Wer bestimmt über die Kunst vor Ort? Und was soll sie zeigen? Wen repräsentieren? Im Programm Neue Auftraggeber geht es um grundsätzliche Fragen im Spannungsfeld von Partizipation und Repräsentation, wie Alexander Koch erläutert.
Das höchste Gut einer Gesellschaft ist ihre Vorstellungskraft. Denn was sie sich nicht vorstellen kann zu sein, das wird sie auch nicht werden. Was sie nicht für möglich hält, wird nicht geschehen – zumindest solange nicht, bis sich das, was vorstellbar ist, verschiebt. Gesellschaftlicher Wandel ist wesentlich eine Entwicklung der kollektiven Einbildungskraft, eine Aus- und Umgestaltung des sozialen Imaginären.
Dieses Imaginäre ist ohne die Formen und Stimmen der Kunst und Kultur nicht denkbar, mehr noch: Was ist die kollektive Einbildungskraft einer Gemeinschaft von Menschen anderes als ihre Kultur?
Das Programm Neue Auftraggeber schafft Wege, um am Vorstellbaren zu arbeiten und dessen Grenzen verschieben zu können. Indem Bürgerinnen in Dörfern und Städten Künstler damit beauftragen, neue Werke zu entwickeln, die unmittelbar ein Stück ihres Lebensumfeldes verändern oder starke inhaltliche Zeichen setzen, werden neue Dinge möglich, neue Perspektiven denkbar, weitet sich der Raum des Vorstellbaren am konkreten Ort.
Teilhabe führt nicht per se zu Gemeinsinn
Kultur und Politik demokratischer Gemeinschaften entspringen der gleichen Fantasie, dass freie und gleichberechtigte Menschen in geteilter Verantwortung ihre Welt zusammen in den Griff kriegen. Augenscheinlich hat diese Fantasie Schaden gelitten und ist mancherorts verschwunden. Die Formen politischer wie auch kultureller Repräsentation können den Glauben, dass Wenige Viele angemessen vertreten, nicht länger mobilisieren. Gleichzeitig entsteht eine ungekannte Vielfalt neuer Formen der individuellen und kollektiven Selbstvertretung, die nach Wegen der eigenen Institutionalisierung (und Macht) sowie nach einem methodischen Upgrade von Mitsprache und Teilhabe suchen und die der demokratischen Fantasie Leben einhauchen – oder auch anderen Fantasien.
Ein Dilemma besteht darin, dass der Wunsch nach mehr Mitbestimmung jenseits gängiger repräsentativer Prozesse Akteure und Methoden quer durch das politische Spektrum antreibt, von weit links bis weit rechts, und damit nicht per se auf mehr Gemeinsinn und demokratischen Esprit hinausläuft. Ein weiteres Dilemma ist, dass sich die legitimen Selbstvertretungsansprüche vieler Einzelner nicht ohne weiteres in eine legitime Politik übersetzen lassen, die letztlich alle betrifft.
Hier können künstlerische Auftragsprojekte einzelner Bürgergruppen als demokratische Labore wirken. Hier kann die Kunst Verantwortung übernehmen, um neue Gemeinschaftsfantasien zu mobilisieren. Im Wettbewerb der Mentalitäten müssen sich die Projektinitiativen der öffentlichen Wahrnehmung stellen, ihre Gemeinnützigkeit selbst begründen, Mehrheiten bilden, Nachbarn und Politik überzeugen. Dabei können Projekte der Neuen Auftraggeber selbst in das Dilemma geraten, dem guten Willen Einiger zu entspringen, ohne von einer größeren Gemeinschaft akzeptiert zu werden, geschweige denn repräsentativ zu sein. Wie das Engagement Weniger zum Motor für die Vorstellungskraft Vieler werden kann, müssen die Bürgerprojekte stets aufs Neue zeigen.
Partizipation versus Vertrauen
Wir lesen viel darüber, die Menschen würden der Politik bzw. ihren Vertreterinnen nicht mehr vertrauen. Wir lesen weniger darüber, dass Politiker, aber auch viele andere Akteure aus der Kultur-, Behörden-, Stiftungs- und Wirtschaftslandschaft der Bevölkerung nicht vertrauen.
