Der Zauber steckt im Detail

Heike Gfrereis und Jan Söffner

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2019 ist Fontane-Jahr. Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers entsteht in Neuruppin eine große Fontane-Ausstellung, gefördert von Kulturstiftung des Bundes. Die Kuratorin Heike Gfrereis und der Kulturwissenschaftler Jan Söffner tauschen sich über den „märkischen Goethe“ (Kurt Tucholsky) aus. Mit dem Ergebnis, dass man ihn lieben muss – und (neu) lesen will. 

 

Jan Söffner: Meine Großmutter, eine 1902 geborene, aus einem Dorf in Brandenburg stammende Berlinerin, las die Wanderungen durch die Mark Brandenburg immer und immer wieder. Es war ihr völlig egal, ob sie ein Lesezeichen verlor; sie fing einfach irgendwo wieder zu lesen an. Sie tat das, soviel ich weiß, bis zu ihrem Tod. Und ich frage mich heute, ob das, was sie in Fontane fand (und von dem ich mir nicht ganz sicher bin, was es war), überhaupt noch in ihm zu finden ist – und wenn ja, auf welche Weise.

Heike Gfrereis: Der Vater des Schriftstellers und Verlegers Michael Krüger hat jeden Abend im Bett drei Seiten Fontane gelesen, davon immer zwei vom Vorabend, um den Anschluss zur neuen Seite zu haben. Vielleicht kann man darauf antworten, ohne Gedanken lesen zu können. Was macht ein Buch mit uns, das so dick ist, dass wir es ohnehin nicht in einem Zug durchlesen könnten? Und in dem auch noch das fehlt, was wir vom Liebes- und Kriminalroman gewohnt sind – eine Story, bei der eine einzige Frage die treibende Kraft bis zum Ende ist: Kommen zwei Liebende zusammen? Wer ist der Täter?

JS: Ja, so eine Spannung fehlt in dem Text; hier wird Heimat erzählt. Fontane konstruiert einen Geschichtenteppich als Landschaft. Die Wanderungen sind Streifzüge durch Zeit und Raum. Darin steckt auch eine Form der Körperlichkeit. Dieses Verfahren entfaltet vielleicht dann einen ganz besonderen Effekt, wenn man diese Landschaft auch physisch durchwandert. Fontane macht sie durch diesen Geschichtenteppich anders bewohnbar. Vielleicht ist eine Leserin, die das Buch immer bei sich trägt, die ideale Fontane-Leserin?

HG: Die Wanderungen sind nicht wirklich ein Mitnahmebuch. Der erste Band hatte, als er 1862 erschien, beinahe 500 Seiten. In der großen historischen Fontane-Ausgabe von 1997 umfassen die Wanderungen 5175 Seiten mit Kommentar. Solche Bücher werden eher selbst zur Landschaft und dann vielleicht irgendwann, als Lebensbuch, zur Heimat. Man leiht als Leser hier in der Imagination dem ganzen Land Seele und Körper, vor allem den Leerstellen, von denen Fontane erzählt: den halb verfallenen Klöstern, Herrenhäusern und Naturruinen, den zweifelhaften Dingen, verlorenen Wörtern und gestorbenen eigenwilligen Menschen. Und man tut das offenbar in einem unverbindlichen Wechselspiel aus Lesen und Nicht-Lesen, poetischem Spiel und Realitätsüberprüfung. Vielleicht hält man überhaupt nur die Lektüre aus, wenn man die Wanderungen als Tagesausflug versteht. Sie verlangen gerade nicht, was die Liebes- und Kriminalromane tun: Lesen bis zur Erschöpfung.

JS: Fontane schreibt niemals monumental, er sorgt eher dafür, dass die Geschichte seine Leser so anfliegen kann wie eine Erinnerung, die einen beim Anblick eines Ortes überkommt. Das kam meiner Großmutter sehr entgegen. Sie lebte in West-Berlin und kam an die Orte ihrer Kindheit kaum je physisch zurück. Die Lektüre half ihr, Wurzeln zu schlagen. Ist Fontane also eher ein Autor der feinen Töne und der Unterschwelligkeit als der Handlung und Spannung?

