Keren Cytter hat keine Lust auf moralische Imperative, die Unantastbarkeit statt Auseinandersetzung befördern. Doch plötzlich findet sie sich in ihren eigenen Tagträumen als unerschrockene Gerechtigkeitskämpferin wieder. Eine Kurzgeschichte zu Hedonismus und politischer Verlässlichkeit.

 

Die beiden inmitten der Pandemie in den sozialen Medien wohl am häufigsten gebrauchten Pronomen waren die beichtende erste Person Plural und die imperative zweite Person — die einfachste Art, um sich unverbindlich, und ohne Verantwortung übernehmen zu müssen, zu äußern. Eingeschränktes und starres Vokabular hat eine Welt der cholerischen Befehle, kollektiven Beichten, Vorwürfe und unwidersprochenen Schlussfolgerungen erschaffen. Glücklicherweise gab es keinerlei widersprüchliche Instruktionen, die mich hätten verwirren können. Alle, denen ich folge, scheinen dieselben Dinge zu denken und weiterzuleiten.

Einst war die Welt ein Theater und das Publikum bemüht, die Handlung zu verstehen, jetzt ist der Zuschauer selber Performer und die Welt um ihn herum versucht, seinen nächsten Schritten zu folgen. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich Recht habe und die anderen Unrecht, deswegen hatte ich nie das Bedürfnis, im Plural zu sprechen. Zu Beginn der Pandemie reagierte ich ungläubig auf die fast einhellige Entscheidung der Länder, die Grenzen dicht zu machen und ihre Bewohner zu zwingen, die Geschäfte zu schließen und sich in Quarantäne zu begeben. Niemals hätte ich geglaubt, dass die Linken geschlossenen Grenzen zustimmen und sich bereit erklären würden, die ‚Entwicklungsländer‘ dem Zusammenbruch und Verhungern zu überlassen. Ebenso wenig glaubte ich, dass die Rechten den wirtschaftlichen Abstieg stillschweigend in Kauf nehmen würden, erst recht nicht auf Dauer.

Zu Beginn der Pandemie blieb meine Lebensweise unangetastet. Ich habe die letzten zwanzig Jahre weitgehend zu Hause verbracht und geschrieben und gezeichnet. Meine unmittelbare Umgebung besteht aus meiner Katze und dem Telefon. Meine Hausschuhe sind schneller abgetragen als meine Sneakers. All meine Ausstellungen waren für das Jahresende geplant. Aber welchen Sinn haben eigentlich Ausstellungen, wenn alle von der Realität geplagt sind? Als dann die transatlantischen Flüge gestrichen wurden und die Europäische Union Reisende aus den USA abwies, wich meine Überheblichkeit der Sorge: Bin ich die Einzige, die denkt, dass die Welt zerbrechlich ist? Ich hatte im April von New York nach Berlin reisen und dort den Sommer verbringen wollen. Stattdessen musste ich nun in den USA bleiben.

Jackson Heights in Queens ist die diverseste Gegend der USA. Ich habe wahnsinnig gern dort gelebt und mir mit zwei Mitbewohnern eine Wohnung geteilt — einem Kolumbianer, einem aus der Dominikanischen Republik. Der Kolumbianer hat nicht an die Existenz des Virus geglaubt, es aber trotzdem gefürchtet. An seiner Maske war ein Luftfilter aus Plastik angebracht, was er damit begründete, dass wir in Queens wohnten — der Gegend mit der höchsten Zahl an Coronavirus-Infizierten in New York. Sobald meine Mitbewohner mit Maske und Handschuhen ihre notwendigen Besorgungen erledigt hatten, rannten sie bei ihrer Rückkehr direkt ins Bad und wuschen sich die Hände, wobei sie die zweiundzwanzig Sekunden durch Singen überbrückten.

New York ist die Stadt mit den weltweit meisten Millionären. Viele meiner Freundinnen und Freunde leben noch auf Kosten ihrer Eltern — Intellektuelle in den Dreißigern, voller Romantik, Ideale und Schuldgefühle, die sich jedem politischen Phänomen verschreiben. Am 1. Mai zogen sie in Zweiergruppen los und wurden zu Säulen der Black-Lives-Matter-Demonstrationen. Ihr Mangel an finanziellem Druck oder Selbstdisziplin ermöglichte ihnen performative Gesten in den sozialen Medien. Ihr Selbstbewusstsein stieg reziprok proportional zu ihrer Selbstkritik. (Kann Selbstbewusstsein wirklich ohne Selbstkritik existieren? Oder sind die performativen Gesten in Wahrheit dazu da, große Unsicherheit zu überdecken?) Ihre Posts, die aus durch Wut gesteigerten weitergeleiteten zweite-Person- Imperativen bestanden, wiesen jedes Gegenargument, egal in welcher Form, automatisch als unmoralisch zurück. Wäre ich eine Fremde gewesen, hätte ich sie als Propheten des Zorns oder als Intellektuelle mit sozialem Einfluss und weitreichenden politischen Verbindungen wahrgenommen (letzteres mag tatsächlich stimmen). Doch da ich sie als sanfte, hedonistische und umgängliche Menschen kenne, erinnerte mich ihr Verhalten in den sozialen Medien an Wutausbrüche großer Kleinkinder.