Teilhabebegriffe – der Kunstsektor spricht eher von Partizipation – beinhalten oft wenig Umverteilung von Entscheidungsmacht. Böse Zungen sagen, die meisten Partizipationsangebote an Bürgerinnen sind Top-Down abgestellte Mitmachcontainer, in denen Bürger entlang festgelegter Regeln unterhalten, statt ermächtigt werden. Wenn Menschen das spüren, meiden sie solche Container. Schenkt man ihnen mehr Vertrauen und mehr Macht, kann es sein, dass sie den Container auseinandernehmen. Die Krise der Repräsentation hat einiges mit der Furcht vor den disruptiven Energien zu tun, die sich einstellen können, wenn Bürgerinnen mehr echte Mitsprache erhalten. Ohne diese Mitsprache aber schwindet das Vertrauen in Repräsentationsapparate. Ein Teufelskreis?
Die Neuen Auftraggeber versuchen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. In moderierten Bottom-up-Prozessen werden Bürgergruppen durch Mediatorinnen dabei unterstützt, künstlerische und politische Ressourcen für ihre Anliegen zu aktivieren und zu nutzen, um den eigenen Vorstellungen, oft auf ungewöhnlichen Pfaden, ungesehene Gestalt zu geben. Glückt das, kann neues Vertrauen zwischen Bürgerschaft und Politik entstehen, zwischen Engagement und Verwaltung sowie zwischen „kulturellen Eliten“ und der Bevölkerung.
Investitionen sind nicht gleich Innovationen
Einer der wirksamsten Glaubenssätze von Fortschrittsgesellschaften ist die Forderung nach Innovationen. Märkte brauchen Neues. Aber wenn es um politische und kulturelle Innovationen geht, macht Neues Angst. Das mag nicht gleich einleuchten. Innovationen brauchen Vorabinvestitionen und Zuversicht in den künftigen Nutzen, gleich Erfolg. Aber kultureller Nutzen und Erfolg sind bekanntlich schwer messbar, und im Zweifelsfall kann man sehr verschiedener Meinung sein, was wem nützt und wie. Institutionelle Förderinstrumente im kulturellen Sektor gehen zumeist mit bürokratischen Reglements einher, die das mögliche Engagement vieler Menschen unberücksichtigt lassen. Mit vorgeordneten Zielvorgaben schließen sie praktisch aus, dass Innovationen eine Chance haben, überhaupt zu entstehen. Gerade öffentliche Ausgaben müssen sich vor der Gemeinschaft begründen lassen – aber zugleich sind die methodischen Schritte und Sprünge, die echte Neuerungen benötigen, ohne eine relativ ergebnis-, und prozessoffene Bereitstellung von Ressourcen, kaum zu haben. So folgt viel Kunst und Kultur vorgenormten Handlungsmustern und reproduziert Standards, statt neue zu setzen.
Die offenen Prozesse in den Bürgeraufträgen der Neuen Auftraggeber können solchen Standards selten folgen. Wo Projektszenarien nicht festgelegt sind, Zeitabläufe nicht fixierbar, ja Künstlerauswahl und Budgetanforderungen lange unbekannt sind, weil all dies erst im Laufe der Projektentwicklung mit den Bürgerinnen entsteht, ist Planungssicherheit ein Fremdwort und öffentliche Unterstützung anfangs schwer zu bekommen. Die Förderung der Neuen Auftraggeber durch die Kulturstiftung des Bundes bildet hier eine Ausnahme von der Regel, die von Innovationsgeist ebenso angetrieben ist wie durch Risikobereitschaft.
Ein Blick auf die 500 Projekte, die bislang im internationalen Netzwerk der Neuen Auftraggeber entstanden, zeigt, dass vielen von ihnen tatsächlich innovativer Charakter zukommt, sozial oder ästhetisch, oder beides. Der gleiche Blick zeigt aber auch, dass viele Projekte erst durch ungewöhnliche Allianzen möglich wurden und sich erst im Nachhinein als kluge Investitionen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt erwiesen, über deren Erfolg man zuvor nur hätte spekulieren können. Innovationen sind unabsehbar, sie brauchen Raum und Zeit.
Unbekanntes kennt man nicht
Hinter den angesprochenen Problemen liegt ein tieferes, grundlegenderes Dilemma in der Krise der gesellschaftlichen – oder mindestens der demokratischen – Vorstellungskraft. Es ist der simple Umstand, dass man das Unbekannte nun mal nicht kennt, aber braucht, um voranzukommen, während man Angst hat, vielleicht am falschen Ende rauszukommen. Die beste mir bekannte Metapher für diesen Umstand ist Richard Rortys Unterscheidung zwischen dem (politisch) Schönen und dem Erhabenen, das wir getrost mit dem ästhetisch Schönen und Erhabenen verknüpfen können.
