Die nachgeholte Zukunft

Von Ingo Niermann

Peking oszilliert zwischen Moderne und Tradition, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen westlichen Einflüssen und chinesischer Denktradition. Doch welches Bild von China haben diejenigen vor Augen, die in der Riesen-Metropole Macht und Einfluss haben? Der Schriftsteller Ingo Niermann hat während seines Beijing Case-Stipendiums Menschen befragt und porträtiert, die Einfluss auf Pekings Entwicklung zu nehmen versuchen: Wirtschaftsbosse, Politiker und Medienakteure. Er fasst hier seine Eindrücke zusammen.

Ein Pekinger Unternehmer verabredete sich mit mir in seiner neu eröffneten Karaoke-Bar. Heute um die 40, gehört er zu denen, die in dem durch Marktöffnung und Investitionsprogramme forcierten Boom nach den niedergeschlagenen Unruhen von 1989 schnell und jung reich wurden. Es war bereits elf Uhr abends, und er konnte, als ich in seinem schwach beleuchteten Separee eintraf, leider kaum noch sprechen. In weißem Jogginganzug und mit Sonnenbrille hing er im Sofa, und nach zwei durchwachten Nächten in Folge gab es keine Droge mehr, die ihn noch auffrischen konnte. Vor ihm tanzte ein Haufen junger Mädchen und ein paar Jungs zu verlangsamtem House, die ab und an mit einem langen Strohhalm Ketamin schnupften. Doch ihre schüchternen, streberhaften Gesten der Ausgelassenheit wirkten noch immer völlig nüchtern. Während der Nationalfeiertage besuchte ich ein großes Open-Air-Rockfestival an seinem vierten und letzten Tag. Eine Band bemühte sich, wie Limp Bizkit zu klingen. Schon hundert Meter vor den Chemo-Toiletten begann es schrecklich zu stinken und eine Waschgelegenheit war weit und breit nicht zu entdecken. Doch die T-Shirts der Jungs wirkten frisch gebügelt, die Haare der Mädchen waren frisch toupiert, und sie saßen aufgeräumt und sauber vor ihren Zelten, tranken Tee aus einer Thermoskanne und verkauften Raub-CDs. Als es dämmerte — noch zwei Stunden bis zum Programmende —, entdeckte ich endlich ein paar bullig stolzierende Jungs, deren Jeansanzüge älter als einen Monat aussahen, und vor der Bühne wurde auch mal gepogt, doch es sah aus wie nur eine weitere seltsame Mode aus dem Westen, die man möglichst perfekt zu imitieren versucht.

Die meisten Chinesen wohnen sehr beengt, oft noch mit dürftigen sanitären Anlagen. Verständlich, dass Punk im Sinne echter Verwahrlosung sie wenig interessiert. Da werden Goth und Black Metal gehört, wie in den 50er Jahren im Westen Rock ’n’ Roll — oder nicht einmal das. Damals musste man sich teure Schallplatten kaufen oder in Tanzclubs gehen. Jetzt hört man Raubkopien und kann gleichzeitig für die nächste Prüfung pauken. Die Rebellion braucht weder Geld noch Zeit, sondern findet weitgehend in einer virtuellen Parallelwelt statt.

Das moderne China erfüllt viele Erwartungen, die die Science Fiction Anfang des 20. Jahrhunderts von der Zukunft hatte, und wie sie im Westen doch nicht wurde: beherrscht von einem technokratischen Regime, das nicht davor zurückschreckt, einen Fluss tausend Kilometer umzuleiten, Regen künstlich zu verstärken, die Wüste zu bewalden, zig Millionen abgelegen lebende Menschen mit erneuerbaren Energien zu elektrifizieren und jedes Jahr mehrere Atomkraftwerke zu bauen. Um den Smog über der Millionenstadt Lanzhou aufzulösen, überlegt man, einfach die umliegenden Berge wegzusprengen.