HG: Ganz sicher. Wir ahnen immer schon bei den ersten Seiten seiner Romane, dass sie nicht gut ausgehen werden. Fontane nutzt die Elemente des Aberglaubens und des Verbrechens. Er streut Vorzeichen und Spuren aus, die so banal und selbstverständlich erzählt sind, dass sie vollkommen glaubhaft werden. Wir können als Leser zuschauen, wie sich das erfüllt, was wir schon ahnen. Viele seiner Geschichten lassen sich auf kleinste Verschiebungen reduzieren. Letztlich passiert in Effi Briest nichts anderes, als dass die Sonnenuhr, die wir am Anfang sehen und die im Sprichwort nur die glücklichen Stunden zählt, am Ende durch den Grabstein der Titelheldin ersetzt wird. Das ist nicht im herkömmlichen Sinn spannend, aber in einem, wenn man so will, magischen, materialistischen oder eben poetischen oder manchmal sogar humoristischen Sinn. Die Dinge, die zum halb abgelebten modischen Landschafts- und Zimmereinrichtungsapparat dieser Zeit gehören, unterwandern die Geschichten und werden zu den eigentlichen Mächten unsres Lebens. Und sei es nur in unserem Unbewussten.

JS: Die Wanderungen sind aber keine solchen Verschiebungen, oder? Sie haben nicht in diesem Sinne Anfang und Ende.

HG: Nein, mir kommen sie vor wie die riesige Beweisführung eines einzigen Satzes: Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Oder, um noch eine Variante hinzuzufügen: Wer die Kröte liebt, der hält die Kröte für Diana. Such’ nicht immer nur die spektakulären Dinge. Lass den geilen Blick aufs große und doch immer klebrig-schmierige Ganze. Verzichte auf die hehren letzten Ziele, die für die theologische Dogmatik wie die politisch-militärische Strategie so wichtig sind. Komm ab vom Weg. Freu Dich an den Augenblicken.

JS: Ja, das ist einerseits eine vom Text selbst mitgegebene Gebrauchsanweisung zur Lektüre; andererseits aber auch eine Gebrauchsanweisung für eine Lebenshaltung, einen Blick fürs Unscheinbare, den Fontane seinen Lesern vermitteln will. Das treibt ihn in eine merkwürdige Form der Detailverliebtheit. So erzählen einerseits die Wanderungen Dinge, von denen man denken würde, dass sie für eine Wanderung zu ausufernd wären. Und umgekehrt nutzt er die auktoriale Erzählweise seiner Romane für Details, die auf den ersten Blick so wirken, als würden sie weder für die Handlung noch für die Charakterisierung der Figuren noch für die soziologische Analyse einer Zeit allzu viel bringen. Sie sind noch nicht einmal immer besonders stimmungshaft. Es sind einfach Details. Punkt. Auf sie soll man sich um ihrer selbst willen einlassen. Fontanes Wette ist, dass einem das dann etwas bringt – und das für mich Erstaunliche ist, dass er diese Wette ziemlich häufig gewinnt.

HG: Fontanes Imperativ ist: „Der Zauber steckt immer im Detail“. Im Volksmund ist es der Teufel, bei Aby Warburg der liebe Gott.

JS: Aber es ist nicht allein der Blick, oder? Es geht auch um eine besondere Zeiterfahrung bei einem so langen Text.

