Wir haben die Schriftstellerin und Ethnologin Sarah Khan gebeten, das Oderbruch, eine der TRAFO-Modellregionen, zu bereisen und von ihren Begegnungen zu erzählen. Im Archiv des Oderbruch Museums Altranft entdeckte sie eine verschollen geglaubte Akte, die ihre Reiseroute durch das Oderbruch bestimmen sollte.
Der Schatz
Beim ersten Besuch im Schloss und Museum von Altranft entdeckte ich eine verschlossene Tür, dahinter lag ein ungeordnetes Archiv, eine Altlast, sagte man. Den Mitarbeitern schien der Raum unangenehm, es brauchte einiges Bitten, bis ich hineindurfte. Der Raum roch nach DDR-Fußbodenbelag. Unsystematisch zog ich Akten aus den Schränken, die voller Broschüren über Korbflechtkurse und Vorträgen aus der vergangenen Ära des Oderbruch Museums waren. Nach zwanzig Minuten fiel mir ein Schatz in die Hände, eine Akte mit der Aufschrift „INTERVIEW’S – Geschichten und Gedichte. VFBQ Bad Freienwalde“. Auf der ersten Seite, in Klarsichtfolie verpackt, war ein Vorwort zu lesen, das vier Frauen namentlich unterzeichnet hatten. Vor zwanzig Jahren, 1998, hatten sie mit einer Arbeitsmaßnahme begonnen – ABM genannt –, deren Zweck es war, Menschen im Oderbruch zu interviewen. Das Ergebnis waren 71 Lebensgeschichten, im Inhaltsverzeichnis nach Berufsgruppen sortiert; Lehrer, Fleischer, Uhrmacher, Pfarrer, Senioren usw. Das Vorwort pflegte einen interessant vorwurfsvollen Ton, der sich bis in unsere Zeit frisch gehalten hat. Die Frauen klagten, sie hätten zu wenige Vorgaben gehabt, und ein geplantes Büchlein habe nicht produziert werden können. Die finale Beschwerde lautete, sie hätten „zwangsweise private Kontakte“ einsetzen müssen, um überhaupt an Gesprächspartner zu gelangen. Ich musste sehr grinsen, denn diese Eigenheit der Oral-History-Methode ist durchaus bekannt. Mit der Akte unterm Arm verließ ich das Archiv, um beim Kustos einen Leihschein zu beantragen.
Beschäftigungstherapie oder die Kunst des Zuhörens
Es ist 1999, das schönste Jahr im Leben von Rosemarie Arendt geht zu Ende. Die gelernte technische Zeichnerin und dreifache Mutter aus Bad Freienwalde, die nach der Abwicklung ihrer Firma keine Arbeit mehr findet und sich von einer Maßnahme zur nächsten hangelt, beendet mit zwölf Kolleginnen die einjährige ABM „Wiederentdeckung und Darstellung regionaler Kunst und Geschichten“.
Sie treffen sich ein letztes Mal am Weidendamm, wo der „Verein zur Beschäftigung und Qualifizierung“ seinen Sitz hat. Sie tüten letzte Texte in Klarsichtfolien. Nicht alle konnten noch abgetippt werden, aber die Frauen bestätigen sich gegenseitig, dass ihre Handschriften gut lesbar sind, obwohl sie es nicht sind. Niemand wird noch einmal draufschauen, niemand Rechtschreibfehler korrigieren, niemand mahnen, dass die Damen ihre Gespräche mit Datum und Ort versehen müssen. Wird überhaupt jemand diese Geschichten über Zwischenkrieg, Krieg, Flucht und Wiederaufbau jemals lesen?
