Mit der Natur eine Gemeinschaft bilden. Eine Rechtsgemeinschaft, sagen Juristen und Philosophen, die für ein anderes Verständnis von Natur plädieren: nämlich als Rechtssubjekt auf Augenhöhe. Jens Kersten (JK) und Tilo Wesche (TW) entwerfen seine Konturen.
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Jahrhundertelang prägte zumindest in weißen Gesellschaften die Angst vor der Natur das Verhalten von Menschen, und dementsprechend entwickelten sie Techniken ihrer Bezwingung. Jetzt tritt zunehmend die Angst um die Natur an ihre Stelle.
JK Wir sind – vielleicht schon mit der Industrialisierung, aber ganz sicherlich nach dem Zweiten Weltkrieg – in das Anthropozän eingetreten: Die Menschheit ist selbst zu einer Naturgewalt geworden, indem sie die Erde radikal umgestaltet. Dieser Prozess wird vor allem von uns im Globalen Norden angetrieben. Die Verbindung von individueller Selbstverwirklichung und ökonomischer Schubkraft der Wohlstandsgesellschaften hat katastrophale Folgen für das Klima und die Artenvielfalt, von der globalen Vermüllung ganz zu schweigen. Sie beschreiben diesen Wandel als Entwicklung der „Angst vor der Natur“ zu einer „Angst um die Natur“. Doch vielleicht muss man angesichts der ökologischen Entgleisung der Menschheit noch einen Schritt weitergehen: Aus der „Angst um die Natur“ ist längst wieder eine „Angst vor der Natur“ geworden – nur mit dem Unterschied, dass wir Menschen für unsere „Angst vor der Natur“ jetzt selbst verantwortlich sind. Diesem Gedanken weichen wir nicht nur defensiv aus, sondern empfinden ihn als Zumutung. Deshalb lebt vor allem der Globale Norden längst nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“. Ganz im Gegensatz dazu kommt es aber – im wahrsten Sinn des Wortes – darauf an, Dämme gegen die Selbstzerstörung zu bauen, selbst wenn wir keine vollkommene Schubkraftumkehr dieses ökologischen Strukturwandels unserer Erde mehr hinbekommen werden. Bei der Errichtung dieser Dämme gegen die Selbstzerstörung spielt das Recht eine ganz entscheidende Rolle.
Die Angst vor der Natur, wie Sie sie hergeleitet haben, schlägt sich womöglich sogar im Naturschutz-Artikel 20a GG nieder, der erst 1994 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Sie scheint ziemlich tief zu sitzen und dürfte angesichts der klimawandelbedingten Naturkatastrophen nicht weniger werden ...
JK Wenn man sich Art. 20a GG genau anschaut, sieht man tatsächlich, welche Angst der verfassungsändernde Gesetzgeber 1994 vor der Natur hatte. Es hätte für die Regelung dieser Staatszielbestimmung verfassungsrechtlich der erste Halbsatz genügt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere.“ Doch man hat in dem zweiten Halbsatz die „Angstklausel“ hinzugefügt, dass dieser Schutz nur „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ erfolgen soll. Das ist an sich eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit. Dass der verfassungsändernde Gesetzgeber diesen doppelten Verfassungs- und Gesetzesvorbehalt 1994 als Einschränkung des Naturschutzes aber noch einmal ausdrücklich erwähnt, zeigt vor allem eines: Er fürchtete, dass die Natur in unserer Verfassungs- und Rechtsordnung eine zu aktive Rolle spielen könnte. Deshalb wird die Umwelt verfassungsrechtlich sorgsam verpackt und relativiert.