HG: Man darf nicht vergessen, dass nahezu alles, was Fontane schrieb, nicht gleich als Buch erschienen ist, sondern zuerst in Zeitungen und Zeitschriften, als Fortsetzungsgeschichte wie Effi Briest oder Aufsatzfolge wie die Wanderungen. Diese Texte sind daraufhin berechnet, dass die Leser während der Lektüre noch ein Leben außerhalb haben und ab und zu unaufmerksam sind oder ein Stück verpassen. Darin einer Fernsehserie nicht unähnlich. Werden solche Texte zum Buch gebunden, gewinnen sie ein Eigenleben, eben weil wir sie nicht verschlingen, sondern sie liegen lassen, ab und zu darin blättern und uns dann darin verlesen. Sie sind da wie beste Freunde, lassen uns alle Freiheiten, verwirren uns nicht die Sinne. Wir brennen nicht mit ihnen durch. In der Weltliteratur kennen wir solche Bücher. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, Der bleiche König von David Forster Wallace, J.J. Voskuils Das Büro, Thomas Pynchons Die Enden der Parabel, Adalbert Stifters Nachsommer.

JS: Da haben wir offenbar ein ähnliches Verständnis von Fontane als einem Autor, der es auf eine Zeitlichkeit anlegt, die etwas Besonderes erlaubt: dass man mit seinen Texten lebt. Dieses Leben mit den Geschichten scheint mir ein ganz entscheidender Aspekt unserer heutigen Zeit zu sein, in der zwar alle darüber klagen, dass sie keine Zeit haben und dass ihr Leben zu sprunghaft zwischen vielen verschiedenen Formen der mehr oder weniger durchdigitalisierten Welt springen, sich aber gleichzeitig Langerzählungen durchsetzen: HBO- und Netflix-Serien, Videospiele über zig Levels, die gut und gerne mal fünfzig Stunden brauchen, dicke Romane. Vielleicht aus Sehnsucht nach dem Stabilen, dem Andauernden, wobei ich mir da nicht sicher bin. Sicher bin ich mir aber, dass man diese Geschichten immer mit ins Leben nimmt: Sie kosten derart viel Zeit, dass sie nichts für eine bloße Auszeit sind, sondern ins Leben hineinragen. Sie wirken – zumal dann, wenn sie nicht abgeschlossen sind – wie Ohrwürmer, die einen durch den Tag begleiten. Sie vermitteln auf unterschwellige Weise Haltung und Orientierung – und genau das leisten schnelle und sprunghafte Informationen eben nicht. Wer würde aber leugnen, dass Haltungen (und auch das Bewahren von ‚Haltung‘ im engeren Sinne) ein entscheidender Fokus von Fontanes Blick auf Figuren und Charaktere sind. Ich glaube, das überträgt sich auf die Leser. Vielleicht gilt – auf andere Weise – so etwas auch für die Landschaft, die Fontane so am Herzen lag – also mit dem Habitat, in dem ein Habitus sich ausbildet?

HG: Ich habe jetzt eine Seite der Wanderungen aufgeschlagen: „Auf dem Plateau des Teltow, ziemlich halben Weges zwischen Trebbin und Zossen, liegt das Dörfchen Saalow. Elsbruch, Kiefernwald und sandige Höhen fassen es ein, und die letzteren, die den grotesken Namen der ‚Höllenberge‘ führen, bilden neben einem benachbarten See, der ‚Sprotter Lache’, so ziemlich die ganze Poesie des Orts.“ Hier wird die beschriebene Welt plötzlich in all ihrer Einfachheit und Kargheit dicht gefügt. Allein durch den Klang und die Bildlichkeit der beiden zitierten Namen. Höllenberge und Sprotter Lache. Bei Fontane kippen die Wörter und Buchstaben immer wieder aus dem Satz heraus. Sie verselbständigen sich und werden lose und eben auch dinglicher. Die Sprache und das Sprechen, unsere sprachliche Haltung zur Welt, die uns bestimmte Wahrnehmungen und Empfindungen ermöglicht und diese Welt im Grunde erst erzeugt, werden dabei die eigentlichen Gegenstände dieser Texte.