Manchmal kommt es zu Umweltkatastrophen und schlimmen Auswüchsen von Korruption. Doch um die Produktivität immer weiter zu steigern und Rebellionen zu verhindern, stehen im Science Fiction neuartige Drogen, Medien und Selbsttechniken zur Verfügung: Die Demokratie ist nicht mehr zeitgemäß, denn dank immer weitgehenderer Automatisierung und Expansion werden Platons und Marxs Idealwelten vereint in einer sozialistischen Expertendiktatur. Im letzten Stadium sind auch die Experten Maschinen, und die Menschen drohen ganz entsorgt zu werden.

So weit ist man in China dann doch nicht. Es gibt noch genug, was Menschen für andere Menschen tun können. Im Westen hat man mit der Automatisierung der Fabriken auch die Dienstleistungen immer weiter rationalisiert. Häufig bedeutete das: wegrationalisiert. China aber tritt mit so vielen Menschen in eine bereits so weit automatisierte Weltwirtschaft ein, daß es die Produktion für alle Länder übernehmen könnte und immer noch genug billige Arbeitskräfte vorhanden wären, um die Reichen umfassend zu bedienen. Apartmenthäuser haben keine Müllschlucker, durch die sich Kakerlaken ausbreiten können, sondern gleich an der Tür zum Treppenhaus wartet ein Mädchen, das einem den Müll aus der Hand nimmt. Man muss auch nicht selber den Müll trennen, sondern überlässt es Alten, das Papier und die Plastikflaschen herauszusuchen, damit sie sie an der nächsten Sammelstelle verkaufen und ihre karge Rente aufbessern. Die Wanderarbeiter, die in den Städten für niedrige Löhne und ohne Aufenthaltsstatus arbeiten, schlafen in Vier-Stock-Betten und arbeiten 12, 14 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Aber wenn sie die versprochenen 50 bis 150 Euro pro Monat auch bekommen, reicht das, um den Großteil in die Heimat zu schicken und damit Eltern, Frau und Kinder zu unterstützen, und vielleicht spart man in ein paar Jahren genug für ein eigenes Haus. Die Wanderarbeiter besorgen weit mehr Transferleistungen in die armen Regionen Chinas als der Staat.

Aufgrund der in den späten 70er Jahren begonnenen Geburtenkontrolle wird Chinas Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten sehr schnell altern. Skeptiker warnen: China wird alt, bevor es reich wird. Aber vielleicht wird China auch alt, bevor die Alten vereinzeln. Auf jeden Fall wird man es sich in China sparen, einen ohnehin unbezahlbaren Sozialstaat zu errichten. Auch in Zukunft werden viele, insbesondere alte Menschen sehr bedürftig sein, aber immerhin hat der Staat sie nicht fälschlich in Sicherheit gewogen. Anders als in Japan hat man frühzeitig die Absicherung durch den Arbeitsplatz gekappt. Das hilft, die familiären Bande gar nicht erst zu lockern. Warum soll man nicht, so wie man gleichzeitig pauken und Death Metal hören kann, einen eigenen Weg gehen und dabei den Eltern beistehen?

In China ist immer noch sehr viel von der Postmoderne die Rede. Man kann das mit dem zeitlichen Rückstand erklären, in dem intellektuelle Moden aus dem Westen aufgegriffen werden. Aber in China hat man ein ganz eigenes Verständnis der Postmoderne entwickelt. Während sie im Westen genutzt wurde, um die moderne Homogenität aufzubrechen oder längst bestehende Brüche zu kennzeichnen, ist sie in China das Versprechen, die sich mit der Modernisierung rasant verschärfenden Widersprüche zwischen alt und neu zu begleichen.

In der Architektur hat das für westliche Augen zu äußerst kruden und kitschigen Kombinationen geführt. Repräsentativen Glasbauten wurde ein traditionelles chinesisches Giebeldach aufgesetzt, während ihre Portale, um den imperialen Status auszudrücken, gerne mit antiken Säulen bestückt wurden. Westliche Architekten gebärden sich dagegen als ästhetische Missionare und haben Erfolg damit. Sie profitieren davon, dass man sich mit den repräsentativen Bauten auch der westlichen Welt darstellen und keine Touristen verschrecken will. Außerdem kommt der westliche Minimalismus noch deutlich billiger.