TW Die Angst vor der Natur war immer schon eine starke Antriebskraft für Aufklärung, Wissenschaft und Emanzipation. Die Natur erlebte man als Schicksalsmacht, von deren Launen das eigene Überleben abhing. Kontrolle über die eigenen Überlebensbedingungen zu gewinnen, ist nicht an sich verwerflich. Im Gegenteil stellt sie einen Freiheitsgewinn dar, auf den wir auch heutzutage ungern verzichten. Diese neue Freiheit wurde jedoch zu einem Problem, das die Überlebensfrage im Zeitalter der Erderwärmung neu aufwirft, weil sie als Herrschaft über die Natur gedacht wurde. Der Mensch befreit sich von der Natur, indem er über sie herrscht. Herrschaft über die Natur wird auf drei Arten ausgeübt: Durch Technik wird Natur gezähmt, gesteuert und nachgeahmt, in der Wirtschaft wird die Natur als vermeintlich kostenloses Gut und leistungsloser Gewinn verwertet; und im Recht wird die Natur insbesondere durch das Eigentum an ihr verfügbar gemacht. Diese Herrschaft wird über sie in Gestalt der Willkürfreiheit ausgeübt, der zufolge Naturgüter, wie jede andere Sache, von ihren Eigentümern „nach Belieben“, wie es im § 903 BGB heißt, gebraucht und verbraucht werden dürfen. Eigentumsrechte an Naturgütern werden dabei üblicherweise durch Umweltrechte begrenzt. Diese rechtliche Begrenzung ist aber ein zahnloser Tiger, weil der Naturschutz nicht den gleichen Rang genießt wie die Grundrechte, einschließlich des Grundrechts auf Eigentum (Art. 14 GG). Das Eigentumsrecht sticht den Naturschutz stets aus. Dies ist der Hauptgrund für die ernüchternde Ergebnis und Harmlosigkeit aller bisherigen Bemühungen um den Schutz der Natur. Denken Sie nur an die Auseinandersetzungen im Hambacher Forst und jüngst im Dannenröder Forst oder an die weltweit äußerst gewaltsamen Konflikte zwischen Umweltaktivisten und staatlich flankierten Wirtschaftsinteressen in Lateinamerika, Afrika und Asien.
Das Verhältnis zwischen Menschen und Natur als Rechtsverhältnis zu fassen, ist meines Erachtens dennoch der richtige Weg. Ich denke, dass ohne die Hilfe des Rechts der Naturschutz gegen wirtschaftliche Interessen keine Chance hat. Hier hilft nur die Gleichstellung von Eigentumsrechten und Naturschutz. Beide müssen den gleichen Rang von Grundrechten besitzen. Dieser Gedanke bekommt seinen besonderen Twist erst dadurch, dass Eigentumsrechte hier nicht geschwächt oder gar abgeschafft werden, sondern im Gegenteil erweitert und auf die Natur übertragen werden sollen. Das Eigentumsrecht der Natur ernst nehmen! Übrigens keine Idee, die jenseits politischer Wirklichkeit liegt. In Neuseeland und Kolumbien haben bereits bestimmte Flüsse und Landschaften Eigentumsrechte. Warum also nicht ebenso hier?
Herr Prof. Kersten, reicht Ihnen die grundrechtliche Gleichstellung von Eigentumsrechten und Naturschutz? Müssen wir uns nicht vielmehr von dem paternalistischen Gedanken verabschieden, dass wir die Natur zu „schützen“ haben? Was aber dann?
JK Hier stimme ich Herrn Wesche ausdrücklich zu: Art. 20a GG erzeugt bei den Bürgerinnen und Bürgern nur die beruhigende Illusion, der Schutz von Natur und Tieren sei bei uns angemessen geregelt. Angesichts unserer ökologischen Entgleisung ist das inzwischen eine sehr gefährliche Illusion. Das „Umweltstaatsprinzip“ des Art. 20a GG wird den ökologischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht gerecht. Die Regelung ist in den vergangenen knapp dreißig Jahren juristisch nie wirklich relevant geworden – nicht, weil es keine ökologischen Probleme gäbe, sondern weil der Artikel verfassungsrechtlich schlicht viel zu harmlos ist. Der Schutz der Umwelt wird nur als objektives Prinzip verstanden und kann in der Konkurrenz mit individuellen, sozialen und ökonomischen Interessen politisch und rechtlich einfach aufgewogen werden. Wenn wir vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Eigentum und Natur juristisch in den Blick nehmen, eröffnet sich eine äußerst ambivalente Perspektive: Auf der einen Seite kann es durchaus dazu kommen, dass das Eigentum die Natur in Abwägungen überwiegt und „aussticht“. Auf der anderen Seite beobachten wir aber auch seit den 1980er Jahren – genauer seit dem berühmten Nassauskiesungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Juli 1981 – eine Rechtsentwicklung, die man als die „Ökologisierung