Die Kulturstiftung des Bundes fördert im HEIMSPIEL-Fonds (externer Link, öffnet neues Fenster) Theaterprojekte, die sich speziell mit Themen aus dem eigenen städtischen Umfeld und seinen Bewohnern beschäftigen. Was kann das Theater tun, um ein Ort der Identifikation in der Stadt zu sein, an dem Fragen des Zusammenlebens oder kulturelle Spannungen am Ort verhandelt werden? Der HEIMSPIEL-Fonds für Theaterprojekte versammelt Projekte,
zur Erkundung von Themen und Milieus, die im Theateralltag aus dem Blickfeld zu fallen drohen. Die Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau plädiert für eine Rückbindung des Theaters an seinen urbanen Kontext, um seine historisch gewachsene Rolle in der Öffentlichkeit den Bedürfnissen der Gegenwart anzupassen.
Der Vortrag, den Friedrich Schiller im heißen Juni des Jahres 1784 vor den Vertretern der angesehenen Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft hielt, ist bis heute als so genannte Schaubühnenrede bekannt. Der Autor genoss zum Zeitpunkt dieser Rede bereits ein großes Renommee. Er trat hier jedoch nicht als Dichter, sondern als Kulturpolitiker auf, der mit der gesamten Wucht seines dramatischen Talents und mit hohem moralischem Impetus die Notwendigkeit einer «guten stehenden Schaubühne» heraufzubeschwören suchte. Unter der Bezeichnung ‹gut› verbarg sich dabei die Sehnsucht nach einer großzügigen finanziellen Ausstattung, unter dem Begriff ‹stehend› die Hoffnung auf ein festes Haus mit sesshaftem Darstellerensemble.
Bekanntermaßen handelte es sich bei Schillers Forderungen keineswegs um die Sehnsucht nach elitären Extras oder um das Ergebnis eines persönlichen Spleens, sondern um die Erfindung eines Formats kultureller Öffentlichkeit, das als ‹Nationaltheater› - über das neunzehnte Jahrhundert hinweg - bis heute prägend ist. In keinem anderen Land Europas ist seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert
ein so flächendeckendes Netz staatlich subventionierter Bühnen entstanden wie in Deutschland. Seine Legitimation leitete das kostenintensive Programm von der selbst gesetzten Aufgabe ab, die bürgerlichen Schichten in nationalem Umfang zu bilden. Jenseits lokaler Kleinstaaterei sollten in den neu gegründeten Theatern ‹sittliche Bildung› und ‹Aufklärung des Verstandes›, ‹praktische Weisheit› und nicht zuletzt ‹feuriger Patriotismus› ihre Wirkung am Zuschauer entfalten. «Die Schaubühne» - so argumentierte denn auch Schiller - «ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Theile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt, und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.» Das hier gezeichnete Bild formuliert in symptomatischer Weise ein Problem, das bis heute die Diskussion um öffentliche Theater bestimmt. Es ruft die Idee einer intellektuellen Avantgarde auf, die qua Weitsicht und Ausdrucksvermögen für die Rolle eines Erziehers des Volkes prädestiniert ist und in der das Theater als überregionales Sprachrohr fungiert. Diese Position ist jedoch nicht nur einsam, sondern geradezu eindimensional. Wie Schillers Rede vom ‹Kanal› verdeutlicht, wird hier zwar gesendet, aber nicht empfangen. Längst haben die Theater erkannt, dass diese Form des Bildungsanspruches nur noch bedingt als Legitimationsgrundlage taugt. Mit der Durchsetzung eines bürgerlich-demokratischen Wertekanons und dem Aufkommen moderner Medien wie Radio und Fernsehen hat sich die Struktur öffentlicher ‹Sprachrohre› verändert. Angesichts dieser Rollenverschiebung und angesichts leerer Kassen bei Staat und Bevölkerung stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis zeitgenössischer Stadt- und Staatstheater in dringlicher Weise. Wenn es nicht bloß darum geht, Schüler- und Abonnentengruppen durch den dramatischen Regelkanon zu schleusen, welche Funktion fällt dem Theater als öffentlichem Ort zu? Worin liegen seine spezifischen ästhetischen und politischen Qualitäten im einundzwanzigsten Jahrhundert?
