Wenn man denn der Pandemie überhaupt etwas Positives abgewinnen kann, dann wohl dies: Wir haben so manche Wahrnehmungen und Erfahrungen, die vorher selbstverständlich erschienen, neu oder überhaupt erst schätzen gelernt. Wir ahnten nicht einmal, was und wie sehr wir sie vermissen würden. Den Small Talk mit Gästen und Kellnern im Stammcafé, das Livekonzert, den Sport, die Theateraufführungen, das Schlendern in Kaufhäusern, die Kolleginnen im Büro, die Kantinenatmosphäre usw. Die Pandemie ist – als Versuchsanordnung betrachtet – ein großes soziales Experiment, das Schmerzgrenzen auslotet: Wie viel soziale Isolation ist zumutbar, wie wenig Zusammensein aushaltbar? Wie viel Nähe ist in der längerfristigen Kombination von Homeoffice und Homeschooling erträglich, wie viel Distanz unabdingbar? Wie haben sich unsere Vorstellungen, wie sich die gesellschaftlichen Anforderungen an das Zusammenleben verändert?
Nicht weil wir mit dem Thema „Cohabitation“ dem Pandemie-Glossar ein weiteres Fremdwort, ausnahmsweise ein französisches, hinzufügen wollten, sondern um der spezifischen Bedeutung willen, die der Begriff im französischen Sprachraum transportiert, haben wir ihm den Vorzug vor dem deutschen „Zusammenleben“ gegeben: Von „Cohabitation“ spricht man, wenn Präsident und Mehrheitsfraktion im Parlament unterschiedlichen politischen Lagern angehören. Soll also ein friedliches und konstruktives Miteinander von Menschen divergenter Orientierungen oder Überzeugungen gelingen, ist dies eine weitaus größere Herausforderung als das Zusammenleben unter seinesgleichen.
Vor diesem Hintergrund geht es im aktuellen Heft um einen Ausblick auf Cohabitationen, die wenig bedacht oder (noch) fast aussichtslos erscheinen. Wie zum Beispiel kann die Cohabitation zwischen Mensch und Natur funktionieren (Jens Kersten / Tilo Wesche (öffnet neues Fenster)) oder wie jene zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz (Catrin Misselhorn), wenn man sie sich nicht als Unterwerfungsverhältnisse vorstellt? Wo durchdringen sich die Lebensräume von Menschen und (Wild-)Tieren in der Stadt und inwiefern braucht es einen Interessenausgleich zwischen ihnen (Sunaura Taylor (öffnet neues Fenster))? Können wir das Lebensgefühl von Bäumen in Wäldern imaginieren und etwas über das vegetative Gesellschaftssystem lernen, um unsere Möglichkeiten zum Zusammenleben besser zu verstehen (Sumana Roy (öffnet neues Fenster))? Wie kann nicht nur ein Neben-, sondern ein Miteinander von unterschiedlichen Erinnerungskulturen ohne Opferkonkurrenzen funktionieren? (Mirjam Zadoff (öffnet neues Fenster); Manuela Bauche (öffnet neues Fenster))
Alles Nachdenken über Cohabitation und ihre Bedingungen führt in ganz unterschiedlichen Bereichen zu denselben grundlegenden Fragen: Können wir uns in das jeweilige Gegenüber, den Anderen so weit hineinversetzen, dass wir es verstehen bzw. er/sie sich verstanden fühlt? Woran erkennen wir einen gelungenen Perspektivwechsel? Der Begriff Empathie hat im Zusammenhang der Frage nach Cohabitation in Zeiten zunehmender Spaltungen und größer werdender Gräben eine erstaunliche Karriere gemacht. Wo bisher Achtung oder Respekt gefordert wurde, wird aktuell vornehmlich an die Empathiefähigkeit appelliert. Empathie soll den Perspektivwechsel garantieren und damit eine bessere Grundlage für den Interessenausgleich und die wechselseitige Anerkennung bieten. Im Gegenzug wird von vielen Vertreterinnen von Minderheiten, denen Empathien aus der Mehrheitsgesellschaft zugutekommen sollten, genau das bezweifelt, wenn nicht gar als Anmaßung diskreditiert: dass es möglich sei, sich in die Lage, die Erfahrungen, die Gefühle anderer hineinzuversetzen. Die Philosophen David Lauer (öffnet neues Fenster) und Christian Nyampeta (öffnet neues Fenster) versuchen zu Beginn des Heftes eine Klärung. Interessant ist, dass beiden Autoren zum Stichwort „Empathie“ spontan und unabhängig voneinander der 45. Präsident der Vereinigten Staaten als die Inkarnation eines empathieunfähigen Menschen in den Sinn kam. Aber so einfach machen es sich die Autoren nicht, dass sie Empathie als moralisches Allheilmittel einer gespaltenen Gesellschaft feiern. Die Sache mit der Empathie, einer der ältesten Ideen und Wunschvorstellungen der Menschheitsgeschichte, ist eine ziemlich vertrackte Angelegenheit.
Wir wollen die Bildstrecke im Magazin nach Möglichkeit jedes Mal ein wenig anders gestalten, ein wenig überraschen. Indem diesmal das sonst innenliegende Plakat als Umschlag fungiert und es Tiere versammelt, die allenfalls in der Kunst, aber niemals in der Natur „cohabitieren“ würden, ist für Ungewohntes gesorgt. Dass die Wahl des Künstlers für die Bildstrecke auf Theo Deutinger fiel, hat nicht allein mit dem Thema und der Besonderheit seines künstlerischen Ansatzes zu tun: Der österreichische Architekt und Künstler ist an der Ausstellung Cohabitation (öffnet neues Fenster) im Berliner silent green Kulturquartier beteiligt; eine Ausstellung, der wir viel Inspiration für dieses Heft verdanken; eine Ausstellung, die Marion von Osten – eine langjährige Wegbegleiterin der Stiftung – konzipiert und dafür seinerzeit Theo Deutinger eingeladen hat. Bevor die Ausstellung eröffnet werden kann, ist Marion von Osten gestorben. Sie fehlt uns. Dieses Heft erinnert an sie.