In der Erfahrung von Krisen wird Solidarität gern als politisches Allheilmittel beschworen — auch in der Anfangsphase der Corona-Pandemie. Eine Hoffnung, analysiert Vincent August, die nicht ausreicht, um die Herausforderungen unserer widerspruchsvollen Lebensverhältnisse zu bewältigen.
Das Versprechen der Solidarität
Die Hoffnung auf eine solidarischere Gesellschaft gehört zum Kernbestand moderner Gesellschaften. Diese sind durch einen hohen Grad an Ungewissheit, Individualismus und Ungleichheit charakterisiert. Solidarität hält dagegen das Versprechen aufrecht, dass gegenseitige Hilfe, soziale Gemeinschaft und der Kampf für das moralisch Richtige zusammen verwirklicht und damit die Fehlentwicklungen einer kapitalistischen Moderne kompensiert werden können.
Als Folge des viel besprochenen Strukturwandels seit den 1970er Jahren hat dieses Versprechen eine neue Aktualität gewonnen: Finanzkrise, die sogenannte Flüchtlingskrise, der Brexit, die gesellschaftliche Zerrissenheit der USA, die sich durch die Wahl Donald Trumps weiter verschärft, und der Aufstieg des Populismus haben den Eindruck hinterlassen, die Gesellschaft zerfalle in Arme und Reiche, Stadt und Land, Modernisierungsgewinner und -verlierer. Infolgedessen erlebte der Ruf nach Solidarität eine neue Blütezeit, aber erst Corona schien aus der Utopie eine greifbare Möglichkeit zu machen.
Die Pandemie hat diese Perspektive geöffnet, weil sie zunächst Solidarität erfahrbar machte. Diese beruft sich nämlich auf das Mitleid mit anderen Menschen und aktiviert so ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Aus diesem Mit-Gefühl leitet Solidarität eine moralische Pflicht gegenüber der Gemeinschaft ab. Auf diese Weise schaffte Solidarität die paradoxe Verbindung von Nähe und Distanz: Gerade weil der Virus potenziell jede und jeden treffen kann, konnten wir uns so gut in die Sorgen der anderen hineinversetzen und verstanden den moralischen Imperativ, der daraus resultierte: #stayathome, #Maskenpflicht.
Die zwei Seiten der Macht
Die Kraft der Solidarität besteht also in kollektiver Moralität: Wir ändern unser Verhalten aus dem guten Gefühl heraus, dass man gemeinsam für die moralisch richtige Sache eintritt. Diese Form gesellschaftlicher Selbstorganisation entlastete in der Pandemie den demokratischen Rechtsstaat. Hätte er allein versuchen müssen, das Verhalten der Menschen so umzuprogrammieren, dass sie ihr gesamtes Leben auf den Schutz der Gesundheit anderer reduzieren, dann hätte er seine Ressourcen an Zwang und Geld überzogen und die Loyalität seiner Bürgerinnen verloren. Die große Solidarität der ersten Pandemie-Wochen war daher ein Glücksfall — für die Eindämmung des Virus und für die Demokratie.
Allerdings kommt auch die Verhaltenssteuerung durch Solidarität zu einem Preis. Denn Solidaritätsforderungen berufen sich auf eine moralische Pflicht, die im Grunde kein abweichendes Verhalten zulässt. Die Einhaltung des solidarischen Imperativs wird von der imaginierten Gemeinschaft kontrolliert und dabei prämiert sie die, die sich besonders verdient gemacht haben, während delinquentes Verhalten geächtet und sanktioniert wird. So erinnern wir uns nicht nur an Lob und Applaus für neue Heldinnen und Nachbarschaftshelfer, sondern auch an Berichte über laute Streitereien um den Mindestabstand, Angriffe auf Autos mit auswärtigen Kennzeichen und Denunziation.
Der Soziologe Richard Sennett hat dies die „perverse Macht der Solidarität“ genannt. Sie lege einen moralischen Maßstab fest, definiere darüber, wer zur eigenen Gruppe gehört, und schließe das Fremde aus, ja bekämpfe sogar aktiv andere Lebensentwürfe. Diese Tendenz zu Homogenisierung, Ab- und Ausschluss ist für ihn die Kehrseite des solidarischen Versprechens, eine sozial-moralische Einheit zu stiften. Allzu oft hatte es dazu geführt, Nationalismen zu stärken, für fremdes Leid blind zu bleiben und unliebsame Mitmenschen zu stigmatisieren. Auch das ist in der Pandemie bereits geschehen.
Solidaritätsdilemmata
Die Präferenz für eine einheitliche Gemeinschaft oder einen solidarischen Imperativ krankt aber noch an einem anderen Problem: In modernen Gesellschaften können eine Vielzahl von berechtigten Solidaritätsforderungen aufeinandertreffen, die in Widerspruch geraten oder sich gar gegenseitig ausschließen. Dies war etwa der Fall, als sich am 6. Juni 2020 Zehntausende in Berlin und München zusammendrängten, um ihre Solidarität mit der Black-Lives-Matter- Bewegung zu zeigen. Die Demonstrationen, die fraglos größte Unterstützung verdienen, erzeugten aber auch bei vielen Unterstützern ein mulmiges Gefühl, weil die antirassistische Solidarität jetzt mit der Corona-Solidarität kollidierte.
Ein ähnliches Phänomen konnte man schon in der sogenannten Flüchtlingskrise beobachten: Die humanitäre Solidarität, die moralisch zur unbeschränkten Aufnahme der Menschen verpflichtet, stieß auf die Solidaritätsforderungen prekarisierter Menschen unserer Gesellschaft. Vor allem linke Parteien manövrierten in ein Dilemma, weil sie für internationale und nationale Solidarität zugleich stehen. Was zählt nun mehr? Und wie lässt sich das überhaupt entscheiden, wenn Solidarität doch eine moralische Pflicht ist, der man nicht durch Nützlichkeitserwägungen entgehen kann?
Diese Art der Solidaritätsdilemmata haben sich in der Spätmoderne vervielfacht. Dies liegt einerseits daran, dass der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft alte Allianzen und Milieus aufgelöst und neue Konfliktlinien geschaffen hat. Andererseits zeitigt die westliche Modernisierung Spätfolgen, die sich inzwischen kaum mehr ignorieren lassen, etwa den Klimawandel oder strukturellen Rassismus. Immer wieder werden daher neue Solidaritätsforderungen mit stehenden Solidaritätserwartungen in Konflikt geraten und man muss davon ausgehen, dass lange gewachsene Solidarverpflichtungen hier oft den Vorzug erhalten werden.
Latente Konflikte
Die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit moderner Demokratien haben auch einen entscheidenden Anteil daran, dass gesamtgesellschaftliche Solidarität oft von kurzer Dauer ist. In der ersten Welle der Pandemie sank nach nur wenigen Wochen die Bereitschaft der Menschen zu Abstand und Kontaktreduktion. Auch beim Mund-Nasen- Schutz gab es zunächst große Akzeptanz und viel Eigeninitiative. Aber auch dieser Konsens ließ nach und an die Stelle zivilgesellschaftlicher Selbstkontrolle trat immer stärker das rechtsstaatliche Gewaltmonopol in Form von Bußgeldern.
Diese Entwicklung ist im Grunde nicht überraschend. Zum einen haben wir die vielfältigen Anforderungen und Möglichkeiten moderner Gesellschaften derart verinnerlicht, dass wir sie zwar kurzzeitig pausieren, aber nicht langfristig aufgeben würden. Dazu kommt, dass Solidarität eine hochgradig emotionale Sozialform ist. Sie beruht darauf, dass das Mitgefühl mit anderen tatsächlich so stark wahrgenommen wird, dass man das Verhalten danach ausrichtet. Eine derartig hohe Emotionalität erschöpft auf Dauer. Es kommt gewissermaßen zum Solidaritäts-Burn-out; man erreicht eine neue Indifferenz und widmet sich anderen Themen.
Infolge dieser Dynamiken verblasst das gesamtgesellschaftliche Solidaritätsgefühl. An seine Stelle treten alte und neue Konflikte, die zwischenzeitlich weitgehend suspendiert waren: Ältere sind eher für stärkere Einschränkungen, Jüngere eher dagegen; Menschen mit Kindern sind tendenziell eher für eine schnelle Öffnung der Schulen, Menschen ohne Kinder eher dagegen. Hier kann zwar jede Seite Solidarität einfordern, behoben werden die Konflikte dadurch aber nicht — sondern eher verschärft. Wenn jede Gruppe glaubt, moralisch im Recht zu sein, stärkt das zwar deren Zusammenhalt, aber auch die Frontstellungen. Damit haben Demokratien in den letzten Jahren vermehrt zu kämpfen.
Eine neue Konfliktkultur
Letztlich wird von der kurzen Konjunktur der Solidarität in Corona-Zeiten daher keine nachhaltige Wende zu einer solidarischen Gesellschaft zu erwarten sein. Aber auch die hohen Erwartungen an Solidarität bekommen einen Dämpfer: Ob sie die richtige, ja eine machbare Antwort auf die wahrgenommenen Zerfalls- und Spaltungstendenzen spätmoderner Gesellschaften ist, erscheint auf einmal fraglich. Mit Blick auf die kommenden Konflikte wird die Herausforderung der Zukunft eher darin liegen, eine neue Konfliktkultur zu (er-)finden.
Dabei muss der soziale Zusammenhalt nicht auf der Strecke bleiben. Neben Solidarität kennen politische Theorie und Konfliktsoziologie nämlich noch eine andere Variante, um Gemeinsinn zu stiften: die Integration durch Konflikt. Soziale Kohäsion beruht hier darauf, dass sich im Ringen um die Gestaltung der Gesellschaft gegenseitiges Vertrauen aufbauen kann, selbst wenn das Gegenüber anderer Meinung ist (und womöglich bleibt) — eine Idee, die man sich auch in der Diplomatie zunutze macht. Hier weiß man darum, dass belastbare Beziehungen im Verlauf der Konfliktaustragung entstehen können.
Dass Konflikte eine integrative Kraft entfalten, ist aber voraussetzungsreich. Zum einen müssen die Menschen bereit sein, die eigene Position selbstbewusst zu vertreten, während sie zugleich aktiv zuhören und sich selbst und allen anderen Positionswechsel zugestehen. Zum anderen bräuchte die Demokratie auch neue Institutionen, in denen Konflikte um eine gemeinsame Sache ausgetragen werden können — etwa Bürgergremien, in denen Bürgerinnen Entscheidungen aushandeln können und müssen, statt sie nur an Repräsentanten zu delegieren. Diese Foren bieten die Bühne für die Pluralität der Positionen, sie fordern eigenverantwortliches (Ver-)Handeln und sensibilisieren so auch für die immensen Anforderungen professioneller Politik. Eine neue Konfliktkultur bindet die Menschen auf diese Weise in eine gemeinsame Praxis von Konflikt, Dialog und Kompromissbildung ein. Daher müsste sie sich nicht auf einen langfristig vorhandenen Moralkonsens verlassen, der für moderne Gesellschaften eher unwahrscheinlich ist. Und sie würde auch nicht darauf setzen, dass sich die Widersprüche der Interessen und Lebensformen in den Demokratien per Volksentscheid aufheben lassen. Stattdessen rechnet sie die Vielfältigkeit und Konflikthaftigkeit der spätmodernen Gesellschaft ein und entwickelt von hieraus Ideen für sozialen Zusammenhalt und demokratische Reform.
Solidarität kann in einer solchen Konfliktkultur wichtige Diskussionen über Ungerechtigkeiten anregen; sie kann sie aber auch blockieren, wenn man nicht bereit ist, sich auf die Pluralität der Perspektiven und die notwendige Kleinteiligkeit des politischen Prozesses einzulassen. Die coronare Solidarität sollte uns aber als ein Beispiel für kollektive Handlungsfähigkeit in Erinnerung bleiben. Denn es droht wieder einmal die Gefahr, dass Staatsschulden zum Argument werden, um den demokratischen Handlungsspielraum einzuengen. Wenn man aber die politische Selbstgestaltung in den Kommunen oder die versprochene faire Bezahlung auf Dauer versagt, setzt man das Vertrauen in die Demokratie aufs Spiel.