Es scheint, dass diese Fragen vor allem durch eine Umkehrung des tradierten Theaterbildes beantwortet werden können. Heute haben die städtischen Bühnen weniger einen ‹Bildungsauftrag›, als vielmehr einen Forschungsauftrag. Nur wenn es die ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen der es umgebenden Öffentlichkeit kennt, kann das Theater seine zeitgenössische Relevanz behaupten. Aus der Rückbindung an das Lokale, an die Stadt und ihre Gegebenheiten kann eine Szene, im räumlichen und theatralen Sinne, erwachsen. Das Publikum ist darin weniger ein unwissendes und zu erziehendes Gegenüber als vielmehr ein Partner und Mitspieler, ein ‹zwölfter Mann›.
Der HEIMSPIEL-Fonds stellt genau diesen taktischen Vorteil ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Vorteil, der aus der genauen Kenntnis des Ortes, aus der Rückendeckung durch die vertrauten Umstände und vor allem aus der Unterstützung erwächst, die ein gespannt mitfieberndes Publikum aufbaut, das auf dem Spielfeld seine eigene Sache verhandelt sieht. Ein Heimspiel - das ist die Möglichkeit, aus der Lokalität einen klaren Vorteil gegenüber dem Risiko des Auswärtsgegners herauszuspielen. Der Auswärtsgegner ist hier die Illusion, die Heimsuchung durch das Fremde oder Unbegreifliche. Das Heimspiel kann deutlich machen, dass das Befremdliche hausgemacht ist oder dass das, was uns entgegentritt und Ängste auslöst, nur nach Maßgabe unserer eigenen Lebensweise und gemessen an unseren eigenen Vorgaben bedrohlich erscheint. Im Falle des Theaters kann ein Heimspiel deshalb den Versuch bedeuten, die lokalen Konflikte, aber auch die lokalen Ressourcen sichtbar zu machen und spielerisch auszutragen. Drei Forschungs- und Spielfelder scheinen dafür besonders geeignet: erstens der Bereich des Lokalen, zweitens der Bereich der Geschichte und drittens der der Bewohner. Will man die lokalen Kräfte oder die Gestalt eines Ortes erforschen, so stellt sich zunächst die Frage nach der Stadt selbst, ihrer Historizität, ihrer Ökonomie oder ihren architektonischen Besonderheiten. Die Rückbindung des Theaters an seinen urbanen Kontext öffnet im besten Fall den Blick für den Bühnencharakter des städtischen Raumes. Der Raum der Stadt ist niemals homogen und schon gar nicht neutral, er setzt sich aus unterschiedlichsten Zonen und Blickachsen zusammen, die die Bewegung, das Verhalten und das Selbstverständnis seiner Bewohner prägen. Im Theater der Stadt werden die Straßen und Plätze mit ihren versteckten Höfen und auffallenden Graffitis zu Bühnen, auf denen so unterschiedliche Akteure wie das Kleinkind oder der Kampfhund die Stelle des Schauspielers besetzen. Eine Begegnung mit der Stadt vollzieht sich immer auch als Begegnung mit der Vergangenheit. Eine Stadt besteht nicht nur aus Gebäuden, sondern auch aus Geschichten, sie besteht aus Monumenten und Meinungen, aus Gräbern, Gerüchen, Stein und Luft. «Allen Städten», so wussten schon die Pariser Situationisten, «haftet etwas Geologisches an, und bei jedem Schritt begegnet man Gespenstern bewaffnet mit dem ganzen Zauber ihrer Legenden.» Die Spezifik eines Ortes verdankt sich nicht zuletzt den Spuren, die sich in ihn eingeschrieben haben. Sie erzählen von der offenen oder versteckten Existenz der dort lebenden Bewohner, ihren Ängsten und Leidenschaften, ihren Hoffnungen und ihren Zielen. Ob das Heimspiel als Forschungsreise in eine vergessene Stadtzone, als Eintauchen in eine fremde Lebenswelt oder als Annäherung an eine besondere Atmosphäre stattfindet, immer sucht es nach dem gemeinsamen Grund des Zusammenlebens der Bewohner. Für die Ergebnisse, die daraus hervorgehen, ist das Theater nicht bloß ein Ort der Präsentation, sondern wiederum eine Zone der Begegnung - das Forum einer anderen Art von Öffentlichkeit.
Dieser Artikel erschien im Magazin Nr. 8 der Kulturstiftung des Bundes.