Sie übergeben die Akte der Vereinschefin Dr. Irmgard Roth, die noch viele tausend Maßnahmen im Oderbruch durchführen wird, wenn es auch nie wieder „derartig hohe Maßnahmen“ sind, wie sie es später ausdrückt, „von so hohem inhaltlichen Wert.“ Es ist der hohe Wert einer Geschichte wie die aus dem Mund von Frau Fuhrmann, die mit 86 Jahren erzählte, wie sie mit ihrer Familie als Bedienstete auf der „Sonnenburg“ lebte, dem Wochenendrefugium von Hitlers Außenminister Ribbentrop. Und wie Frau Ribbentrop ihr einen Volksempfänger und ein Führerbild schenkte; und wie Herr Ribbentrop seinen Weinkeller evakuieren ließ, als „der Russe“ im April 1945 über die Oder setzte. Es ist der Wert einer Geschichte wie die von Frau Göttel, geboren 1929 in Schiffmühle, die als Kind sah, wie die Synagoge in Bad Freienwalde brannte, und sich erinnert, wie das Textilkaufhaus Max Keilson verwüstet wurde.
Bevor die Akte dem Verein übergeben wird, setzen sich die Frauen Arendt, Koch, Stahl und Lau ein letztes Mal zusammen um den Computer, um ein Vorwort zu verfassen, das mit der Akte zusammen für zwanzig Jahre verschwinden würde, weil niemand sie systematisch archiviert und um ihren Verbleib weiß. Vor einem Jahr waren sie sich noch nicht grün gewesen und verzweifelt. „Beschäftigungstherapie“ nannten sie ihre blöde Maßnahme. Aber es gab keine Arbeit in Bad Freienwalde. Mit der einst vornehmen Kurstadt und ihren eleganten Villen und Kuranlagen, die auf Hügeln über dem Oderbruch thront, ging es bergab. Die Betriebe machten dicht. „Bald kann der Bürgermeister einen Zaun ziehen und abschließen“, meinten sie damals. Sie hatten Mühe, ihre neue Aufgabe zu fassen zu kriegen, bei der sie von 7.30 bis 15.30 Uhr Geschichten sammeln sollten, ohne Aufnahmegeräte, nur mit Stift und Papier ausgerüstet. Geschichten von wem? In welcher Länge? Was fragen? Es dauerte lange, bis sich die alten Leute öffneten, Rosemarie Arendt musste mehrfach vorsprechen und in den Stuben mit den Alten Kaffee trinken, bis sie mitschreiben durfte. Das lag nicht an der maulfaulen DDR-Sozialisation, sagt sie heute, als wir in ihrer Wohnung im Scheunenberg-Viertel von Bad Freienwalde sitzen und sie die verschollen geglaubte Akte in Händen hält. „Es lag daran, dass viele als Flüchtlinge aus Polen kamen. Die sagten oft ‚Wir wurden verbannt‘, und ‚Verbannung‘ nannten sie ihr Leben.“
Vier private Pkw standen den Frauen zur Verfügung, um auf die Dörfer zu gelangen. Mittagspause machten sie nur heimlich, weil sie nicht wussten, ob sie das durften. Mit ihren Schuldgefühlen kamen sie sich fast wie Betrügerinnen vor. Als Anleiterin setzte man ihnen die Keramikkünstlerin Anka Goll aus dem entlegenen Güstebieser Loose vor die Nase, die ihnen im Stuhlkreis erklärte, „was Kunst ist“. Worauf eine Frau störrisch wurde: „Ich weiß genau, was Kunst ist, Künstler stehen erst um 12 Uhr mittags auf!“ Nachdem die Vorurteile überwunden waren, rief Anka Goll das erlösende Motto aus: „Wir erkunden unsere Heimat!“
Diese Frauen kannten zwar in Hohenwutzen die Markthalle und waren auf Rügen oder in der Tschechoslowakei gewesen, aber nie ins Oderbruch gefahren, obwohl es vor der Haustür lag. Deshalb wird Rosemarie Arendt, die später als Hauswirtschafterin in einem Altenheim ihre berufliche Heimat findet und sich im Seniorenbeirat für Altenpolitik engagiert, aus vollstem Herzen sagen: „Diese Geschichten aus dem Oderbruch haben mich ungeheuer fasziniert. Es war das schönste Jahr meines Lebens.“