Doch auch wenn sich Chinas Städte äußerlich denen im Westen immer mehr angleichen, werden sie anders bewohnt. Noch immer sind die meisten Chinesen Bauern. Auch in den Großstädten hat sich die kommunistische Partei unter Mao bemüht, durch Wohn- und Arbeitseinheiten ein im Grunde dörfliches Leben zu erhalten. Diese Einheiten lösen sich durch die Privatisierung der Staatsbetriebe zwar immer mehr auf, doch werden weiterhin jeweils mehrere Hochhäuser zu einer ummauerten und bewachten Nachbarschaft, dem Xiaoqu, zusammengefasst. Ihm wird von der Stadtregierung ein spezielles Komitee zugeteilt, das sich um Geburtenkontrolle, Arbeitslose und Alte kümmert. Diesem Komitee arbeitet eine Vielzahl von ehrenamtlichen Helfern zu. Großstädtische Anonymität gibt es nur bedingt.

Im Westen wird eine Verödung des öffentlichen Raums diskutiert, die mit wachsendem Autoverkehr und wachsender Kommerzialisierung einhergeht. In China treffen sich Alte zu Gymnastik, Tanz, Spielen und Plausch vor dem Haus oder im nahegelegenen Park. Auch Orte, die im Westen geradezu Symbole für die Unwirtlichkeit moderner Städte sind, werden lebhaft genutzt. Man musiziert der Akustik wegen noch spät nachts unter einem Fly Over oder hockt sich für den Sonnenuntergang auf die Fußgängerbrücke und spielt Karten. Im Westen fährt man für ähnliche Gruppenerlebnisse extra in den Club-Urlaub, sonst würde man sich schämen.

Beklagt man im Westen den Terror der Intimität, ist damit ein ungefragt auf Fremde zielendes Mitteilen gemeint. In China dagegen nutzt man den öffentlichen Raum privat und ignoriert einfach, dass Fremde zuschauen können. Für Intimität war lange Zeit schlicht kein Platz. Auf dem Land lebt man in Großfamilien, und in den Städten kam noch 1978 auf jede Person durchschnittlich nur 3,6 Quadratmeter Wohnraum. In den Gemeinschaftstoiletten hockte man sich in eine Reihe.

Chinesen leben dicht gedrängt und doch deutlich voneinander getrennt. Während man im Westen nur verhohlen schaut und sich genötigt sieht, helfend einzugreifen, drängt sich in China bei Verkehrsunfällen die Schar der Beobachter bis auf wenige Zentimeter an die Betroffenen heran. Eines Nachts wachte ich davon auf, dass eine Frau laut schrie. Sie hockte auf dem Bürgersteig, während neben ihr zwei Männer auf einen dritten einschlugen — nach einer Weile umringt von stummen Passanten. Im Westen beklagt man die fehlende Zivilcourage, weil Menschen, die eine Notsituation beobachten, einfach davoneilen. In China eilen sie darauf zu und tun dennoch nichts.

Doch solange die meisten Menschen so arm sind, dass sie kein Auto haben und wenig reisen, kann auch in Megastädten ein lokales soziales Gefüge erhalten bleiben. Überall in Peking wurden Gymnastikgeräte aufgestellt, aber es tut auch ein Baum, gegen den man sich hundert Mal prallen lässt. Nicht weil der einzelne so erfindungsreich wäre, sondern weil diese Methode der Körperertüchtigung über die staatlichen Fernsehsender oder lokale Schulungen propagiert wurde.

Trotz ökonomischer Liberalisierung wirkt die Partei auch heute noch bis in kleinste informelle Verästelungen. Und natürlich wird umgekehrt von jeder Parteiebene Rückmeldung an die nächsthöhere gegeben. Es heißt, in China gebe es kein mit der DDR vergleichbares Spitzelsystem — es sei gar nicht nötig. Das bedeutet nicht, dass es unbedingt gefährlich ist, Kritik zu äußern. Einmal erklärte es mir ein Chinese so: Man dürfe sagen, die Partei sei schlecht, aber nicht, dass man sie hasst. Anders gesagt: Man darf die Arbeit der Partei kritisieren, aber nicht ihre Herrschaft in Frage stellen.

