Ob Neue Musik nur von einem Nischenpublikum goutiert wird, ob und wie viel Vorbildung sie voraussetzt, ob zu wenig oder das Falsche für ihre Vermittlung getan wird, darüber gehen die Meinungen auseinander. Fest steht, in der öffentlichen Wahrnehmung rangiert Neue Musik weit hinter Klassik und Pop. Mit dem Netzwerk Neue Musik will die Kulturstiftung des Bundes die Vermittlung Neuer Musik fördern
und ihr einen größeren öffentlichen Resonanzraum verschaffen. Rainer Pöllmann, als Festivalleiter und Journalist Kenner der Szene, gibt einen Bericht zur Lage der Neuen Musik in Deutschland.
Durchschnittlich 1,7 Uraufführungen gab es in Deutschland in den letzten beiden Jahren. Jeden Tag. So das Ergebnis einer aktuellen Umfrage. Man kann also nicht sagen, die Neue-Musik-Szene in Deutschland sei nicht produktiv. Die Zahl der Komponisten (mehr oder minder) Neuer Musik ist unüberschaubar, und auch zahlreiche Orchester und Opernhäuser haben die Neue Musik für sich entdeckt. Viele Orchester
haben inzwischen einen Composer in Residence und vor allem große Opernhäuser stellen zumindest alle paar Jahre der Zauberflöte oder der Traviata auch ein neues Werk, manchmal gar eine Uraufführung, zur Seite.
Daneben gibt es viele Festivals für Neue, neue, aktuelle oder zeitgenössische Musik. Die meisten werden auch heute noch von den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten getragen. Der SWR veranstaltet die Donaueschinger Musiktage* (externer Link, öffnet neues Fenster), das wichtigste Festival für Neue Musik in Deutschland, und war Kooperationspartner von Musik der Jahrhunderte beim Festival ECLAT, der WDR richtet unter anderem die Wittener Tage für Neue Kammermusik aus, Deutschlandradio Kultur und der rbb veranstalten das Festival Ultraschall. Dazu kommen Reihen wie die Musica viva des BR, und selbst eine kleine Rundfunkanstalt wie der SR leistet sich ein Festival mit Neuer Musik. Von öffentlichen Institutionen getragen sind die MaerzMusik und die Münchner Biennale. Natürlich gibt es auch zahlreiche Konzerte und kleine Festivals privater Institutionen, aber auffällig ist doch, dass kaum ein großes Festival von einem privaten Veranstalter getragen wird.
Anders verhält es sich mit den knapp 200 Ensembles für Neue Musik, die es heute in Deutschland gibt. Entstanden ist die (west-)deutsche Ensemblelandschaft zu guten Teilen vor rund 20 Jahren. Fast gleichzeitig fanden sich damals an verschiedenen Orten junge Musiker zusammen, um selbstbestimmt (und sich selbst ausbeutend) professionelle Standards in der Interpretation zeitgenössischer Musik zu realisieren. Das geschah nicht zufälligerweise zu einer Zeit, als schon einmal ‹prekäre› Arbeitsverhältnisse drohten. Ensemble Modern, ensemble recherche und Ensemble Aventure fanden zahlreiche Nachfolger, und gerade in den letzten Jahren geben eine ganze Reihe von Neugründungen zu großen Hoffnungen Anlass. Diese Ensembles sind das Fundament der Neuen Musik in Deutschland. Sie sind der Knotenpunkt, an dem die verschiedenen Stränge zusammenlaufen und miteinander verknüpft werden. Qualität und Vielfalt der deutschen Spezialensembles für Neue Musik sind dabei weltweit einzigartig.