Der Herr über Senfkristall
Der Kustos des Oderbruch Museums Altranft, Peter Herbert, sitzt in einer Kammer unterm Schlossdach und füllt in halb gespielter Bürokratenmanier einen zweiseitigen Leihschein für die Akte aus. Dabei erzählt er von seiner Liebsten, der sorbischen Künstlerin Sophie Natuschke, mit der er nahe der polnischen Grenze auf einem über hundertjährigen Hof lebt, dem Schwanz-Hof, benannt nach einem Fuhrunternehmer Schwanz. Er empfiehlt mir einen Mittagstisch in Altranft, „wo es zu jedwedem Gericht die echte, undefinierbare DDR-Soße gibt“, sagt er und schüttelt sich wohlig. Er deutet den denkbar umständlichsten Weg zum Bahnhof, damit ich schauen kann, ob die Kantine noch offen hat. Aber es ist schon nach 13 Uhr, da hat das Oderbruch längst aufgegessen und das Besteck weicht in den bereitgestellten Wassereimerchen. Später dämmert mir, dass Peter Herbert ein Signal aussenden wollte: „Hey, ich bin auch interessant!“ Er ist interessant, untertrieben gesagt. Er ist der Beweis, dass man im spärlich bevölkerten Oderbruch mehrere Leben führen muss, damit was passiert. Er war mal in der VEB Datenverarbeitung in Ost-Berlin angestellt und erlangte DDR-weit Berühmtheit durch die Fernsehsendung „Außenseiter, Spitzenreiter“, wo er eine streng wissenschaftlich kategorisierte Sammlung von Streichhölzern präsentierte, die nicht dem volkswirtschaftlichen Ideal entsprachen – „Lumomonster“. Die exzentrische Sammlung wird bis zum heutigen Tag von Sachkulturmuseen angefragt. Er ist nebenerwerblicher Senf-Unternehmer (Looser Senf), sammelt rheinische Senfgefäße (780 Exponate) und ist ein passionierter Käferkundler, der unbekannte Arten fürs Oderbruch nachgewiesen hat. Damit nicht genug, ist er Mitglied im Verein „Hofgesellschaft“, der überforderte Besitzer maroder Häuser bei der Instandhaltung hilft. Er weiß, wie Schwamm riecht und wie Käferbefall im Kaltdach zu beurteilen ist, das kann harmlos sein, wenn die Viecher im Winter eh erfrieren.
Vom Schwanzhof aus liegt das nächste Anwesen einen halben Kilometer entfernt.
Dort, auf dem Uhlenhof, lebt seit vierzig Jahren die Keramikerin Anka Goll.
Hohe Ulmen umsäumen ihr Land, solche Ulmen gibt es in Europa kaum noch.
Dass es seine Nachbarin ist, die die Leiterin der Maßnahme von 1998 war, wissen wir beide nicht, als Peter Herbert mir die Akte als Leihgabe übergibt.
Das Arbeitsamt in Seelow bot ihr den Job an, erinnert sie sich.
„Ich war aber kein Cheftyp, es war schwierig für mich, mit Frauen umzugehen, die aus völlig anderen Bereichen kamen.“ Sie glaubte zunächst nicht, dass es eine gute Idee sei, von Frauen, die die meiste Zeit ihres Lebens als Arbeiterinnen gefristet hatten, zu verlangen, dass sie die Lebensgeschichten anderer Menschen aufs Papier bringen.
„Aber ich habe dann unheimlich von diesen Frauen profitiert. Ich hatte ja sonst immer nur zu Künstlern Kontakt. Durch diese Frauen lernte ich, dass Künstler sich nicht so wichtig nehmen sollten.“
Lungenwurst im Fachwerkdorf
Der lustigste Bericht in der Akte stammt von Malermeister Balke aus Neutrebbin.