JS: Die Detailverliebtheit, über die wir schon gesprochen haben, überträgt sich eben auch auf die Wörter. Und das Menschliche wandert genau in sie hinein: Es sind Wörter, die sich manchmal in Form von Haltung und Gespür besser erschließen als in Form von Bedeutungen. Es geht dabei nicht um das Spiel von Bedeutungen, sondern darum, welche emotionale Haltung man zu den Wörtern eingeübt hat. Fontanes Wörter spielen nicht, sie gehen direkt in die gefühlte Haltung ein.

HG: Fontane selbst führt dieses Ineinsgehen von Wort, Gefühl und Haltung mitsamt aller Doppeldeutigkeiten auf seinen Vater zurück: „Er sagte nicht gern ‚auf Erden‘, sondern bevorzugte die Wendung ‚auf dieser sublunarischen Welt‘. Was ihn dazu bestimmte, war lediglich ein Klangbedürfnis und jede Sprache, die dazu mithalf, war ihm gleich willkommen.“ Der Stechlin ist ein Romanheld, der sich selbst permanent in Klammern widerspricht und zudem seinen Namen mit einem See, einem Dorf und einem Schloss teilt. „Ich, das sind viele“, das gibt es hier schon, wobei bei Fontane ein nicht geringer Teil unserer Identität in der Landschaft liegt, die um uns ist, ebenso wie in den Dingen und den Wörtern, über die wir verfügen. Wir sind das, was wir sagen können. Auch wenn wir es nicht ganz verstehen und nur eine Ahnung haben, eben ein Gefühl.

JS: Zum Beispiel?

HG: Der alte Stechlin liebt die vieldeutigen Wörter: „Die Stechline haben immer alles verurscht“ – „Ich bitte dich, wähle doch andere Worte.“ – „Warum? Verurscht ist ein ganz gutes Wort. Und außerdem, schon der alte Kortschädel sagte mir mal, man müsse gegen Wörter nicht so streng sein und gegen Namen erst recht nicht, da sitze manch einer in einem Glashause.“ Oder: „Früher würd’ ich gesagt haben zeitgemäß; jetzt sagt man ‚opportun‘. Hast du schon mal davon gehört?“ – „Ja, gnädiger Herr, gehört hab’ ich schon mal davon.“ – „Aber nich verstanden. Na, ich eigentlich auch nich. Wenigstens nicht so recht.“

JS: Das Nichtverstehen, genauer vielleicht, das Innehalten vor dem Verstehen, ist hier Grundbedingung. Fontanes Charaktere sind zum Handeln und Entscheiden gezwungen, ohne dass sie eigentlich verstanden haben, worin sie handeln und worüber sie entscheiden. Fontane entwickelt darin eine besondere Meisterschaft, indem er sie in seinen Stil, in seine Sprache auf teils sehr eigenwillige Weise hineinholt. Wie sieht dieses Hineinholen in der Praxis aus, beim Schreiben?

HG: In seinen Notizbüchern sieht man aufs Schönste, wie beweglich Fontane mit dem umgeht, was er notiert. Fontane sammelt und kompiliert Stoff. Ein aufgeschnapptes Wort, ein erwischtes Landschaftsbild, eine gehörte Spukgeschichte, ein gelesener Kriminalfall können Teil eines Romans werden, einer Theaterkritik oder eines Gedichts. Fontanes Wege sind krumm, seine Felder wie Kraut und Rüben. Zum Glück für jeden Ausstellungskurator.

JS: Das heißt: Man kann diese Texte ausstellen, aber nicht im klassischen Sinne edieren, also als geordnete Sammlung zwischen zwei Buchdeckel bringen?

