Es gibt kein Dilemma zwischen Klimagerechtigkeit und internationalem Kulturaustausch, meint Till Briegleb.
Es genügt vermutlich, einen Tag lang alle verfügbaren Nachrichten, Artikel und Studien über den Zustand unseres Planeten und die Ursachen dafür auch nur anzulesen, um eine sehr eindeutige Antwort auf die Frage zu erhalten, was zu tun ist, dringend zu tun ist. Wir müssen sofort aufhören zu fliegen und Tiere zu essen, Auto zu fahren und immer neue Dinge zu kaufen, wir müssen Plastik vermeiden und den exorbitanten Energieverbrauch unseres Lebensstils reduzieren, wir brauchen eine Wirtschaft, die dem Wachstum abschwört und auskömmlich wirtschaftet, anstatt die dem Kapitalismus wesenshafte Gier nach Status, Geld und Besitz exzessiv und gewissenlos zu fördern.
Doch leider funktioniert das nicht so. Nicht mal im privaten Bereich, wo alle individuellen Bekenntnisse des schlechten Gewissens, wie weit man bereits sein Verhalten problembewußt geändert habe, durch nackte Statistiken Lügen gestraft werden. Es gibt kein Gespräch über Ernährungs- oder Mobilitätsthemen, in dem nicht die meisten Teilnehmer erklären, kaum noch Fleisch zu essen und eigentlich nur noch Zug zu fahren, während die Fluggastzahlen ständig steigen und Fleischnahrung (ein vielfach schadensintensiverer Konsumzweig als Autofahren und Fliegen) die größte Selbst-verständlichkeit bei allen deutschen Mahlzeiten bleibt.
Aber Einsicht funktioniert auch nicht im Bereich der Kultur, wo es zum unbeirrbaren Selbstverständnis gehört, sich als eine Avantgarde zu begreifen, die sich kritisch-konstruktiv zur Welt verhält. Auf der Beiratssitzung eines sehr großen deutschen Instituts zum internationalen Kulturaustausch wurde Anfang 2019 intensiv über die Dringlichkeit gesprochen, nachhaltigere Wege speziell im Sektor „Reisen“ zu beschreiten, und das Thema „Ökologie und Nachhaltigkeit“ ist eines der drei aktuellen Kern-themen dieses Global Players. Ein Jahr später ist die Anzahl der Flugkilometer aller Mitarbeiter exakt wie im Vorjahr. Von den Weltreisen der Künstlerinnen und Vermittler, die hier geplant und als Betriebszweck mit Steuergeldern ermöglicht werden, ganz zu schweigen.
Diese „Konsequenzlähmung“ ist kein Spezialfall einer einzelnen Behörde. Es ist Ausdruck einer strukturellen Unfähigkeit unserer Zeit, persönliche Ziele solidarischer Not-wendigkeit unterzuordnen. Denn die Welt ist nicht zu klein für die Menschheit. Sie ist zu klein für ihre Gewohnheiten. Doch während die meisten Menschen auf diese Wahrheit einfach mit Ignoranz reagieren, gibt es im Bereich der Kultur eine Entschuldigung, dass man das eine sagt und von anderen fordert, während man selbst keine ernstzunehmenden Alternativen zum bisherigen Verhalten zu finden bereit ist: die mantramäßige Verzeih-Vokabel: „Dilemma“, der Titel dieser Ausgabe.
Mit diesem nach Fatalismus und Zwangslage klingenden Wort wird überall in der Kulturindustrie entschuldigt, dass man immer weiter macht, wie bisher, weil man ja „gute“ Absichten und Ziele verfolgt. Und nicht nur das. Die meisten Institute, Festivals, Biennalen und Events im Bereich der Kultur verhalten sich exakt wie ihre kommerziellen Spiegelstrukturen in der Wachstumswirtschaft und agieren in ständiger Konkurrenz gegeneinander um Superlative, expandieren jährlich, um noch bedeutender zu erscheinen, und setzen konsequent darauf, mit vermeintlichen Kurzzeitsensationen möglichst viel möglichst weit herbeigereistes Publikum zu gewinnen. Zwischen der Biennale in Venedig und einem internationalen Reiseveranstalter besteht in puncto Klimaignoranz kein großer Unterschied. Selbst die Verpflegung ist in beiden Organisationen identisch: plastikverpackte Fast-Food-Nahrung tierischen Ursprungs.
Leider macht es erwiesenermaßen keinen Sinn, auf die Selbstregulierungskräfte von Einsicht und schlechtem Gewissen zu hoffen, um das aktuelle „Dilemma“ der Kulturindustrie aufzulösen. Schließlich sind die heutigen „Wahrheiten“ über die „Grenzen des Wachstums“ bereits fast 50 Jahre alt, wenn man den 1972 vorgestellten Bericht gleichen Namens des Club of Rome als erste umfassende Unterrichtung zum Thema nimmt. Aber Kulturmenschen verhalten sich, wenn es um ihr eigenes Ansehen und den persönlichen Vorteil geht, strukturell kein Deut anders als Jugendliche im Shoppingrausch oder SUV-Fahrer mit Vielflieger-Status. „Weniger!“ ist keine echte Option. Deswegen wird Wandel ohne Wachstum auch hier vermutlich nur über Regeln und Anreize funktionieren, die für alle Marktteilnehmer verbindlich sind.
Die vier vordringlichen Stichpunkte für verbindliche Regulierungen zum verantwortungsvollen Handeln, die keineswegs das Ende der Kulturvermittlung bedeuten müssen, könnten sein: Transparenz, Standards, Kooperation und Zeit.