Uraufführungen, Ensembles, Konzerte - die Zahlen zur Neuen Musik in Deutschland sind beeindruckend groß. Sie täuschen freilich über massive strukturelle Defizite hinweg. So arbeiten nur vier dieser Ensembles - das Ensemble Modern aus Frankfurt, das ensemble recherche aus Freiburg, die musikFabrik aus Köln und die Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart - gewissermaßen ‹hauptberuflich›. Und auch in regionaler
Hinsicht kann von einem ausgeglichenen Verhältnis nicht die Rede sein. Ein Großteil der international konkurrenzfähigen Ensembles findet sich im (Süd-)Westen der Republik. Die Leuchttürme stehen also überwiegend im Binnenland. Städte wie Hamburg, Leipzig, Nürnberg oder München bleiben in diesem Ranking zurück, und
die deutsche Hauptstadt mag zwar mittlerweile über die größte Neue-Musik-Szene verfügen, aber eben nicht über einen der ‹Leuchttürme›. Die Situation abseits der größeren Städte ist unübersichtlich. Vom Oh-Ton Ensemble in Oldenburg bis zur Neuen Musik Oberschwaben gibt es eine Vielzahl von kleinen Projekten, die vornehmlich vom enormen persönlichen Engagement einzelner Menschen leben. Vernetzt sind viele dieser lokalen Aktivitäten durch Regionalgesellschaften der GNM, der Gesellschaft für Neue Musik in Deutschland, die sich seit einigen Jahren gezielt für die Belange der Neuen Musik einsetzt und in zahlreichen Organisationen wie dem Deutschen Musikrat Sitz und Stimme hat. Die GNM hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Szene ein Bewusstsein ihrer selbst und ihrer gesellschaftlichen Verankerung entwickelte.
Die enorme Zahl von Uraufführungen hat allerdings eine Kehrseite. Im allgemeinen Drang zum Ius primae noctis kann kein Repertoire der Neuen Musik entstehen. Von einer solchen Repertoirebildung hängt jedoch ab, wie selbstverständlich der Umgang mit Neuer Musik auf Seiten der Interpreten wie auch auf Seiten der Hörer ist. Festivals wie Ultraschall oder ECLAT können ihren Beitrag zur Repertoirebildung leisten, die Situation aber nicht grundlegend verändern. Denn die Repertoirebildung muss, soll sie von Dauer sein, kontinuierlich und auf breiter Front stattfinden. Der Eifer, mit dem sich eher traditionell gestimmte Institutionen, wenn sie sich denn schon einmal zu Neuer
Musik durchringen können, unbedingt ihr ‹eigenes› Werk sichern wollen, ist insofern durchaus ambivalent.
Immer wichtiger für die Wahrnehmung Neuer Musik wird seit einiger Zeit der Aufführungsort, was durchaus paradoxe Entwicklungen zeitigt. Je komplexer und anspruchsvoller die Aufführungsbedingungen für Neue Musik werden, desto mehr verlagern sich die Konzerte aus den Konzerthäusern in Räume, die zwar Aura haben, von der Musik aber erst einmal erobert werden wollen. Manchmal entsteht geradezu ein Wettlauf um die ausgefallensten Orte. Je abgelegener, je abgefahrener, desto besser. Der Nebeneffekt solcher Wanderungsbewegungen ist dabei nicht zu unterschätzen. Die viel beklagte Schwellenangst in den traditionellen Kulturtempeln und Philharmonien verschwindet bei pittoresk heruntergekommenen Fabrikhallen und Industriebauten - selbst wenn der Verhaltenscodex nicht weniger streng ist als an den klassischen Orten. (Und die akustischen Bedingungen sich oft genug als problematisch erweisen.)
Die gesellschaftliche Relevanz der Neuen Musik
Vergleicht man die Situation der Neuen Musik in Deutschland vor dreißig Jahren mit der heutigen, kommt man zu einem eindeutigen Befund: Noch nie gab es so viele Aufführungen Neuer Musik, noch nie war das spieltechnische Niveau so hoch, die Professionalität so entwickelt wie heute. Ist die Neue Musik also angekommen in der Mitte der Gesellschaft? Das zu behaupten wäre dann doch ein wenig realitätsfern. Immer noch herrscht ein eklatantes Gefälle zwischen der gesellschaftlichen Verankerung von zeitgenössischer Musik und anderen zeitgenössischen Künsten.