HG: Können schon. Die Frage ist: Was muss man wegschneiden, damit sie hineinpassen? Und: Was verschenkt man an Erkenntnismöglichkeiten, wenn man darauf fixiert ist, dass Texte etwas sind, was wir von vorne bis nach hinten lesen, um einen eindeutigen und einfachen Sinn herauszuinterpretieren? Fontane ist ein Kreuz- und Querarbeiter. Da geht einer immer wieder durch den Geschichtenteppich seiner Aufschriebe, bis sich etwas herauskristallisiert, dass er erzählen kann, von Punkt zu Punkt, trotz aller Auslassungen dazwischen. Fontanes Romane verschweigen ja mindestens die Hälfte, gerade, weil ihre Figuren so viel reden. Über unangenehme Stellen wird hinweggeplappert. Diese blinden Flecken sind sichtbarer als der Rest. Das, was noch mitten im Schreiben steckt und damit irgendwo zwischen Finden und Erfinden, Diktion und Fiktion, Paratext und Text, Papier, Bleistift und Tinte ist eigensinniger, widerständiger, sichtbarer, begreifbarer und damit realer und gegenwärtiger als der geglättete, ausgefeilte Text. Es ist von vornherein klar (auch für den Autor, der oft selbst nicht mehr alles lesen kann), dass wir dieses Buchstabengewimmel und Zeichenchaos nicht restlos in etwas Drittes überführen können, wie wir es so gern ausgerechnet bei der Literatur machen. In einen Sinn, einen höhere Bedeutung, so etwas wie den in alle Formen und Sprachen übersetzbaren „Gehalt“ oder eine „Aussage“.

JS: Ging Fontane eigentlich ins Museum?

HG: Er ist ein Liebhaber der flüchtigen Bilder, auch im Museum. Einen Besuch im Kopenhagener Thorvaldsen-Musuem resümiert er: „Dieses flüchtige Sehen hat mir einen Eindruck geschaffen, den mir ein Studium nicht hätte geben können. Die Wirkung auf mein Gemüt würde bei häufigerem Sehen sich allgemach vermindert haben.“ Fontane gibt sich mit Stückwerk und Oberflächen zufrieden, mit einem unverbindlichen ästhetischen Eindruck. Voraussetzung dafür ist jene Langeweile, wie sie nicht nur aus zu viel Zeit, sondern auch aus zu wenig resultieren kann. Sie ist substantiell für jede Erfahrung von Kunst und Poesie. Ich empfand es als Kind immer als etwas Schönes, wenn es im Museum langweilig war.

JS: Die Akzeptanz der Langeweile scheint mir etwas zu sein, das man mitbringen muss, um Fontane wirklich lieben zu können. Es kann einem ab und zu ziemlich langweilig werden, wenn man ihn liest. Aber es ist eine besondere Form der Langeweile. Martin Heidegger hat das Menschsein an der Langeweile festgemacht, weil nur dann, wenn man sich langweilt, die Welt einen nicht in Beschlag nimmt. Man erlebt sich selbst als offenes Wesen, das vielen Möglichkeiten gegenübersteht. Fontane scheint mir, avant la lettre, aus dieser Erkenntnis poetischen Gewinn zu schlagen: Wer ihn genau liest, dem tritt das, was er erzählt, immer gerade deshalb in seiner ungeheuren Präsenz entgegen, weil er sich beim Lesen langweilt. Und das macht die Langeweile paradoxer Weise äußerst spannend.

HG: Das ist das Drama der Effi Briest: Sie hält die Möglichkeiten nicht aus, die die Langeweile eröffnet, sie flieht vor der Zeit, die sie am Ende einholt. Wir spüren, dass die Zeit relativ ist, sie kann wahnsinnig zäh sein und dann doch zu einem Raum werden, in dem wir uns vollkommen verlieren. Auch Museen setzen uns dem Raum dieser zähen Zeit aus, dieser trägen Stimmung. Ihr Kreativitäts- und Präsenzdruck auf uns ist enorm. Museen sind die institutionalisierte „Sonntagsextralangeweile“, um ein Fontane-Wort zu verwenden. Fontane ist in diesem Sinn ein musealer Autor. Für Fontane ist die Langeweile, neben dem Zwang, mit dem Schreiben Geld verdienen zu müssen (und also neben der Existenzangst), das Hauptantriebsmittel. „Die Langeweile ist kolossal und wäre noch kolossaler, wenn ich nicht das Menschenbeobachten hätte“, berichtete er aus einem Sommerurlaub seiner Frau.

