss „marktschreierisch“ genug sein, um „weltbewegende“ Dinge zu versprechen (nur so kann sich die Forschung finanzieren: Das Untote kann nur für den Markt produziert werden), und um in die Medien zu kommen, muss Wissenschaft Sprache und Bilder aus der Unterhaltung (Marktgeschrei und Mythos) übernehmen. So entsteht ein Paradoxon um die Zone des Unbekannten in den Life Sciences: Was hier geschieht, muss zugleich verborgen und bedeutsam sein, zugleich irrational und rational, zugleich normal und phantastisch, zugleich Geheimwissen und Markschreierei. (Was wäre, wenn nach dem Durchgang durch jene Zone des Untodes der Mensch nicht mehr derselbe wäre, sondern auch seine Sprache nicht mehr, also jene, die er benutzt, und jene, die man auf ihn anwendet: Der Zombie ist in erster Linie der sprachlose Mensch und dann das Wesen, auf das man all die wertenden Begriffe des Menschen nicht anwenden kann, kein Toter, aber ein Gestorbener, kein Böser, aber ein Gefährlicher, einer, der nichts hat und alles ist). Einmal mehr: Der diskursive Brei, der angerichtet wurde, ist die Voraussetzung für die Aktivierung der Softethik in der neoliberalen Gesellschaft; sie wird mit dem Untoten in dieser oder jener Form zurecht kommen, weil sie zugleich versteht und nicht versteht, weil sie die Kunst beherrscht, ihr Nicht-Wissen (und ihr Nicht-Wissen-Wollen) zu organisieren.

Alledem steht eine soziale und kulturelle Praxis gegenüber, die dem Phantasieren im Bereich des Untodes Nahrung gibt, der von einer ganz anderen Seite real erzeugt wird. Wir produzieren einerseits ein wechselseitiges Vergessen, den Verlust jener sozialen Kontakte und der öffentlichen Räume, an denen sich das Versprechen der Aufklärung erfüllen könnte, sich zugleich selbst zu erkennen und in die Gemeinschaft zu bewegen, eine Kohärenz von Ich und Welt zu erzeugen durch Arbeit, Interesse und Intelligenz. Und zum zweiten eine „Schere“ zwischen arm und reich, wissend und dumm, bedeutend und überflüssig, die eine Art des doppelten Untodes erzeugt: Der überlebende Reiche, der seinen Körper und seinen Geist für den Genuss erhält, den Genuss immerhin seines Reichtums und seiner Macht, und der „unterlebende“ Arme, der nicht sterben darf, solange sein Körper noch für irgendeine Form des Profits nützlich sein könnte, als Arbeitsmaschine, als Zwangsprostituierte, als Ersatzteillager oder als Konsument im Staatsdienst etc. Denn ist nicht das Wirtschaftssystem, in dem wir leben, paradoxerweise von etwas Untotem ‚beseelt‘, von dem wir so wenig wissen und so viel phantasieren wie von menschlichen oder post- und transmenschlichen Untoten, nämlich vom Geld? 

Wir werden versuchen müssen, das alles zusammen zu denken oder sogar zusammenzudenken. Von einer Zelle im Labor eines Wissenschaftlers, aus der vielleicht einmal ein Mensch oder etwas ganz anderes wird, bis zu einem drastischen Zombiefilm; von der Frage nach dem Menschen ohne Gedächtnis und ohne Bewusstsein bis zur Enhanced Reality, mit einem Blick, der sich aus Wirklichkeit und Fiktion, Traum und Wahrnehmung zusammensetzt, in perfekter Stereoskopie. 

Die Felder für die Diskurse sind, wie man sieht, nach wie vor vielfältiger, als dass sie je in einer einzigen Theorie des Untodes gefasst werden könnten. Doch verbietet es ein solches kritisches Design, in aller Demut, auf die Zumutungen der Ungewissheit mit dem hilflosen Versuch zu reagieren, „Grenzen zu ziehen“, anhand eingeschlagener Pflöcke von Werten (die die einen haben und die anderen eben nicht), kurzum, auf die Rituale der Softethik hereinzufallen. An der Auseinandersetzung mit diesem neuen Diskurs müssen auch die Sinn-, Bild-, Erzähl- und Rationalisierungsmaschinen, die daran beteiligt sind, einer kritischen (Selbst-)Prüfung unterzogen werden. Das Untote nämlich, schon vor und dann während es technologisch produziert wird, stellt so ziemlich alle Fragen, mit denen wir uns seit ein paar tausend Jahren herumschlagen, noch einmal neu. Schon dafür müssten wir die Zombies lieben.

Inwieweit das mit biotechnologischen Mitteln verbesserte oder verlängerte Leben als ein umfassend menschliches zu betrachten ist, gehört zu den neuen Unsicherheiten, mit denen sich die Ethik und die Künste beschäftigen. Mit den Fortschritten in Wissenschaft und Technik werden die Grenzziehungen zwischen Leben und Tod, Kultur und Natur immer komplizierter, und aus den anthropologischen Grauzonen rücken die Untoten in unsere gesellschaftliche Wirklichkeit vor. Georg Seeßlen betreibt Feldforschung in den Zonen des Untodes.

Über den Autor

Georg Seeßlen, *1948, studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und arbeitet als freier Autor und Filmkritiker. Im Herbst 2010 erscheint "Blödmaschinen – Die Fabrikation der Stupidität" von Georg Seeßlen und Markus Metz im Suhrkamp Verlag.

Die Untoten - Kongress und Inszenierung

Eine Welt von „Untoten“ bevölkert als Traum oder Alptraum unsere Filme, Romane, Comics, Feuilletons und Bestsellerlisten. Gleichzeitig schaffen die modernen Biotechnologien und ihre Möglichkeiten in Lebensprozesse einzugreifen, derzeit eine Umbruchsituation. Die Kulturstiftung des Bundes veranstaltet im Mai 2011 einen Kongress auf Kampnagel in Hamburg, auf dem sie Wissenschaft und Popkultur miteinander konfrontiert. 
 

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