Er wusste viel über die ersten Kolonisten im Oderbruch. Aus allen Teilen des Reiches warb Friedrich der Große, König in Preußen, Menschen an, damit sie das Oderbruch urbar machten. Er versprach ihnen Land und Religionsfreiheit, und 1753 bezogen die ersten Familien sogenannte Kolonistendörfer. Die Rheinländer mit ihren Karnevalsvereinen, die Friesen mit ihrem Platt oder die Österreicher, sie blieben lange unter sich, und die Dörfer waren wie nach Haarfarben sortiert. Es lässt sich schwer über das heutige Oderbruch sprechen, ohne so weit zurückzublicken.
Malermeister Balke starb vor einigen Jahren, aber man sieht ihn noch in Gaststätten auf Fotografien, verkleidet als Alter Fritz, so sammelte er Spenden für ein Denkmal, das man in Neutrebbin zu Ehren des Preußenkönigs wieder aufstellte, mit dem verbürgten Spruch: „Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert, die mir keine Soldaten gekostet hat.“
Balkes Bericht öffnete mir die Augen für die kleinen Seltsamkeiten im Oderbruch. Durch die Enten- und Gänsemast kam der Landstrich zu Geld, dass aber die Manieren und der Geschmack nicht Stand hielten, darüber klagten schon Fontanes Zeitgenossen. Die feinen Berliner und der Landadel meldeten ästhetische Probleme mit den Neureichen an. Die waren freie Bauern und wussten nicht, wohin mit ihrem vielen Geld. So gibt es einstöckige Häuser mit kunstvoll geschmiedeten Balkonen, und auf den Friedhöfen stehen prachtvolle Grabanlagen aus schwarzem Marmor, mit mannshohen Skulpturen. Als es endlich die ersten Kraftfahrzeuge zu kaufen gab, kannten sie kein Halten mehr und meldeten mehr Kfz pro Kopf als alle anderen Landesteile.
An den Bushaltestellen in Wriezen sind es Alte, Behinderte, Schulkinder und Flüchtlinge, die warten. Der freundliche Busfahrer begrüßt jeden Fahrgast einzeln und bringt die arabischen Mädchen zum Kichern.
„Hat er wirklich yalla gesagt?“ giggeln sie.
Ein älterer Herr aus Altreetz soll mir die Gegend erklären, bestimmt der Busfahrer, als er erfährt, dass ich das erste Mal die Strecke fahre.
„Im Sommer ist es hier sehr schön, aber im Winter ist tote Hose“, erklärt der Herr. Er schwärmt vom Zoo in Altreetz, weil er neben einheimischen Arten auch Affen, Kamele und Kängurus hat.
Ich steige in Neulietzegöricke aus, dem ältesten Kolonistendorf, das mit seinem Fachwerkbestand vollständig unter Denkmalschutz steht.
Das langgestreckte Dorf besteht aus zwei parallelen Straßen, grün und blühend gesäumt. In der Mitte verläuft ein Graben, auf dessen Aushub man die Häuser stellte. Es gibt Federzeichnungen, die die Trockenlegung des Oderbruchs illustrieren, und gerne setzten die Zeichner den Alten Fritz in diese Szenerien, wie er die Arbeiten inspizierte. Man könnte meinen, dass die Kolonisten gleichzeitig den Acker bestellten und ihre Häuser bauten, aber gebaut wurden die Häuser von sogenannten Entrepreneurs.