Tatsächlich hat kaum jemand, mit dem ich in China gesprochen habe — egal ob mit oder ohne Mikrophon —, diese Grenze überschritten. Auch solche Leute nicht, die sich deutlich für die Meinungsfreiheit aussprachen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass das nur mit Vorsicht zu tun hatte. Einmal fragte ich einen Freund, ob er für die Demokratie in China sei, und er antwortete mir, ich solle einen bestimmten Text von ihm lesen. In dem Text ging es nur darum, daß er trotz aller Zensurbemühungen im Internet eine freie Öffentlichkeit entstehen sehe.

Doch nicht einmal der Wunsch nach Meinungsfreiheit schien mir sehr vehement zu sein. Dafür können sich die urbanen Intellektuellen bereits zuviel erlauben. Während wir aus westlichen Diktaturen gewohnt sind, dass besonders die Intellektuellen unter der Zensur zu leiden haben, sind es in China eher die einfachen Arbeiter und Bauern in den abgelegenen Provinzen. Man stopft nicht den Intellektuellen den Mund, sondern ihrer möglichen Basis. So weiß man in Peking nur vage etwas über die Opfer von Entlassungen, Enteignungen und Umweltverschmutzung.

Unterdessen profitieren die Intellektuellen von Chinas Boom. Entweder sie lassen sich auf die Zensur ein oder sie produzieren kritische Werke, die im Ausland für Furore sorgen und dann als Raubkopien in den chinesischen Handel gelangen. Die Situation in Peking verhält sich entgegengesetzt zu der in Berlin, wie ich sie in meinem Buch Minusvisionen beschreibe: Da hat man alle Freiheiten, aber scheitert daran, die Resultate erfolgreich zu vermarkten. In China dagegen liegen die Freiheiten gerade in der Vermarktung. In Europa platzieren sich Architekten wegen fehlender Aufträge als Künstler, in China wird der Künstler Ai Wei Wei zum autodidaktischen Großarchitekten. Noch ändern sich die Umstände so schnell, dass die Geldgeber oft ähnlich vage Erwartungen und Kriterien haben wie im Westen zur Zeit der New Economy.

In einem solchen Umfeld geht der Regimekritik das persönliche Motiv verloren. Deshalb kann man ihr sogar öffentliche Foren zugestehen, etwa in der Kunst, einem für die Massen viel zu elitären Medium. Auf einem offiziellen Straßenfest und unter freiem Himmel können Gemälde ausgestellt werden, die dekadente Gelage oder einen masturbierenden Hund zeigen — das wäre sogar in Europa schwierig. Die chinesische Regierung haushaltet mit ihre Kräften und schlägt erst dann sicher zu, wenn sich Widerstand organisiert und zu einer Massenbewegung auszuweiten droht. Auf die Weise hat sie es auch ohne Meinungsfreiheit geschafft, die Bedeutung der Intellektuellen so gering wie im Westen zu halten.

Im Westen erwartet man, der wachsenden ökonomischen Freiheit müsse die politische irgendwann unweigerlich folgen; der Totalitarismus habe nur eine Chance, solange das Bürgertum sich noch nicht zahlreich und dauerhaft etabliert habe. Die chinesische Regierung sieht das genauso. Darum hat sie gar nicht erst versucht, in Hongkong ihr rigides System voll durchzusetzen, und auch im restlichen China lässt sie den wirtschaftlich Erfolgreichen viele Freiheiten. Man muss nur in ein Luxusapartment ziehen, um per Satellit internationale Fernsehprogramme zu empfangen, vom Nachbarschaftskomitee nicht mehr belästigt zu werden und ohne größere Schikanen zwei bis drei Kinder zu bekommen. Das ist die Kapitalisierung der Freiheit. Die Partei kontrolliert nur den Alltag der armen Alten, Bauern und Arbeiter — immerhin über eine Milliarde Menschen.

Auch im Westen ist man mit dem Versuch, die gesamte Gesellschaft zu verbürgerlichen, gescheitert und sorgt sich um wachsende Kriminalität und Bandenbildung. In China dagegen kontrollieren sich die Armen noch weitgehend selbst und kommen sogar ohne charismatischen Führer aus; Premier Hu Jintao wirkt wie ein biederer x-beliebiger Parteibürokrat. Er repräsentiert eine isotrope Herrschaft, die sich als Gegengewicht versteht zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land. Nicht die Gesellschaft soll mehr sozialistisch sein, aber die Partei in sich.

Zwar kann im Prinzip jeder Chinese Mitglied in der Partei werden, aber die Bewerbung kann sich über ein ganzes Jahr hinziehen, in dem man regelmäßig über seine sittlichen und intellektuellen Fortschritte Berichte abfassen muss. Dann folgt ein langsamer, jahrzehntelanger Aufstieg. Die Erneuerung der Partei ist ein langwieriger und organischer Prozess. Fünf Prozent aller Chinesen sind Mitglied in der Partei, drei Viertel davon Männer, und sie alle tragen in ihrer Freizeit die unverkennbare Funktionärsuniform, bestehend aus schwarzen Slippern, anthrazitfarbenener Bundfaltenhose, silberner Gürtelschnalle, gedecktem Polohemd und Herrenhandtasche.

Kinder und Enkel der Funktionäre haben den Vorteil, dass sie gar nicht mehr selber in der Partei Karriere machen müssen, sie werden in deren Beziehungsgeflecht hineingeboren. Anders als die Parteikader selbst haben deren Angehörige keinen besonderen Kleidercode und machen von ihrer Herkunft in der Öffentlichkeit keine großen Worte. Wer über gute Beziehungen verfügt, möchte keinen Anstoß bei denen erregen, die auf sich gestellt sind. Man möchte sich als jemand darstellen, der es alleine geschafft hat, und keine politischen Kampagnen gegen die guten Kontakte nähren. Deshalb ist es in China leichter, offen über die Fehler der Partei zu reden als darüber, wie man ein erfolgreiches Unternehmen gegründet hat. Man redet eher darüber, dass man vor zehn Jahren aus politischen Gründen emigrieren musste, als über die hochoffiziöse Arbeit des Vaters. Die Partei ist gleichzeitig Regierungsmacht und Freimaurerloge. Als letztere kann sie auch nach ihrem Sturz noch lange fortbestehen.

Die Einführung der Demokratie garantiert weder einen umfassenden Neubeginn noch einen Rechtsstaat. Kapitalflucht, Separatisten und Streiks könnten nicht mehr so hart bekämpft werden und China könnte dem Niedergang der Sowjetunion folgen. Bei allem wirtschaftlichen Erfolg, den China hat, reicht er doch vielleicht noch bei weitem nicht aus, um sich eine Demokratie leisten zu können. Dieses Verständnis der Demokratie als Luxus widerspricht der westlichen Ideologie des Kalten Krieges, wonach die Demokratie zugleich das humanste und wirtschaftlich erfolgreichste System ist.

Auch im Westen denkt man mit den zunehmenden Möglichkeiten der elektronischen Überwachung, aber spätestens seit dem 11. September darüber nach, inwieweit man für den inneren Frieden nicht nur mit Steuern, sondern auch mit Freiheit zahlen muss. Mit der zunehmenden Globalisierung wird außerdem fraglich, wie lange man die nötigen Steuern überhaupt noch auftreiben kann. Dem einzelnen menschlichen Leben — sei es das eines Junkies, eines Arbeitslosen oder Soldaten — wird ein Wert eingeräumt, der kaum noch bezahlbar ist. Während in China die materiellen Errungenschaften des Westens munter kopiert und weiterentwickelt werden, könnte unter Westlern bald der Fundamentalismus gären. Ihre übergreifende Religion hieße Demokratie.

Über den Autor

Ingo Niermann, geboren 1969, war Stipendiat im Projekt Beijing Case der Kulturstiftung des Bundes in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Peking. Sein nächstes Buch erscheint im September 2006 bei Suhrkamp unter dem Titel Umbauland. Zehn deutsche Visionen. Ingo Niermann lebt in Berlin.

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