Gesellschaftspolitisch engagiertes Theater bezieht sich oft auf ein Publikum, das ganz ähnliche Werte und Ansichten wie die Theatermacherinnen vertritt. Wie kann das Theater dieser Falle entgehen, die im Englischen als „Preaching to the Converted“ bezeichnet wird, fragt sich die britische Theaterkritikerin Lyn Gardner vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der britischen Theaterszene.
Wir wiegen uns gern in dem Glauben, dass das Theater etwas bewegt und dass Theatermacher und -künstlerinnen Veränderungen bewirken. In seiner stärksten Form kann es eine Art radikaler Konversation zwischen Bühne und Zuschauerraum sein. Theoretisch sollten und können Theater gefährliche Orte sein; gelegentlich – wenngleich sehr selten – sind sie das auch. Aus diesem Grund haben diktatorische Regimes im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht, Theater zu schließen und Stücke zu verbieten. Das Belarus Free Theatre und sein Publikum gehen bei jeder Aufführung ein Risiko ein. Niemand im Publikum döst dort jemals weg.
Doch ist das eher die Ausnahme als die Regel. Für die meisten von uns bietet das Theater zwar ein Fenster zur Welt, aber allzu oft ist dieses Fenster viel schmaler, als wir wahrhaben wollen. Wann sind Sie das letzte Mal ins Theater gegangen und waren schockiert oder verunsichert, haben etwas gelernt, was Sie vorher wirklich nicht wussten, wann hat es das letzte Mal Ihre Einstellung und Meinungen in Frage gestellt, Ihre Weltsicht erweitert? Wann haben Sie zuletzt ein Theaterstück gesehen, das Sie nicht nur genossen oder als ästhetische Herausforderung empfunden haben, sondern das Sie auch zum Umdenken gebracht oder zum Handeln bewegt hat?
Allzu oft rennt das Theater offene Türen ein und bestätigt den Zuschauerinnen ihre Sicht auf die Welt. An vielen Abenden hat man im Theater das Gefühl, dass Autor und Regisseurin von der Kanzel herab zu einer frommen Gemeinde predigen und nicht von der Bühne aus ein echtes Gespräch mit den Zuschauern suchen. Die Leute im Publikum haben bereits die gleichen Werte wie die, die das Stück aufführen. Eine solche Selbstgewissheit erzeugt selten Komplexität, weder formal noch inhaltlich. Theater erzeugt bei uns oft Mitgefühl, was drängende Themen wie Migration und Flüchtlinge oder Sexhandel und Kinderarmut betrifft, und natürlich ist das viel wert. Aber es ist sehr selten, dass Theater tatsächlich etwas verändert. Die meisten Theater-macher sind so sehr mit ihrem Dasein als Künstler beschäftigt, dass sie gar kein Bewusstsein für ihre potenzielle Rolle als Aktivisten oder Akteure des Wandels haben. Ein Theaterabend, an dem das Publikum einfach nur seine liberalen Werte bestätigt bekommt, ist fast immer ein viel zu gemütlicher Abend. Wenn die Lichter wieder angehen, kehren wir unverändert, oder schlimmer noch: selbstgefällig, in unser Leben zurück.
Das wirft die Frage auf, warum wir Karten für bestimmte Stücke kaufen, und ob Stücke, die einfach nur das Leben derer auf die Bühne bringen, die weniger Glück als wir haben und schwerer traumatisiert sind als wir selbst, eine Art „Armutsporno“ sind. Natürlich spricht grundsätzlich einiges dafür, das Unsichtbare sichtbarer zu machen, aber reicht es, wenn wir einfach nur Mitgefühl empfinden? Was ist die Ethik von Künstlerinnen, die das Trauma anderer Menschen als Instrument für ihre eigene Arbeit benutzen, anstatt sich anderen als Instrument zur Verfügung zu stellen, mit dem diese die Geschichten er-zählen können, die ihnen wichtig sind? An einem Theaterstück wie Fairview der schwarzen amerikanischen Dramatikerin Jackie Sibblies Drury ist das Faszinierende, dass es eigentlich ein Trojanisches Pferd ist. Es teilt dem Publikum nicht von der Bühne her-ab mit, was es denken soll, sondern nutzt die Bühne und die Strukturen des Theaters selbst, um den überwiegend weißen Blick des Theaters und der Welt außerhalb des Theaters zu hinterfragen und herauszufordern. Es verändert den Blick des Publikums, auch lange nachdem es das Theater verlassen hat. Es konfrontiert die Zuschauerinnen mit der Tatsache, dass ihre liberale Einstellung keinen Schutz bietet, und tut dies auf eine überraschende Weise, die das Publikum unvorbereitet trifft.