Heute wirkt Neulietzegöricke wie eine Schau zum Thema „herrlich saniertes Fachwerk“, doch es war ein langer Weg dorthin. Das Ehepaar Ramona und Thomas Schubert betreibt eine Pension, die sie mit unendlicher Geduld nach allen Regeln des Denkmalschutzes saniert haben, ein Schmuckstück des Dorfes. Herr Schubert rät mir, Bürgermeister Horst Wilke zu treffen, der seit der Wende nicht ruht, um Familien und Handwerker ins Dorf zu holen, Neukolonisten, die den Verfall der historischen Dörfer stoppen. Ich rufe ihn an und schnell sind wir für den Abend in der Gaststätte „Zum Feuchten Willi“ verabredet. Den lustigen Namen hat sie aus dem Film „Salz und Brot und gute Laune“ (DDR 1980), den man hier in Realkulisse drehte. Das Schild nahm man nach den Dreharbeiten nicht mehr ab. Im Schankraum trifft sich die Gegend. Ein gelbstichiger Nackedei-Kalender ziert den Bereich hinter dem Tresen. Wenn auch viele Kneipen im Oderbruch dicht gemacht haben, hoffen alle, dass Wirt Pübke noch ein bisschen durchhält. Die Gespräche, die alle mit allen führen, selbst wenn sie an verschiedenen Tischen sitzen, drehen sich um die Nachwuchssorgen des Angelvereins und um die Andersartigkeit des Lebens in Berlin. Schlachter Kaminski bringt gerade frische Ware. Die kleine Karte ist auf das Wesentliche reduziert; Wurst, Buletten, Kartoffelsalat. Ich bestelle eine heiße Lungenwurst, die rauchig und gut gewürzt ist, dazu schmeckt böhmisches Bier. Wilke kommt, er gibt allen die Hand. Seit 28 Jahren ist der pensionierte Bahner Bürgermeister der Gemeinde Neulewin, zu der Neulietzegöricke und Güstebieser Losse gehören. Ich lese ihm aus der Akte eine Anekdote vor, die Malermeister Balke wohl selbst nur vom Hörensagen kannte, und vermutlich spielt sie in der Zeit zwischen den Weltkriegen: Einer hat die anderen Bauern eingeladen zum Besäufnis, da kamen alle angelaufen, direkt vom Acker, mit ihren Holztiffeln, und sind in die Kneipe gegangen. Dann hat er gesagt, er würde sie mit dem Auto nach Hause fahren. Als alle besoffen waren, hat er sie aber an den Alexanderplatz gefahren. Und da rausgelassen. Solche Schoten sollen passiert sein. Aber ansonsten wurde nur gerackert.
Wilke wird nachdenklich und sagt, er hätte Balke viel zu verdanken. „Er hat mir so manches beigebracht, was ich heute noch mache.“ Zusammen waren sie auf der Grünen Woche in Berlin gewesen, Balke, wieder als Alter Fritz verkleidet, rief dem Ministerpräsidenten Platzeck zu: „Kerl, schere er sich her, sorge er dafür, dass die Gemeinden und Kommunen immer mit ordentlich Talers versorgt sind.“
„Heute liege die Arbeitslosigkeit nur noch bei sieben Prozent“, sagt Wilke.
Die schönen Männer vom Oderbruch
Die Tage in Neulietzegöricke erweckten den seltsamen Eindruck, dass im Oderbruch ausgesprochen schöne Männer leben, freundliche Männer, mit denen man gut ins Gespräch kommt. An einem launigen Abend in Berlin-Mitte erzählte ich zwei Freundinnen davon. Wir saßen in einem gut gefüllten Lokal, und vielleicht hörten auch ein paar mehr Ohren zu. Keine sechs Wochen später berichtet Peter Herbert, Zeuge eines ungewöhnlichen Spektakels geworden zu sein: „Da kamen ein Dutzend Motorräder ins Oderbruch geknattert, martialischer Anblick, viele Harleys dabei, und sie hielten direkt vor mir. Als sie ihre Helme abnahmen, sah ich, dass es alles Frauen waren. „Wir haben gehört, dass es hier so schöne Männer geben soll, da wollten wir selbst mal gucken.“
Gemeinsam sind wir lieber langsam
Schloss Sonnenburg, südlich von Bad Freienwalde im Wald gelegen, gehört mit seinen eingefallenen Nebengelassen und einem seltsamen Hügel direkt vor dem Haupthaus – Relikt eines gesprengten Bunkers – seit wenigen Jahren Werner Gerber, einem Theatermann aus der Schweiz, der Ostdeutschland gut kennt.
Ich bringe ihm den Bericht der alten Emma Fuhrmann, die schon unter Ribbentrop hier arbeitete und bis zu ihrem Lebensende hier wohnte. Er habe von ihr gehört, sagt Gerber, er wolle auch diesen Teil der Geschichte aufarbeiten.