JS: Urlaube waren sowieso nicht so seine Sache, oder? Nicht, dass er nicht gereist wäre, aber man hat immer das Gefühl, dass er seine Heimat mitnimmt, das Fremde nur nutzt, um das Eigene besser zu verstehen.

HG: Zumal es in Wahrheit eben meist ein Fahren ist und damit ein schneller Systemwechsel. „Wie undeutschgermanisch bin ich doch!“, notiert Fontane zu Beginn seiner Italienreise und nach einigen Tagen: „Ich komme preußischer zurück denn je. Freiheit und weiter nichts, ist etwas ziemlich Elendes.“ Fontanes Spaziergänger, Wanderer und Beobachter sind weder romantische Taugenichtse noch Baudelairsche Flaneure. Sie brauchen nicht notwendig die Großstadt und es trifft sie beim Anblick einer Vorübergehenden auch nicht der Schlag, aber sie werden mit der Sehnsucht nach einem anderen Leben infiziert. Als Fontanes Cécile das erste Mal ihrem späteren (vermutlichen) Liebhaber begegnet, kommentiert das der Erzähler: „Wie belebt und erheitert, nahm diese plötzlich ihres Begleiters Arm“. Bei Fontane ist die ästhetische Kategorie der Plötzlichkeit weit entfernt von jener der Erhabenheit. Er ist spießiger als Baudelaire, aber auch menschlicher.

JS: Ist Spießigkeit fünfzig Jahre nach 1968 eigentlich noch eine Kategorie? Und inwiefern ist seine Spießigkeit vielleicht politisch? Hat die Form, die Fontane dem Politischen gibt, uns vielleicht sogar gerade jetzt etwas zu sagen?

HG: 1919 schrieb Kurt Tucholsky über Thomas Manns Fontane-Buch, es zeige den Spießer auf, der keiner war: „In seinen Augen lag immer das gewisse leichte Zwinkern, der kleine Berliner ,Plinzler‘, der die Möglichkeit zum Rückzug offenläßt und der deshalb jedes Pathos erträglich macht – weil man weiß: der bullert keinen Theaterdonner.“ Dieser Blinzler passt weder zum Spießbürger noch zum radikalen Revolutionär. Er stünde uns aber allen gut an. Ohne Humor wird‘s auch nicht besser. Schon gar nicht in der Politik.

JS: Damit diese Leichtigkeit ihre Funktion erfüllen kann, braucht es auch ein Gegengewicht, etwas Schweres, über den der Blinzler sich erhebt. Sonst schreibt man irgendwann über gar nichts mehr. Ohne Pathos kein guter Blinzler. Darin liegt sogar eine Asymmetrie, denn ohne Blinzler kann es durchaus gutes Pathos geben. Bei Fontane, so scheint mir, gibt es beides – und man weiß oft nicht so genau, wann und wo der Blinzler wirklich greift. Manchmal habe ich den Eindruck, das hängt damit zusammen, dass Fontane in einer Zeit lebte, in der das Erzählen als Form der Wissensgewinnung noch nicht so sehr in Verruf gekommen war wie in unserer Zeit, wo man, überspitzt gesagt, hinter jeder Erzählung einen ideologischen Mythos wittert, den es zu kritisieren, zu demaskieren oder zu dekonstruieren gilt. Das Erzählen hatte zu Fontanes Zeit noch einen ganz anderen Stellenwert für die Wissensgewinnung. Es war auch noch nicht so konsequent aus den Wissenschaften verbannt wie heute – umso größer war umgekehrt das epistemologische Selbstbewusstsein literarischer Erzähler. Wenn man etwa die Vorrede zur Menschlichen Komödie liest, dann wird man zum Beispiel den Verdacht nicht los, dass Balzac mit seinem Werk en passant die Sozialwissenschaften erfinden wollte. Erzählen sollte leisten, was er Analyse und Theoriebildung nicht zutraute. Wer, wie Fontane, in einer solchen Tradition steht, schreibt dem Erzählen vielleicht einen ganz anderen Wert zu, als man es heute gewohnt ist. Oder dominiert bei ihm längst der Blinzler über solche Ansprüche?

