Die Untoten
Das mobile "Archiv des Untoten"
Der dreitägige Kongress „Die Untoten. Life Sciences & Pulp Fiction“ im Mai 2011 auf Kampnagel in Hamburg versammelte 80 Wissenschaftler/innen und Künstler/innen, um die verletzlichen Zustände zwischen Leben und Tod in den Kulissen eines Filmsets zu präsentieren und zu diskutieren. Der Kongress inszenierte einen theatralen Ort der Wissenschaftspopularisierung, der anhand verschiedener Personen und Redeweisen, Wissenschaftskulturen und spekulativen Fiktionen definierte, was noch/schon lebendig und was noch/schon tot ist.
Auf welche Art und Weise sprechen Betroffene, Wissenschaftler, Künstler und Ärzte über die Schwelle zwischen Leben und Tod? An den Schnittstellen von Medizin, Technik, Ethik, Philosophie und Popkultur sammelte der Kongress Erzählungen, Vorträge, Zeichen, Bilder und Chiffren für ein Archiv. Aus 60 aufgezeichneten Stunden entstand schließlich die mobile Archiveinheit und Installation "Das Archiv des Untoten".
Darin sprechen u.a. die Philosophin Petra Gehring über den deregulierten Tod, der Mediziner Andreas Zieger zur Todespolitik moderner Medizin, die Literaturwissenschaftler Joseph Vogl und Philipp Ekardt über untote Figuren in der Geldwirtschaft, die Ethnologin Michi Knecht zum sozialen Leben von Tiefkühlembryonen, der Autor Mark Ravenhill über die fatale Narration von Menschen mit HIV, sowie der Biogerontologe Aubrey de Grey und der Bioethiker Andy Miah über Verheißungen und Schrecken eines ewigen Lebens.
Vom 13. März bis 5. April 2014 konnte das mobile "Archiv des Untoten" im Foyer der Kulturstiftung des Bundes am Franckeplatz in Halle an der Saale besichtigt werden.
Das "Archiv des Untoten" ist eine Installation von Hannah Hurtzig, Philipp Hochleichter und Florian Stirnemann.
Wann beginnt ein Leben?
Wann endet ein Leben?
Und wer bestimmt darüber?
Eine Welt von "Untoten" bevölkert als Traum oder Alptraum unsere Filme, Romane, Comics, Feuilletons und Bestsellerlisten. Gleichzeitig schaffen die modernen Biotechnologien und ihre Möglichkeiten, in Lebensprozesse einzugreifen, derzeit eine Umbruchssituation und verändern unsere Vorstellungen von dem, was eine menschliche Existenz ausmacht.
Wann beginnt ein Leben?
Der Mensch, der heute stirbt, ist nicht wirklich tot
Die Molekularbiologie und die moderne Apparatemedizin verwischen vormals unhinterfragte Grenzen. Im Labor werden "frozen angels" (überzählige Embryonen aus der Reproduktionmedizin) hergestellt und Zellgewebe beliebig oft synthetisiert. Sind diese neue Lebensformen lebendig oder tot, noch-nicht-lebendig oder noch-nicht-ganz tot? Wie ist die Daseinsform eines Wachkomapatienten zu beschreiben? Und was sind das für Körper, denen Organe und Gewebe entnommen werden – sind sie gegen alle Intuition tot, nur weil es das Hirntodkriterium so festlegt? Die heutigen biotechnologischen Möglichkeiten verweisen auf eine neue Art des "Lebens nach dem Tod". Unser Körper scheint sich zu einer grenzenlos verformbaren und verbesserungsfähigen Variable zu entwickeln. Der alte Traum von Unsterblichkeit lebt in einer biotechnisch aktualisierten Form neu auf.
Der Zombie des 21. Jahrhunderts
Das prägnante Bild für "untotes Leben" ist der Zombie mit seinen vitalen Beeinträchtigungen. Als Filmfigur trat er in seiner modernen Form 1968 in George A. Romeros berühmtem "Night of the Living Dead" auf – ein Jahr nach der weltweit ersten Herztransplantation an einem Menschen und zeitgleich mit der Formulierung des Hirntodkriteriums als Grundlage für die klinische Entscheidung über Leben oder Tod. Der Zombie als der größte anzunehmende Unfall aller Life Science war im 20. Jahrhundert eine sozialkritische Figur der (kolonialen) Ausbeutung des Körpers, der Enteignung der Seele und der Entfremdung der Arbeit. Wer oder was aber ist der Zombie des 21. Jahrhunderts?
Wer bestimmt über das Untote?
Die Herrschaft über Leben und Tod ist zu einer Herrschaft über das Untote geworden: Wer bestimmt, was untot ist? Wer profitiert vom Untoten? Und welche Rechte haben "Untote"? Die Pop-Kultur hat auf manche der Fragen, die Politik und Wissenschaft heute beschäftigen, schon Antworten gegeben, bevor sie gestellt waren. Science Fiction und Horror begleiten die Entwicklung der Life Sciences wie der Biotechnologie seit deren Anfängen. Kino, Musik, Comics, Illustration, Fernsehen und YouTube liefern Visionen, Alpträume, Erklärungen, Mythisierungen und Karnevalisierungen der neuen Denk- und Machbarkeiten.
Der Kongress: Ein dreitägiger Arbeits- und Schauraum für Theorie und Praxis
Das Projekt "Die Untoten. Life Sciences & Pulp Fiction" der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit Kampnagel Hamburg und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften präsentierte Bilder, Erzählungen, Forschungen und Spekulationen aus den Zonen des Unbestimmten, dem Zwischenbereich von Leben und Tod. Experten aus dem Feld der Biotechnologie waren ebenso vertreten wie Bioethiker, Philosophen, Praktiker aus dem Pflegebereich, Künstler, Film- und Medienschaffende und Popikonen. Sie trafen zu verschiedenen Fragestellungen in den Räumen eines Filmsets (Krankenhaus, Cinema, Friedhof und Labor) aufeinander. An diesen typischen Orten der Produktion des Untoten wurden die wissenschaftlichen, politischen, ethischen und populärkulturellen Diskurse in Gesprächen, Vorträgen, Präsentationen, Performances und Experimenten miteinander konfrontiert.
Regie & Produktion:
Hannah Hurtzig / Mobile Akademie Berlin
Philipp Hochleichter, Berlin
Wissenschaftliche Leitung:
Dr. Karin Harrasser, Medien- und Kulturwissenschaftlerin, Köln
Dr. Oliver Müller, Medizinethiker und Philosoph, Freiburg im Breisgau
Georg Seeßlen/Markus Metz, Autoren und Filmkritiker, München
Ein Projekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit Kampnagel Internationale Kulturfabrik und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Das Video "Die Untoten. Life Sciences & Pulp Fiction" zeigt Impressionen des Kongresses im Mai 2011 auf Kampnagel Hamburg.
Kontakt
Dr. Alexander Klose
Kulturstiftung des Bundes
Franckeplatz 2
06110 Halle (Saale)
Tel.: +49 (0)345 2997 119
Fax.: +49 (0)345 2997 333
E-Mail an Dr. Alexander Klose