Mit den Uchtenhagens, einem Raubrittergeschlecht, das Sonnenburg gründete, kennt er sich prächtig aus. Er glaube aber nicht, dass Ribbentrop den Hitler-Stalin-Pakt hier im Garten austüftelte, sagt er. Es gebe viele Nazi-Legenden im Oderbruch. Manch einer glaube ja auch, dass Arno Breker, Hitlers Lieblingsbildhauer, der auf einem Gut bei Wriezen lebte, Skulpturen im Sumpf versenkt habe.
Wir sitzen in einer runden, nach allen Seiten offenen Holzhütte, die Gerber als Gemeinschaftsküche bauen ließ. Die Robinien wachsen fast hinein.
„Hier hat schon Kochen mit Syrern stattgefunden“, sagt er.
Er will das Gelände langsam und mit vielen Gruppen gemeinsam entwickeln. Langsamkeit und Lastenverteilung sind sein Schlüssel zum Gelingen eines solchen Vorhabens, an dem andere scheitern, weil sie sich finanziell übernehmen, und die Einnahmen aus dem Tourismus und durch Berliner Hochzeitsgesellschaften überschätzen. Bislang haben ein bäuerliches Projekt und ein alternatives Wohnprojekt angedockt. In die Speichermühle sollen später einmal Räume für Seminare und Therapien. Wer Ideen hat, kann sich über Erbpacht beteiligen. „Vielleicht erlebte ich es nicht mehr, wenn alles fertig ist“, sagt Gerber. Man habe sich bei einem deutsch-polnischen Förderprogramm beworben, nun warte man auf den Bescheid. „Hauptsache, es gibt hier keine Vereinzelung durch Privathäuser mit Vorgarten und Garage.“
Odergott vs. Moormännchen
Lebt eine böse Nixe im Baasee, die Badenden in die Tiefe zieht? Niemand schwimmt dort, die Leute warnen sich. Wandelt Viadrus, der Gott der Oder, auf der Suche nach seinen verlorenen Fischgründen durch den Bruch, auf stämmigen Beinen, mit einem Dreizack in der Hand? Er soll ein schwermütiger Gestaltenwandler sein, dessen Reich nun die Grenze zwischen Polen und Deutschland markiert. An einen Flussgott wird kaum jemand denken, der zum Tanken nach Polen rüber macht, oder zum Arbeiten in Richtung Berlin muss.
Und doch steht an der Oderfähre seit wenigen Jahren eine rot gestrichene, metallene Viadrus-Skulptur auf der deutschen Seite, damit doch mal jemand an ihn denkt; nicht nur Dr. Denk, der Augenarzt und Heimatchronist aus Bad Freienwalde. Dr. Denk setzt sich für die Figur des Viadrus in jeder Hinsicht ein – publizistisch und mäzenatisch. Aber der Mann mit dem großen Bürgersinn hat es nicht immer leicht, zumal in Bad Freienwalde gerade kleine, grau-braune Moormännchen in Mode sind. Es sind Keramik-Männlein im mittelalterlichen Gewand. Sie flankieren offene Tongefäße, das sollen wohl Badezuber sein, und preisen die Kraft des Moorbades an, so auch auf der offiziellen Kurbroschüre. Moormännchen scheinen Verwandte der ostdeutschen Abrafaxe und der westdeutschen Gartenzwerge zu sein, damit gehören die zu der Familie der Hausgeister, die dem Menschen dienstbar sind, wenn man sie nicht verärgert. Mit so etwas Vulgärem wie einer Schlammbad-Werbung gibt sich ein Flussgott natürlich nicht ab. Aber was ein Odergott ist, der wird über die Jahre auch ein Kleinvolk aus dem Moor dulden lernen. Und was die Moormännchen sind, die werden Spaß daran finden, einen alten, weißen Gott ärgern zu dürfen. Nur die Nixe zieht ihre Bahnen, bis ein Strudel entsteht, und dann schauen die Menschen in den Baasee, und es bewegt alle die große Frage: Wo in diesem Oderbruch lässt sich vernünftig baden?