HG: Wer Scherze macht, dem ist es mit seiner Sache nicht automatisch weniger ernst. Gut erzählt ist nicht gleich gefaket, erfunden nicht gleich unwahr. Fontane ist fasziniert von seismographischen Geräten, Psychographen und Telegraphen, unmittelbar aufgezeichneten Schwingungen, übertragenen Nachrichten, historischen, vermeintlich kleinen, lokalen und bedeutungslosen Spuren, von Konversationslexika. Erzählen ist für ihn eine Erfahrung der sprachlichen Bedingungen, unter denen Gefühle und dann auch Realitäten entstehen. Sein artistic research-Projekt ist die Diskurs- und Nebensächlichkeitswissenschaft, wenn er das auch mit dem alten Stechlin anders nennen würde: „Wer am meisten red't, ist der reinste Mensch.“

JS: Wer erzählt, hat immer einen Adressaten. Man mag zwar für sich selbst erzählen, für einen kleinen Kreis von Bekannten, oder für ein großes Publikum. Aber man erzählt nicht ins Blaue hinein: Wird das Publikum zu groß und zu abstrakt, dann schließt sich der Kreis und man erzählt wieder für sich selbst. Zum Schluss daher die Frage: Für wen hat Fontane erzählt? Wer ist sein Adressat?

HG: Der zurückblinzelt.

Heike Gfrereis

*1968 in Stuttgart-Bad Cannstatt, ist Literaturwissenschaftlerin und eine der renommiertesten Kuratorinnen für Literaturausstellungen. Über 120 Ausstellungen hat sie selbst oder mitkuratiert, u.a. zu Harry Graf Kessler, Walter Benjamin, Peter Handke, immer wieder zum Werk Franz Kafkas und jüngst „Ins Blaue“ zum Verhältnis von Literatur und Natur, noch bis Oktober 2018  zu sehen im Literaturhaus München.  Seit 2001 ist Heike Gfereis Leiterin der Museumsabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach (derzeit freigestellt für andere Projekte).

Jan Söffner

Der Romanist und Literaturwissenschaftler Jan Söffner (*1971 in Bonn) ist Professur für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. Das Spektrum der Themen, zu denen er publiziert hat, reicht von Bocaccios Decameron über Metaphern und Partizipation bis zur Anthropologie des 3D-Drucks.  Sein jüngstes Buch Nachdenken über „Game of Thrones“. George R.R. Martins „A Song of Ice and Fire“ erschien 2017 im Wilhelm Fink Verlag.

fontane.200

Aus Anlass der 200. Geburtstag von Theodor Fontane 2019 fördert die Kulturstiftung des Bundes zwei zentrale Projekte im umfänglichen Jubiläumsprogramm. Die Leitausstellung fontane.200/Autor im Museum Neuruppin, kuratiert von Heike Gfrereis, wird die Vielseitigkeit Fontanes und die Modernität seines künstlerischen Schaffens aufzeigen. Die vielstimmige, interaktiv angelegte Schau stellt Theodor Fontane in drei Kapitel u.a. als Wortsampler, Schreibdenker und Textprogrammierer vor.

Im Rahmen des Vermittlungsprojekts Word & Play! entwickeln Jugendliche eigene Geschichten und überführen diese in eine digitale Form. In Game-Workshops können sie eigene Computerspiele entwerfen, die in das Medienangebot der Leitausstellung einfließen werden.

 

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