Transparenz
Solange Kulturereignisse in gleicher Art und Weise ihre Produktionszusammenhänge verschweigen wie jede Kotelettfabrik, handeln sie wie alle anderen Leugner globaler Kettenreaktionen auch. Deswegen wäre ein erster Schritt zu einem ehrlichen Umgang mit den eigenen Klimasünden eine verpflichtende Schadensampel. Eine offen kommunizierte und für jeden Besucher prominent platzierte Kennzeichnungspflicht klima- und umweltrelevanter Faktoren wie Flüge, Energieverbrauch und Konsum tierischer Produkte im Gastronomiebereich, eventuell eine abschließende Bilanz über den generierten Flugverkehr der Besucher eines Events, würde dem Anspruch der Branche, klimakritisch relevant zu sein, endlich die nötige selbstkritische Glaubwürdigkeit verleihen – die nicht nur durch extrem klimafeindliche Veranstaltungen wie die letzte Doppel-documenta in Athen und Kassel schwer leidet.
Standards
Auf Basis solch vergleichender Werte ließen sich Standards festlegen, die zumindest für alle staatlich subventionierten Veranstaltungen gelten müssten. Im Verhältnis zum finanziellen Budget wären dann auch ökologische Budgets festzulegen, die bestimmen, wie viele Flüge, Kilowattstunden und Würste eine Veranstaltung nicht überschreiten darf. Wobei die Pflicht, alle umweltdestruktiven Maßnahmen zu kompensieren, davon unberührt bleiben müsste.
Kooperation
Der massive Wettbewerb in der Kulturbranche um Originalität, Premieren, Alleinstellungsmerkmale, Internationalität und so genannte „Profile“, also der kulturelle Markenwahn, produziert progressiv immer mehr Kurzzeit-Ereignisse, die konsequent als Must-sees beworben werden, aber in ihrer Mehrheit nur an einem einzigen Ort stattfinden. Diese geistig-materielle Verschwendungsprogrammatik, die ebenfalls kaum Unterschiede zum kapitalistischen Waren- und Ressourcenverschleiß für sich behaupten kann, gilt nicht nur fälschlich als eine Selbstverständlichkeit. Sie geht auch massiv an den Bedürfnissen von Kulturinteressierten ohne riesiges Reise- und Zeitbudget vorbei, die interessante Produktionen gern in ihrer eigenen Stadt sähen.
Sowohl bei der Sichtung und Kuratierung von Kulturereignissen wie bei der nachhaltigen Organisation von Aufführungen und Ausstellungen an verschiedenen Orten wäre eine weniger eitle, um Profil bedachte Form von Kooperation und Kommunikation ein enormes Einsparpotential von Reiseverkehr bei Organisatoren wie Publikum. Aber solche Formen von Kollaboration setzen nicht nur eine stark geänderte Ein-stellung zur Lebensdauer und Erstellung von Kulturprodukten bei den Herstellern, aber auch bei den Politikerinnen voraus, die das bisherige ressourcen- und reiseintensive Markenbewusstsein in der Kultur durch ihre Ideologie der Städtekonkurrenz intensiv befördern. Es stellt auch die Frage nach einer grundsätzlich anderen und vielleicht viel produktiveren Haltung zu Dauer und Intensität von kultureller Versorgung.
Zeit
Obwohl jeder Mensch aus Erfahrung weiß, dass produktive Auseinandersetzung weniger durch kurze Impulse als durch geduldige Prozesse befördert wird, ist der Event das Nonplusultra der kapitalistischen Kulturproduktion, und zwar völlig unabhängig davon, ob der Inhalt kritisch oder kommerziell verstanden werden will. Auch der internationale Kulturaustausch besteht in seiner überwiegenden Mehrheit aus dem Import und Export von Einmalereignissen, die häufig schon darin versagen, ihren Kontext verständlich zu machen. Deswegen wäre der sanfte Zwang, das kulturelle Jetsetten massiv einzuschränken, vielleicht auch eine Chance, den Wandel zu einer nachhaltigeren Form der Kunst- und Diskursproduktion zu schaffen.
Weniger, aber dafür längere und intensivere Aufenthalte von Künstlern, von deren intellektueller Wirkkraft man überzeugt ist, könnten die Qualität von kultureller Verständigung ebenso verbessern und aus dem Status exotischer Erlebnisse befreien, wie die Bevorzugung von Mittlern aus fernen Ländern, die bereits in Europa leben. Künstler mit dem Vorteil, zwei unterschiedliche Kulturen bereits zu kennen und zu verstehen, garantieren einen gewissen Vermittlungsvorsprung gegenüber Gastspielen und Ausstellungsstücken, bei denen man sich häufig nicht des Eindrucks erwehren kann, der primäre Grund ihrer Einladung ist die ferne Herkunft.
Wo auch immer die gegenwärtige Kulturgemeinschaft ihre neuen Prioritäten setzen will, um im Kontext sich rasant beschleunigender Umweltzerstörung ihren ernst gemeinten Beitrag zu liefern, sie wird nicht umhin kommen, den heutigen Betrieb grundsätzlich in Frage zu stellen. Dazu wird es kaum genügen, nach politischen Lösungen zu rufen. Kulturermöglicher werden ihre kreative Energie eine Zeit lang auf die eigenen Strukturen anwenden müssen, um unter den neuen Prioritäten klima- und um-weltgerechten Handelns gesündere Betriebssysteme zu entwickeln. Und es gibt zunächst keinen Grund auszuschließen, dass bei dieser konstruktiven Suche bessere und nachhaltigere Modelle des Kulturaustausches entstehen. Mit solch einer konstruktiven Absicht im Sinn braucht dann vielleicht auch niemand mehr das Wort „Dilemma“ in den Mund zu nehmen, um eine falsche Ohnmacht vor dem angeblich Faktischen zu erklären.