Moderne Kunst hängt auf Vorstandsetagen großer Konzerne, Aufgeschlossenheit für Experimente gehört zum guten Ton. Geht es hingegen um Musik, dann ist sogar den an Kultur interessierten Kreisen ein eklatanter Konservatismus eigen. Intellektuelle, die keinerlei Berührungsängste mit provokativem Theater oder avanciertesten Werken der Bildenden Kunst haben, nehmen für sich besten Gewissens in Anspruch, ‹moderner Musik› nichts abgewinnen zu können. Wer sich über Gerhard Richter auch nur halb so verständnislos äußerte wie es selbst bei Karlheinz Stockhausen bis heute täglich geschieht, verabschiedete sich als ernst zu nehmender Gesprächspartner aus dem kulturellen Diskurs.
Darüber hinaus gibt es eine bemerkenswerte Kluft zwischen einer allgemeinen
Wertschätzung zeitgenössischer Musik und dem individuellen Interesse. Eine persönliche Leidenschaft entsteht eher selten, das Verhältnis zu Neuer Musik bleibt selbst bei vielen Sponsoren, die dankenswerterweise solche Projekte unterstützen, erkennbar spröde.
Nun ist nicht zu bestreiten, dass über viele Jahre einige meinungsbildende Zirkel der Neuen Musik dem allgemeinen Musikleben eher distanziert gegenüber standen und der gemeine Hörer keine besonders wichtige Kategorie war. Der Elfenbeinturm als Künstlerdomizil wird heute langsam verlassen, und es gibt wohl keinen einzigen Komponisten mehr, der sich bei Erfolg unverstanden fühlt. Die überwältigende Zuneigung, die Helmut Lachenmann, früher eine Projektionsfläche für die Abneigung aller Konservativen, zu seinem 70. Geburtstag im letzten Jahr erfuhr, zeigt nachdrücklich, was sich geändert hat. Trotzdem beginnen auch heute noch zahlreiche Artikel zur Neuen Musik in Deutschland mit dem Negativen: der Feststellung, wie schwierig die Musik sei, wie wenig Publikum sie finde. Not tut also zweierlei:
Aufklärung, die hilft, all die Klischees zur Neuen Musik beiseite zu räumen. Und eine fundierte Vermittlung, die potentiell Interessierten den Zugang zu einer ihnen fremden Welt verschafft.
Zauberwort ‹Vermittlung›
Die Veranstalter haben das erkannt, sanft gedrängt auch durch neue Förderrichtlinien von öffentlichen Einrichtungen und Kulturstiftungen. Im Bereich der Neuen Musik gibt es allerdings bisher nur wenige Vermittlungsprojekte von Rang. Das Kölner Büro für Konzertpädagogik leistet seit Jahren wichtige Arbeit, Musik der Jahrhunderte in
Stuttgart bekam für das Projekt CLASH den Preis des Deutschen Musikrats. Das Institut für Neue Musik und Musikerziehung hält jährlich eine Tagung in Darmstadt ab, und natürlich versuchen auch Ensembles, ein neues Publikum anzusprechen.
So unterschiedlich diese Institutionen arbeiten - eines ist ihnen gemein: Sie halten keine Volksreden, beschränken sich nicht auf Appelle, sondern gehen unters Volk, seien es nun Schulklassen oder bestimmte Berufsgruppen, mit denen zusammen Konzerte entwickelt werden.
Aus dem Fehlen einer ‹klassischen› Vorbildung ziehen viele Vermittler übrigens ihre eigene Konsequenz: Die Beschäftigung mit Neuer Musik ist nicht mehr die logische Fortführung des klassischen Bildungskanons, der Weg zu Enno Poppe oder Brian Ferneyhough führt nicht mehr notgedrungen über Bach und Beethoven. Oft genug entdecken gerade junge Hörer (ohne ‹Klassik-Hintergrund›) in Neuer Musik etwas Vertrautes, das dem klassisch geschulten Hörer zunächst als Hemmnis erscheint. Zumal in der Clubszene und der elektronischen Musik verwischen sich die Grenzen immer mehr - auch wenn sich die vor einigen Jahren viel beschworene Nähe von Techno und Neuer Musik als Schimäre erwies.