der Eigentumsgarantie“ beschreiben kann. Hier kommt zum Ausdruck, dass das Eigentum nach dem Verständnis des Grundgesetzes sich ganz substanziell von anderen Grundrechten – wie beispielsweise der Meinungs- oder der Glaubensfreiheit – dadurch unterscheidet, dass es ein „normgeprägtes Grundrecht“ ist. Das meint, dass der demokratische Gesetzgeber den Inhalt des Eigentums bereits ausgestalten kann – und dies bedeutet eben auch: ökologisch ausgestalten. Eigentum verpflichtet, heißt es im Grundgesetz, und dies bringt nicht nur soziale, sondern heute vor allem auch ökologische Pflichten mit sich. Auf diese Weise lohnt es sich, die Eigentumsgarantie ernst zu nehmen, und durch ihre Übertragung auf die Natur zugleich auch die Möglichkeit substantiell zu erweitern, darüber soziale, ökonomische und ökologische Konflikte zu lösen. Mit Blick auf die Rechte der Natur würde ich persönlich den juristischen Akzent gleichwohl ein klein wenig anders setzen: Wenn wir die Natur als Rechtssubjekt anerkennen, sollte sie auch die ganze Vielfalt ihrer Interessen in unserer Welt wahrnehmen können.
Sie fordern damit nichts weniger als eine ökologische Revolution des Rechts. Worin besteht sie genau?
JK Ja, wir brauchen eine ökologische Revolution des Rechts. Der Grundgedanke dieser Revolution ist ganz einfach, aber gleichwohl weitreichend und durchschlagend: Die Verfassung hat die Natur bisher nur als ein passives Schutzobjekt begriffen, es kommt aber darauf an, dass sie sich als ein aktives Rechtssubjekt in unserer Verfassungsordnung entfalten kann. Dafür erkennen wir Tiere und Pflanzen, Landschaften und Klima als juristische Personen an, die – wie wir selbst – eine Vielfalt von Interessen haben. So können beispielsweise Tiere über ein Recht auf Integrität, Leben und Bewegung verfügen oder mit Blick auf ihr Ökosystem das Recht auf die Unverletzlichkeit ihrer Wohnung geltend machen. Es ist auch keineswegs ausgeschlossen, dass Tiere oder Landschaften wirtschaftlich tätig werden und über Eigentum verfügen, wenn sie beispielsweise ihren eigenen Naturpark betreiben. Schließlich verfügen sie als ökologische Personen über das Recht auf gerichtliches Gehör und vor allem auch auf effektiven Rechtsschutz. Diese ökologische Rechtssubjektivität der Natur ist nur im ersten Moment überraschend. Denn genau diese Regulierungsstrategie der Rechtssubjektivität haben wir – fast möchte man sagen „schon immer“ – mit Blick auf wirtschaftliches Kapital verfolgt, indem wir zum Beispiel Aktiengesellschaften oder GmbHs als juristische Personen rechtlich anerkennen und gesetzlich ausgestalten. Als juristische Personen verfügen sie über subjektive Rechte und insbesondere über Grundrechte (Art. 19 Abs. 3 GG), um ihre Interessen aktiv selbst in der Rechtsordnung verfolgen und durchsetzen zu können. Und genauso wenig wie die Würde des Menschen durch die Anerkennung der subjektiven Rechte und der Grundrechte einer Aktiengesellschaft oder GmbH angegriffen wird, kann sie sich durch die Anerkennung der Rechte ökologischer oder tierlicher Personen in Frage gestellt sehen. Der reflexartige Einwand hiergegen lautet natürlich: Hinter wirtschaftlichen Rechtssubjektiven stehen jedenfalls irgendwo auch Menschen. Doch zum einen bleibt dieser „Human Factor“ im konkreten Fall doch sehr abstrakt, wenn Sie beispielsweise an große Unternehmen, Banken und Finanzdienstleister denken. Zum anderen erkennen wir auch Stiftungen – also reine Vermögensmassen – als juristische Personen an, hinter denen überhaupt keine Person mehr steht. Mit anderen Worten: Die Anerkennung der Rechte der Natur ist kein rationales Problem, sondern eher eine Frage der Gewöhnung. Sie bedeutet keine Einführung einer „Ökodiktatur“, sondern ist schlicht eine Frage der Fairness: Wirtschaftliches Kapital spielt als juristische Person in unserer Rechtsordnung eine aktive Rolle, mit der es seine Interessen bisher oft genug gegenüber der Umwelt durchsetzt. Deshalb ist es nur fair, dass das – wenn Sie so wollen – ökologische Kapital dieser Erde als Rechtssubjekt ebenfalls in unserer Rechtsordnung aktiv werden kann, um seine Interessen wahrzunehmen. In der Rechtspraxis nennt man dies „juristische Waffengleichheit“. Nein, es geht nicht um eine „Ökodiktatur“, sondern ganz im Gegenteil um ökologischen Liberalismus.