Als das Stück im Young Vic in London lief, haben Publikum und Kritiker Stillschweigen darüber bewahrt, wie das Stück funktioniert, damit auch die Zuschauer der weiteren Aufführungen vom Gefühl des Unbehagens überrascht werden konnten. Für die Laufzeit des Stücks war die Theaterbar des Young Vic einer der aufregendsten Orte in London: Nach den Vor-stellungen war sie gefüllt mit Leuten, die über das gerade Erlebte diskutierten. Einige weinten, andere waren wütend, aber niemand war ungerührt.
Das Theaterstück Fairview gründet auf der Einsicht, dass ein Teil des Problems mit dem Theater darin besteht, dass die Leute, die es machen und die Leute, die es zeigen und die Leute, die die Karten kaufen, oft zu denselben sozioökonomischen Gruppen gehören, aus ähnlichen Verhältnissen stammen und über einen ähnlichen Bildungsgrad verfügen. Wenn die Künstlerinnen, die Theater machen, alle weitgehend gleich aussehen und klingen, und die Zuschauer auch, ist das Ergebnis eine Homogenität der Arbeiten, die bei allen nur noch Zustimmung erzeugt. Wenn auch noch die Kritikerinnen und die Leute in den Kulturverwaltungen aus dem gleichen Umfeld kommen, dann werden unsere Theater zu Echokammern, in denen man immer nur die gleichen Ansichten vernimmt.
Diese Tendenz zum Konsens wird noch verschärft durch die Tatsache, dass die Beziehung zwischen denen, die Theater machen, und denen, die es konsumieren, im Wesentlichen eine Transaktionsbeziehung ist, die auf dem Kauf von Eintrittskarten beruht. Sie zähmt das Theater, weil das Gehalt der Künstler und der Betrieb des Gebäudes, in dem sie arbeiten, davon abhängen, dass die Leute auch weiterhin Karten kaufen. Die Menschen bekommen gern ihre eigenen Werte von der Bühne herab gespiegelt, an der Infragestellung dieser Werte liegt ihnen weniger. Aber was ist nun, wenn ihre Sicht nicht die Sicht der meisten anderen Menschen im Land widerspiegelt? Es mag uns vielleicht nicht gefallen, dass einige Leute ei-ne politisch rechte Gesinnung haben und sich eine härtere Migrationspolitik wünschen. Aber sicherlich sollte das Theater auch hinterfragen, warum sie solche Ansichten vertreten, anstatt sie einfach zu ignorieren, weil sie nicht genehm sind.
Ich habe einmal ein Interview mit Ruth Mackenzie geführt, die damals das Holland Festival leitete und heute künstlerische Leiterin des Theatre du Châtelet in Paris ist. Sie berichtete schonungslos ehrlich, dass sie im Lauf ihrer Karriere zwar bereits mit mehreren benachteiligten Minderheiten gearbeitet habe. Diese sehr diversen Gruppen fand sie „kulturell interessant“, weil sie sehr divers waren: Und […] „vielleicht war die Tatsache, dass ich sie kulturell interessant fand, auch ein Grund für meine Arbeit mit ihnen, was ich mir aber nicht immer eingestehen wollte.“ Sie fuhr fort mit der Frage, was sie für die weiße Arbeiterklasse getan habe. „Die Antwort ist, dass ich während meiner gesamten Arbeit nichts für sie getan habe. Viele von uns in der Kunst haben nichts getan, und das ist schlecht.“
Nach der Abstimmung Großbritanniens über den Austritt aus der Europäischen Union im Jahr 2016 war Mackenzie nicht die einzige, die die Frage stellte, inwiefern das Theater und seine Künstler versäumt hatten, die Spaltung der Gesellschaft in England zum Thema zu machen. Rufus Norris, der künstlerische Leiter des National Theatre, gestand ein, dass die meisten am Theater Tätigen keinerlei Berührung mit einem Großteil der Bevölkerung hatten. Er schloss daraus, dass „unsere erste Aufgabe jetzt darin besteht, viel mehr zuzuhören und herauszufinden, warum Organisationen wie das National Theatre von der Hälfte der Bevölkerung gar nicht wahrgenommen oder als irrelevant angesehen werden.“
Der Grund ist vielleicht einfach, dass Institutionen wie das National Theatre zu sehr damit beschäftigt sind, ein Theater auf die Bühne zu bringen, dass der anderen Hälfte der Bevölkerung gefällt, aus der sich die Mehrheit der Theaterbesucher rekrutiert. Viele Theater und Kultureinrichtungen sind zu sehr darauf bedacht, das Publikum, das sie bereits haben, nicht zu verärgern oder zu verprellen, wenn es eigentlich darum gehen sollte, bei diesem Publikum die Lust auf Experimente und Überraschungen zu wecken.