Ich habe die Vereinigten Staaten am ersten Tag der Black-Lives-Matter-Demonstrationen verlassen und bin zu meinen Eltern nach Netanja in Israel umgezogen. Eine weise Entscheidung — meine Eltern haben jeden Tag gekocht, meine Kleidung für mich gewaschen und mich zu Besuchen bei meiner Schwester, meinen Nichten und meinem Neffen gefahren. Ihre Wohnung am Meer hat mir beim Sonnenbräunen geholfen und meine finanziellen Ausgaben heruntergefahren. Ich dachte, ich hätte keine andere Wahl mehr, als alle Aktivitäten einzustellen und öffentliche Transportmittel zu meiden, bis die Anzahl der Infizierten sinken und die Grenzen wieder geöffnet würden. Dann könnte ich wieder an meine Pläne für einen Europabesuch denken.

Die sozialen Medien in Verbindung mit der Isolation haben die Kluft zwischen nicht-physischer Anwesenheit der User und der Utilisierung ihrer Körper als politische Performer verschärft. Die Trennung von Gruppen mit Personen unterschiedlicher Herkunft hat sich in gewisser Hinsicht sogar verstärkt, weil die Forderung nach übergeordneten und quasi unerreichbaren Prinzipien durch strikte Definitionen in Hinsicht auf Ethnie, Geschlecht und Gender eine Spaltung hervorgerufen hat, die die Möglichkeit des Erreichens ebendieser Prinzipien fraglich werden lässt.

Nach einer Weile löschte ich das begeisterte und belanglose Geschwätz zugunsten des Allgemeinwohls aus meinem Kopf und schloss mich dem aktuellen Kampf für Gerechtigkeit an. Ich malte mir aus, wie ich Bekannten, Freundinnen und Fremden wütende Vorträge hielt und meine Tugenden pries, bis sie, von meinem großen Gerechtigkeitssinn überwältigt, mir dafür dankten, ihnen den rechten Weg gezeigt zu haben. Beruflich wusste ich nicht, was ich tun sollte — wie sollte das nächste Buch aussehen? —, auch wusste ich nicht, wie dieser Text zu schreiben wäre. Kunst schien in diesen außergewöhnlichen Zeiten nicht benötigt zu werden. Jede andere Stimme als die der Autorität schien irrelevant. Wenn ich den Mut aufbrächte, mich mit irgendetwas anderem als sozialer Gerechtigkeit zu befassen, würde das als Sünde aufgefasst werden.

Ich saß vor dem Computer und wollte schreiben und bevor ich eine neue Seite öffnen konnte, musste ich husten. Warum hustete ich? Ich hatte etwas im Hals. Ich hustete wieder, aber das machte mir nur noch bewusster, dass mir etwas im Hals steckte. Ich hustete noch mehr. Und dann wurde mir klar, dass dies meine letzten Worte waren. Trauer um meine Eltern, mein Leben und über meinen frühzeitigen Tod überkam mich. Ich stellte mir vor, dass einer meiner Freunde meine Moral anzweifeln würde (oder vielleicht fand ich in seinen Taten einen Fehler?) und begann mir auszudenken, wie ich ihm einen Vorwurf machen konnte. Ich suchte einen wütenden Eröffnungssatz aus und fügte „und um ehrlich zu sein ...“ hinzu, aber bevor ich weitermachen konnte, überkam mich Ehrlichkeit, bohrte sich gnadenlos in mich hinein wie eine Krankheit. Ich hustete wieder, lief halb erstickend rot an, oder vielleicht vor Scham? Die Befehle verlängerten sich zu Erklärungen, die Entschuldigungen wurden zu Geständnissen und dann wieder zu Entschuldigungen und der tödliche Husten wurde zu einem verlegenen. Ich wusste nicht, ob ich meine Stimme verloren oder gefunden hatte, aber ich schrieb ruhig und zuversichtlich weiter, ausführlich, ohne Autorität und in der ersten Person Singular.

Aus dem Englischen Karen Witthun

Keren Cytter

Die israelische Künstlerin Keren Cytter thematisiert in ihren Arbeiten das Zusammenwirken von menschlichen Beziehungen und medialen Genres, deren Erzählmuster sie zum Thema ihrer Filme und Texte macht. Cytter gründete im Jahr 2008 die internationale Tanz- und Theaterkompanie D.I.E. NOW. 2019 war ihre Einzelausstellung „Mature Content“ am Museum of Modern and Contemporary Art in Bozen zu sehen. Darauf folgte “Sponsored Content” am Center for Contemporary Art in Tel Aviv. In Deutschland waren ihre Arbeiten zuletzt in der von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Gruppenausstellung „Tell Me About Yesterday Tomorrow“ des NS-Dokumentationszentrums München vertreten.

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