Als Irrweg hat sich indes über viele Jahre hinweg die Anbiederung an ein vermeintlich oberflächliches Publikum durch Crossover-Projekte herausgestellt. Die Neue Musik selbst ist schon ausgesprochen promisk, sie lässt sich mit vielen Schwesterkünsten ein. Solche Begegnungen in Form eines ‹Avantgarde goes Pop› zu inszenieren, ist jedoch fast immer bloßer Etikettenschwindel, den das hinters Licht geführte Publikum mit Liebesentzug ahndet. Neue Musik kann ungeheures Vergnügen bereiten - Unterhaltungsmusik ist sie, in der Regel, nicht. Wer diese Unterschiede verwischt, wird keinen dauerhaften Erfolg haben.
Kompetenz ist also durchaus vorhanden, bei Ensembles und Veranstaltern, bei Pädagogen und Hochschulen. Ein systematischer Austausch der jeweiligen Erfahrungen findet bisher jedoch kaum statt, der jeweilige Wirkungskreis ist begrenzt, professionelle Standards gibt es nicht, und so arbeitet und kämpft oft genug jede Einrichtung für sich. Jenseits der Zentren Neuer Musik wird die Situation vollends unbefriedigend. Von der öffentlichen Hand haben Institutionen der Neuen Musik in Klein- und Mittelstädten in der Regel nur wenig Unterstützung zu erwarten, und oft genug wären die lokalen Institutionen mit einer solchen Aufgabe auch personell wie finanziell überfordert.
Ein groß angelegtes Aufbauprogramm wie das Netzwerk Neue Musik kann angesichts dieser Situation entscheidend zu einer Professionalisierung und Verstetigung von Vermittlung beitragen. Um möglichst große Wirkung zu erzielen, gilt es nicht zuletzt, die vorhandene Kompetenz im Bereich der Neuen Musik zu nutzen und gezielt Netzwerke aufzubauen, die in die jeweilige Region ausstrahlen und so auch jene Gebiete erreichen, in denen Neue Musik bisher keine große Rolle spielt. Eine solche musikalische ‹Zonenrandförderung› kann breite Flächenwirkung erzielen, ohne Gefahr zu laufen, das Rad mehrfach neu zu erfinden. Nötig wäre darüber hinaus eine Ausbildung zu etablieren, die langfristig einen hohen Qualitätsstandard sichert.
Der Boom der Alten Musik hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, auch scheinbar Abseitiges zu einem zentralen Bestandteil des Musiklebens zu machen und eine Relevanz zu schaffen, die nicht vom Modischen diktiert wird. Allerdings dauerte dieser Prozess mehr als dreißig Jahre. Und die Herausforderung ist im Fall der Neuen Musik
noch viel schwieriger.
Bei aller Begeisterung sollte man indes nicht vergessen, dass Vermittlung kein Selbstzweck ist. Haben Orchester und Ensembles in Deutschland über viele Jahre versäumt, ihr Tun zu erklären und neue Publikumsschichten anzusprechen (bzw. die nachwachsenden Generationen aus jenen Schichten, die früher ganz selbstverständlich zur Kernzielgruppe gehörten), so schießen sie vielfach heute über das Ziel hinaus. Eine gewisse Über-Pädagogisierung ist da gelegentlich zu bemerken, die der Kunst selbst eine Kraft und Kommunikationsfähigkeit nicht mehr zutraut. Unter all dem Zierrat der Vermittlung verschwindet so die Hauptsache: die Musik. Und mit ihr das Rätselhafte, Enigmatische und eben dadurch Zauberhafte, das großer Kunst nun einmal zu eigen ist.
Auch sollte man sich hüten, Aufgaben miteinander zu vermischen, die nichts miteinander zu tun haben. Im Zentrum aller Bemühungen, am Ziel jeder noch so langwierigen Annäherung steht die Kunst. Vermittlungsarbeit ist Arbeit für die Kunst, nicht bloß künstlerisch aufgewertete Sozialarbeit. Auch wenn die sozialen Nebenwirkungen von Beschäftigung mit Kunst gar nicht hoch genug zu schätzen sind.
Dieser Artikel erschien im Magazin Nr. 8 der Kulturstiftung des Bundes.
* Anmerkung der Redaktion: Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Donaueschinger Musiktage und das Frankfurter Ensemble Modern als Spitzeneinrichtungen in der Sparte Musik. Das Freiburger ensemble recherche erhielt 2006 Projektfördermittel.