Als „schön“ bezeichnet Rorty unsere Anstrengungen, innerhalb gegebener Verhältnisse „eine immer bessere, also auf ein menschenfreundlicheres Leben zielende Umordnung jetzt bestehender menschlicher Beziehungen und Institutionen anzustreben“. Bestrebungen also, in einem gegebenen Ganzen die Dinge so anzuordnen, dass sie besser aussehen als bisher. Demgegenüber bezeichnet Rorty das Erhabene als „die Suche nach Menschen und Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.“ [1]
Hier scheint das Dilemma offensichtlich und kommt auf einen entscheidenden Punkt: Wenn kulturelle und politische Teilhabe nach Wegen sucht, sich demokratisch zu erneuern, können und sollten diese Wege bestehende Ordnungen überschreiten. Doch die Suche nach Menschen und Institutionen, die frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können, lässt sich nur schwerlich innerhalb der bestehenden Ordnung vorstellen. So können sich viele auch die Bedingungen noch nicht wegdenken, die Bürger seit Jahrhunderten daran hindern, eine aktive, statt nur passive Rolle in der zeitgenössischen Kulturproduktion zu spielen. Das Handlungsmodell der Neuen Auftraggeber zur Entstehung neuer kultureller Gemeingüter (Commons) schafft die Bedingungen für eine aktive Entscheidungsmacht von Bürgerinnen im kulturellen Prozess – bleibt aber derzeit noch gebunden an politische und finanzielle Rahmenbedingungen, die diese Entscheidungsmacht seit langem begrenzen.
Umordnung der Repräsentation
Folgen wir der Rortyschen Metapher, wäre das Erhabene – einst eine Schlüsselkategorie im ästhetischen wie im politischen Diskurs der Moderne – eine innovative Anordnung von Dingen, die wir nicht wirklich verstehen können, innerhalb eines neuen Ganzen, das wir noch nicht kennen. Eine Welt aus Menschen, Institutionen und Beziehungen, die wir uns noch nicht vorstellen können. An dieser Stelle überlagern sich heute politische, kulturelle und ästhetische Diskurse und auch Praktiken, die nach einer Vorstellungskraft fragen, oder sie hervorzubringen versuchen, die aktuelle Krisen- und Misstrauensgefühle überwinden könnten.
Doch da sich das Unbekannte nicht planen, das Unvorstellbare nicht konzipieren und beantragen, das Disruptive nicht kontrollieren und die Zukunft nicht vorwegnehmen lässt, kollidieren an dieser Stelle die Einsicht, dass sich manches ändern muss im repräsentativen Mit- und Nebeneinander demokratischer Verfahrensweisen, mit der Sorge und der institutionellen Vernunft, dass das kollektive Imaginäre eine schwer steuerbare kulturelle Größe ist. Muss Demokratie das aushalten? Freilich.
Seit die Neuen Auftraggeber vor 30 Jahren in Frankreich erfunden wurden und seit sie sich nun auch in Deutschland als Kulturtechnik verankern, liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, dem Unbekannten, Disruptiven, ja auch dem Nicht-Repräsentativen eine allgemein verständliche Gestalt zu geben, die zutiefst demokratisch ist. Jedem seine Stimme. Der Gemeinschaft ihre Formen, für die sie sich selbst entscheidet. Und den Künstlerinnen ihre Chance, sich in den gesellschaftlichen Prozess gestaltend einzubringen. Bei den Neuen Auftraggebern werden im Ergebnis internationale Künstler von Rang mit Bürgerinnen kleiner Gemeinden zusammengearbeitet haben.
Es ist der Kunst nicht zuzumuten, sehr wohl aber zuzutrauen, eine transformative Rolle auf dem Weg in ein Upgrade demokratischer Methoden und Fantasien zu spielen. Die Kunst im Bürgerauftrag ist heute eine der zahlreichen Spielarten, auf diesem Weg voranzukommen und das breite, reichhaltige Feld bestehender Institutionen, kollektiver Verhaltensweisen und sozialer Einbildungskräfte zu erweitern. Wo Bürger Künstlerinnen ihrer Zeit als Kollaborateure für gemeinsame gesellschaftliche Projekte gewinnen, können sie in immer neuen, individuellen Allianzen gemeinsam der gesellschaftlichen Vorstellungskraft das hinzufügen, was auch immer Menschen in ihren Orten und Situationen denken, wollen, brauchen und wünschenswert finden. Immerhin vorstellbar.
[1] Richard Rorty, Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt am Main, 2000, S. 33