Mit der Figur der Natur als Rechtssubjekt wird auch eine lange, für unser (westliches) Weltbild fundamentale philosophische Opposition in Frage gestellt: Der Mensch verstand sich als das Andere der Natur. Man könnte also meinen, dass er im Anthropozän erzwungenermaßen lernt, sich wieder als Teil der Natur zu verstehen. Gegen eine solche „Demut“ spricht meines Erachtens die Projektion vormals genuin menschlicher Fähigkeiten und Entscheidungen auf Technologien und künstliche Intelligenz. Muss da über ganz neue Rechtsansprüche der Natur nachgedacht werden, gegenüber Maschinen und Algorithmen?
TW Das denke ich nicht. Da muss man genauer unterscheiden. Zwar besitzen digitale Technologien und Natur ähnliche Eigendynamiken, kraft derer sie sich von menschlichen Handlungen entkoppeln. Zwischen ihnen besteht jedoch ein grundsätzlicher Unterschied. Technik bedeutet, wie schon der griechische Begriff „techne“ beschreibt, das, was hergestellt und gemacht ist. Auch die entwickeltesten und raffiniertesten Technologien, die beispielsweise für das autonome Fahren eingesetzt werden, sind dennoch Artefakte. Natur hingegen ist, auch darauf verweist schon das griechische Wort „physei“, das Naturwüchsige, das sich selbst hervorbringt und eben im Unterschied zur Technik nicht gemacht oder hergestellt wird. In verschiedener Hinsicht ist der Mensch das Andere der Natur und zugleich auch wiederum nicht das Andere der Natur. Einerseits zeichnet sich der Mensch durch seine Freiheit gegenüber der Natur aus. Im Unterschied zu Tieren und Ökosystemen können Menschen Gründe dafür geben und fordern, welches Leben sie führen wollen und welche gerechten Institutionen errichtet werden sollen. Selbstverständlich ist der Mensch durch seine Körperlichkeit und Abhängigkeit von den natürlichen Lebensgrundlagen mit der Natur untrennbar verbunden. Das Menschsein erschöpft sich jedoch nicht darin, Teil der Natur zu sein. Denn sein Vermögen der Selbstbestimmung macht ihn zugleich zum Anderen der Natur. Wer diesen Unterschied leugnet, läuft Gefahr, entweder den Menschen zu naturalisieren oder die Natur zu anthropomorphisieren. Weder aber lässt sich die menschliche Freiheit mit der Natur verrechnen; der Mensch ist, so der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, nun einmal keine Kartoffel. Noch sollten menschliche Fähigkeiten in die Natur hineinprojiziert werden; über eine bloß bildhafte Bedeutung hinaus besitzt die Natur kein Bedürfnis, keine Interessen, keinen Willen, keine Ziele.
Das würde dann aber heißen, dass sich die Natur als ökologische Person ohne die genannten Eigenschaften und der Mensch als sogenannte natürliche Person, der sie für sich in Anspruch nimmt, nicht auf Augenhöhe begegnen können?
TW An die Stelle der von Ihnen genannten Tradition muss die Einsicht treten, dass der Mensch mit der Natur etwas Gemeinsames teilt. Das Gemeinsame besteht nicht darin, wie der französische Soziologe Bruno Latour meint, dass der Mensch wie jedes Ökosystem Teil eines Gesamt-Netzwerks ist, das Latour in Anschluss an James Lovelock "Gaia" nennt. Vielmehr sind beide Teil eines gemeinsamen Dritten. Und dieses Gemeinsame ist das Recht. Menschenrechte und die Rechte der Natur machen sie zu Mitgliedern derselben Rechtsgemeinschaft, innerhalb derer der Mensch nicht mehr das Andere der Natur ist, sondern beide gleichberechtigte Rechtssubjekte sind. Darin zeigt sich meines Erachtens die Cohabitation von Mensch und Natur. Und das hat entscheidende Konsequenzen für unseren Umgang mit der Natur.
Welche Voraussetzungen müssten denn gegeben sein, damit Menschen eine Cohabitation mit der Natur anstreben? Kann man da auf Empathie setzen, wie das am ehesten im Bereich von subjektiven Tierrechten vorstellbar ist?
TW Das ist eine sehr wichtige Frage! Eine Interessensethik, die auf die Empathiefähigkeit von Menschen setzt, ist sicherlich verdienstvoll, aber führt nicht weit. Denn die eine Person findet die Natur erhaben, die andere nur staubig; eine ist für das Leiden von Tieren empfänglich, die andere nicht. Weil die Empathiefähigkeit keine generalisierbare Eigenschaft von Menschen ist, kann sie den Rechten der Natur auch keine verbindliche Geltung verschaffen, die von jeder Person zu achten erwartet werden darf. Wir machen ja auch nicht die Geltung von Menschenrechten davon abhängig, ob jemand Empathie für andere Menschen besitzt. Vielversprechender ist der Versuch, die Rechte der Natur aus der Rationalität geltenden Rechts herzuleiten, denn dann wird mit den Rechten der Natur lediglich ausdrücklich gemacht, was im bestehenden Recht bereits anerkannt wird. Die Natur kann als Rechtssubjekt anerkannt werden, nicht aber als moralische oder ethische Person. Ökosysteme wie Landschaften, Flüsse oder Wälder besitzen keine moralischen Ansprüche auf Freiheit oder ethische Ansprüche auf ein gutes Leben, weil sie keine handlungsfähigen Wesen sind. Durch die Erderwärmung, die Vermüllung und das Artensterben werden nicht moralische Normen oder ethische Werte verletzt, sondern die Rechte der Natur.
Als gleichberechtigtes Rechtssubjekt hätte die Natur nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Wie soll man sich die im Falle von Flüssen oder Mopsfledermäusen vorstellen?
JK Selbstverständlich kann die Anerkennung der Rechte der Natur mit der Pflicht von ökologischen und tierlichen Personen einhergehen, umweltrechtliche Standards und Regelungen einzuhalten. Ein Fluss wäre als ökologische Person verpflichtet, dem deutschen und europäischen Wasserrecht zu genügen. Auch könnten die von Ihnen angesprochenen Mopsfledermäuse durchaus rechtliche Verantwortung für die Funktionsfähigkeit ihres Ökosystems übernehmen, wenn dieses durch menschliche Eingriffe gefährdet sein sollte. Sie können in diesem Fall auf Unterlassung klagen. Auch dies ist aus juristischer Perspektive wiederum keine Besonderheit. So sind ja auch wirtschaftliche Rechtssubjekte zum Beispiel gesetzlich verpflichtet, Bilanzen zu führen oder Korruption zu bekämpfen; und sollten ökologische und tierliche Personen beispielsweise bei der Führung ihres Naturparks einen wirtschaftlichen Gewinn erzielen, könnte dieser genauso wie bei einem Wirtschaftsunternehmen besteuert werden. Das wirft keine rechtlichen Probleme auf, sondern ist – wie gesagt – bisher nur ungewohnt.
Herr Prof. Wesche, Sie haben vorhin schon darauf hingewiesen: In den Verfassungen einiger lateinamerikanischer Länder wie Ecuador oder Kolumbien ist Pacha Mama („Mutter Erde“) bereits als ein Rechtssubjekt verankert. Jeder Bürger hat das Recht, vom Staat die Erhaltung und Wiederherstellung der Natur zu verlangen. Können die entsprechenden Passus als Vorbild für Verfassungsänderungen in der westlichen Welt dienen?
TW Ja und nein. Von den verfassungsmäßigen Garantien der Naturrechte in Lateinamerika lässt sich zweierlei lernen: zum einen schlicht die Tatsache, dass die Rechtssubjektivität der Natur in Verfassungsrecht gegossen werden kann; zum anderen eine bestimmte Naturvorstellung über den Zusammenhang, der zwischen der Wertschöpfung der Natur und ihren Rechten besteht. Die Kultur der Pacha Mama stützt sich auf die Vorstellung von der Fruchtbarkeit der Erde und damit von der Wertschöpfung der Natur für das gute Leben („buen vivir“). Naturgüter verdienen demnach einen Schutz, weil mit ihnen ein Beitrag zur Wertschöpfung für die Menschen geleistet wird. Sie erbringen sogenannte Ökosystemdienstleistungen wie Bestäubung von Pflanzen, Filterung von Wasser, Regulierung von Erosion, Stabilisierung des Wetters, Bildung von Humus, das Bereitstellen von medizinischen Substanzen, Energieträgern und Baustoffen etc. Naturgüter sind deshalb keine wertlosen Sachen, die ohne jede Gegenleistung von Menschen nutzbar gemacht werden dürfen. Wer sie nutzt, verpflichtet sich zugleich zur Nachhaltigkeit ihrer Nutzung. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Das letztlich religiöse Konzept der Pacha Mama lässt sich nicht auf die säkularen Verfassungen westlicher Staaten übertragen. Ihre Geltung hängt von einer Glaubensgewissheit ab und beschränkt sich insoweit auf eine bestimmte Religionsgemeinschaft. Wer deren Glauben nicht teilt, müsste die Rechte der Natur nicht als verbindlich anerkennen. Es bedarf deshalb einer säkularen Begründung der Naturrechte, deren Anerkennung jeder Person unabhängig von ihren Überzeugungen zugemutet werden kann. Ich sehe darin allerdings überhaupt kein Problem, denn die Rechte der Natur können ohne weiteres auf Basis einer Vorstellung von Wertschöpfung begründet werden.
Bereits 1996, also zwei Jahre nach der Aufnahme des Art. 20a ins Grundgesetz, sollte der Ökozid neben Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression in das römische Statut des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag als fünftes Verbrechen gegen den Frieden aufgenommen werden. Das ist bisher gescheitert. In Frankreich setzt sich neuerdings Staatspräsident Macron dafür ein, auf nationaler Ebene Ökozid unter Strafe zu stellen und darüber in einem Referendum abstimmen zu lassen. Haben (National-)Staaten die Pflicht, den Klimawandel zu stoppen?
TW Das denke ich schon! Aber es kommt darauf an, wie sich eine solche Pflicht begründen lässt. Die Herausforderung besteht darin, die Eigentumsrechte mit dem Naturschutz in Einklang zu bringen. Die Begründung könnte dann wie folgt lauten: Eigentum wird gemeinhin als das Recht auf das Eigentum an den Erträgen einer Leistung begründet; wer einen Beitrag zur Wertschöpfung leistet, dem gehört auch der entsprechende Anteil daran. Nun ist die Natur mit ihren Ökosystemdienstleistungen selbst eine Quelle der Wertschöpfung. Deshalb verdient auch sie ein Recht auf das Eigentum an ihren Ressourcen; dies entspricht übrigens der Rechtsprechung in Neuseeland, wo der Whanganui River sich selbst gehört. Das bedeutet, dass mit der Nutzung von natürlichen Ressourcen zugleich auch fremdes Eigentum, das der Natur gehört, genutzt wird. Der Eigentumsschutz gebietet, dass fremdes Eigentum weder zerstört noch beschädigt werden darf; er verpflichtet mit anderen Worten zum nachhaltigen Umgang mit fremdem Eigentum. Wer Naturgüter nutzt, ist deshalb zum Naturschutz verpflichtet. Die Pflicht zum Naturschutz wohnt also dem geltenden Eigentumsrecht selbst inne. Um sie zu begründen, brauchen die Verteidiger freiheitlichen Eigentums deshalb von nichts anderem überzeugt zu werden, als sich von ihren eigenen Lippen ablesen lässt.
Die Fragen stellte Friederike Tappe-Hornbostel.