Das soll nicht heißen, dass die Theater in Großbritannien und Europa jetzt anfangen sollten, politisch rechte Stücke aufzuführen. Vielmehr sollten Theater und Theatermacherinnen viel aktiver darüber nachdenken, welche zivilgesellschaftliche Rolle sie spielen können und wie sie nicht nur die erreichen, die bereits ins Theater kommen, sondern auch diejenigen, die derzeit nicht im Traum daran denken würden, eine Karte zu kaufen oder das Gebäude zu betreten.
Es ist immer von Vorteil für die Kreativität, wenn Theater in ihren Räumen mehr Platz für diejenigen schaffen, die es bisher nicht als einen Ort gesehen haben, an dem sie repräsentiert werden oder der ihnen wirklich gehört. Bei einem subventionierten Theaterbereich sollten die Theater und ihre Arbeit zweifellos die Interessen aller Steuerzahler widerspiegeln, mit deren Abgaben sie finanziert werden, nicht nur die einiger weniger.
Aber dafür müssten die Theatermacher und -betreiber ein Stück zur Seite treten, aus dem Weg gehen, weniger reden und mehr zuhören. Nur wenn man die Hierarchien, nach denen die meisten Kunstinstitutionen derzeit geführt werden, in Frage stellt, die Macht an die Gemeinschaft überträgt und fragt: „Was können wir gemeinsam tun?“, werden die Theater noch relevantere Einrichtungen werden und ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Diskurses rücken.
Gegenwärtig geschieht meist das Gegenteil, nämlich dass die Theater eine eigene Agenda haben, die von den Zuschauerinnen übernommen werden soll. Die künstlerische Leitung eines Theaters mag eine Vorstellung davon haben, wie für sie ein künstlerisch tolles Programm aussieht, aber ist es auch für andere Leute toll? Den Wandel zu verweigern ist vergleichbar mit dem Ausschließen von Menschen, deren Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit man nicht wünscht.
Ein solcher Wandel erfordert Mut und Demut und ist nicht eine einzelne Handlung, sondern ein Prozess. Einer, bei dem das Theater Vertrauen aufbaut, indem es alle Beteiligten einbezieht, das Publikum und die Spielpläne erweitert und die Künstlerinnen zu mehr Abenteuerlust ermutigt. Er beruht auf der Einsicht, dass das Theater eine zivilgesellschaftliche Verantwortung trägt und dass herausragende Kunst und herausragendes Engagement nicht komplementär zu denken sind, sondern als in komplexen Schichten miteinander verflochten.
Theater, die ihre zivilgesellschaftliche Rolle wirklich wahrnehmen, sind nicht mehr sterile Kathedralen der Kunst, sondern das künstlerische Äquivalent städtischer Plätze, zu denen jeder Zugang hat, auf denen jeder willkommen ist und wo jeder sprechen kann. Sie sind Orte, an denen sich Gemeinschaften versammeln können, um sich in einem konstruktiven Forum zu einigen und zu widersprechen und die Geschichten zu erzählen, die ihnen wichtig sind. Hier können sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen.
Solch ein Theater ist für alle relevant, nicht nur für einige wenige. Es ist ein Theater, das kraftvoll und lebendig ist, nicht nur ein Ort, an dem alle zustimmend nicken.
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber.