Kultur meets Gesellschaft: Da treffen zwei der schillerndsten, zugleich am meisten aufgeblähten Begriffe akademischer wie öffentlich-politischer Debatten der vergangenen Jahrzehnte aufeinander. Der eine ist das inflationierte Modewort der 60er und 70er Jahre, als an allem ‹die Gesellschaft› schuld war, die Gesellschaft verändert werden sollte, nach gesellschaftlicher Relevanz gefragt wurde. Der andere bezeichnet den in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht minder modisch gewordenen Wabbelbegriff, der sich in ähnlicher Weise auf alle nur denkbaren Gegenstände anwenden ließ: Kultur war nicht mehr nur ästhetisches Artefakt, sondern auch geistige Reflexion und soziale Praxis; man fand sie von der Kultur des Unternehmens bis zur Freizeitkultur. Was kommt heraus, wenn man diese Begriffe nun kräftig zusammenrührt? Oder sollte man sie lieber strikt getrennt halten, sie möglichst nicht aufeinander beziehen, um nicht zusätzliche Verwirrung zu stiften?
Diese Frage spiegelt sich in zwei unterschiedlichen Positionen wider, die im Hinblick auf das Verhältnis von Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung, von Kunst und sozialer Wirklichkeit oft vertreten worden sind. Zugespitzt kann man diese Positionen wie folgt umreißen: Die eine Option entscheidet sich ganz bewusst für eine Politisierung von Kunst und Kultur. Kultur kann sich nicht in einem abgeschotteten Sonderraum bewegen, sie muss für die Gesellschaft einen Zweck erfüllen, mit anderen Worten: für die gesellschaftliche Entwicklung in Dienst genommen werden. Kultur wird damit zu einer abhängigen Variablen, zu einem Instrument im Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt. Vor dreißig, vierzig Jahren erlebte dieses Denken in der Bundesrepublik wie in anderen westlichen Gesellschaften einen Höhepunkt — gar nicht einmal als eine Zumutung, die von außen an die Kultur herangetragen wurde, sondern in erster Linie als ein gesellschaftskritischer Impuls des Kultursektors, der Kulturschaffenden selber: heraus aus der puren Ästhetik, mitten hinein in die gesellschaftlichen Konflikte. Unter anderen, nicht-demokratischen politischen Bedingungen jedoch wird dieser Anspruch in der Tat von außen an die Kultur herangetragen, möglicherweise durch Zwangsmittel unterstützt, und auch damit haben wir in Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts genügend (schlechte) Erfahrungen gemacht. Im ‹Dritten Reich›, dann auch in der DDR musste sich Kulturproduktion zuvörderst dadurch legitimieren, dass sie dem Regime und den von ihm proklamierten höheren gesellschaftlichen Zielen diente: als Kunst des neuen Menschen in der rassenreinen Volksgemeinschaft, oder als Kunst im Dienste der sozialistischen Gesellschaft und ihrer zukünftigen Vervollkommnung.
Dagegen stand, und steht immer noch, eine zweite Position. Sie will Kultur und Gesellschaft möglichst getrennt halten: Beides habe im Prinzip nichts miteinander zu tun. Die Kunst ist demnach vielleicht nicht gerade zeitlos, sie hat ihre Stile, ihre Epochen. Aber deren Entwicklung folgt einer inneren Logik, einer Eigendynamik des Ästhetischen, und die reine Ästhetik unterliegt einer radikalen Autonomie. Kunst und Kultur sind zweckfrei, sie lassen sich nicht für welche gesellschaftlichen Projekte, für welche politischen Ideologien auch immer einspannen. In diesem Entwurf erscheint der Kulturschaffende selber, erscheint der Künstler nicht als Diener der Gesellschaft, nicht als Zahnrädchen im Getriebe vermeintlichen Fortschritts, sondern als ein geradezu ‹a-soziales› Wesen. Erst im Rückzug aus der normalen Welt kann sich seine ästhetische Kreativität ungehemmt entfalten. Kunst und Kultur entwerfen demnach eine radikale Gegenwelt zur Gesellschaft, jedoch gerade nicht im Sinne einer Spiegelung oder eines Alternativentwurfes der ‹besseren Welt›, sondern im Sinne einer fundamentalen Inkommensurabilität: ihre Messgrößen, ihre Kategorien sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Bevor sich irgend jemand genötigt sieht, in diesem Streit um das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft das eine oder andere Lager zu unterstützen, gilt es festzuhalten: Beide Positionen sind nicht nur nachvollziehbar, sondern vor allem das Ergebnis bestimmter historischer Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert. Beide Positionen sind auf ihre Weise Teil und Ergebnis der Moderne, die sich damit von wiederum älteren Konzepten der Einbettung des Künstlers in die Gesellschaft auf eine Weise unterschied, die in sich paradox war. Denn moderne Kultur, das bedeutet einerseits immer die Autonomisierung der Kunst: ihre Befreiung aus Zwängen und Beschränkungen, aus Bindungen und Abhängigkeiten. Das gilt zunächst in einem inneren, ästhetischen Sinne — die Kunst gewinnt einen ungeahnten Gestaltungsspielraum in Techniken, Formen, Darstellungsweisen; Regeln sind aufgehoben, alles ist in ihr erlaubt. Es gilt aber auch in einem äußeren Sinne. Der Künstler wird frei und autonom, er löst sich aus der materiellen und politischen Abhängigkeit von Auftraggebern, die seine Kunst als höfische oder als religiöse Kunst definieren.
Auf der anderen Seite jedoch vollzieht sich, durchaus parallel dazu, eine Vergesellschaftung der Kunst. Die Kulturproduktion tritt aus ihren Sonderbezirken heraus und wird Teil der neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft — in mehrfacher Hinsicht: Sie wird zu einer Angelegenheit des Bürgertums, das selber Kultur betreibt und Kultur fördert, auch materiell, in Kunstvereinen, Stiftungen, Museen. Und sie wird damit zugleich auf die Ziele dieser bürgerlichen Gesellschaft, auf Emanzipation, Liberalismus, Fortschritt wenn nicht verpflichtet, so doch auf vielschichtige Weise bezogen. Sie wird, auch das gehört zu dieser modernen ‹Vergesellschaftung› un- trennbar dazu, Teil eines Marktes; sie wird ein handelbares, taxierbares Gut; der Galerist, der Agent, der Kunsthändler wird zum Alter ego des Künstlers selber. Sieht man genauer hin, spielt das Bürgertum, die bürgerliche Gesellschaft sogar in beiden Aspekten eine entscheidende Rolle. Denn auch die Autonomisierung der Kunst ist Teil einer Gesellschaft, in der die Bürger sich als Künstler und doch als radikales Gegenbild zu diesen entwerfen. Das ist jene Spannung zwischen Bürger und Künstler, die einen roten Faden nicht nur im literarischen Werk, sondern auch im persönlichen Lebensentwurf Thomas Manns und anderer Klassiker der Moderne bildet. Die Kunst will radikal sein, definiert sich als ‹Avantgarde›; der Bürger bevorzugt das Gesicherte, das Etablierte. Und doch zielt er immer wieder darauf, die Avantgarde einzuholen und seinem eigenen ästhetischen Verständnis anzupassen. (1)
Die Wechselwirkung von Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung ist dabei nur der Sonderfall eines allgemeinen Problems, das längst zu einem Klassiker der sozialwissenschaftlichen Deutung der Moderne geworden ist. Ist die westliche Moderne seit dem 18. Jahrhundert, seit Aufklärung und Französischer Revolution durch eine zunehmende Verselbständigung von Lebens- und Funktionsbereichen gekennzeichnet? Oder ist gerade umgekehrt die Überlappung und Durchmischung zuvor getrennter Segmente von Gesellschaft ihr besonderes Merkmal — so, wie die Kunst Teil der Ökonomie, des Marktes wird? Soziologische Theoretiker einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft stehen gegen solche der Interpenetration. Beide Theorien haben etwas für sich, aber in Reinform lassen sie sich nur schlecht durchhalten. Sie sind, wie schon das Beispiel von Bürgerlichkeit und Kunst gezeigt hat, zu einer letztlich fruchtlosen Alternative geworden. Gilt das schon für die klassische Moderne des 20. Jahrhunderts, dann bestätigt es sich erst recht im Übergang zur ‹postmodernen› Konstellation des 21. Jahrhunderts, deren Herausforderungen wir uns jetzt stellen müssen. Die Autonomie der Kultur und ihre Teilhabe an Gesellschaft sind dann nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Niklas Luhmann hat das in seiner eigenen systemtheoretischen Sprache so ausgedrückt: «Die Kunst nimmt an der Gesellschaft teil schon dadurch, dass sie als System ausdifferenziert wird und damit der Logik eigener operativer Geschlossenheit unterworfen wird — wie andere Funktionssysteme auch. Es geht also nicht primär (wohl aber sekundär) um Fragen der Kausalität und Fragen gesellschaftlicher Einflüsse auf Kunst oder künstlerischer Einflüsse auf Gesellschaft.» Gerade deshalb, weil die Kunst autonom ist und etwas leistet, was sonst nirgendwo in der Gesellschaft geleistet wird, entstehen also neue Fragen an die ‹Gesellschaftlichkeit› der modernen Kunst. (2)
Das klingt abstrakt und ist es auch. Doch lassen sich Entwicklungen benennen, Indizien ausmachen, die sehr konkret auf ein verändertes Verhältnis von Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung seit dem späten 20. Jahrhundert schließen lassen. Ihnen ist gemeinsam, dass neue Mischzonen, neue Verzahnungen sich herausbilden, ohne dass damit jedoch der Anspruch auf unmittelbare gesellschaftliche ‹Relevanz› der Kultur in nur leicht verändertem Gewand wiederkehren könnte. Das ist schon deshalb gar nicht möglich, weil jener großmaßstäbige Fortschrittsentwurf, auf dem die ältere Indienstnahme der Kultur beruhte, in den Krisenerfahrungen seit den 70er Jahren zertrümmert worden ist. Und das ist der erste Punkt: Die Richtung der sozialen Entwicklung ist zweifelhaft geworden, die Utopien vom neuen Menschen in der besseren Gesellschaft sind widerlegt, ihre Energien haben sich scheinbar endgültig erschöpft. Für welchen Fortschritt sollte man die Kultur noch als Geisel nehmen? In dieser Situation einer ‹neuen Unübersichtlichkeit› (Jürgen Habermas) gewinnt Kultur neue Freiheiten, aber auch neue Funktionen. In diffuser Lage ist Kunst, so meine These, vermehrt notwendig, um überhaupt Aufklärung über Gesellschaft zu gewinnen, um den Nebel zu lichten, um mögliche gesellschaftliche Entwicklungen, Bruchzonen und Zukunftshorizonte buchstäblich ‹sichtbar› zu machen, mit den Mitteln von Ästhetik und Visualisierung zu ‹durchschauen›.
Ein zweiter Punkt ist damit bereits angedeutet. Das Ende der Utopien, die Krise des Fortschrittsbewusstseins ist häufig zugleich als eine Krise der Intellektuellen und als eine Erschöpfung des Projektes der Aufklärung verstanden worden: als eine Erschöpfung nicht nur dem Inhalt nach, sondern auch in den Mitteln, mit denen diese Aufklärung primär betrieben worden ist. Intellektuelle Mittel, das kognitive Prinzip alleine — in der Sprache gesellschaftlicher Funktionsbereiche also: die modernen Wissenschaften — reichen nicht mehr aus, um die Welt, um die Gesellschaft zu begreifen. Vor Defätismus gegenüber dem eigenen Gehirn sollten wir uns zwar hüten, aber in diesem Gehirn steckt eben mehr als nur die analytisch-kognitive Vernunft. Wir sind jetzt und in Zukunft aufgefordert, das wäre hier meine These, die Gesellschaft auch mit kulturellen, ja mit ästhetischen Kategorien zu denken und in den Griff zu bekommen. Mit Immanuel Kant könnte man sagen: Wir sollten nicht nur die Kritik der reinen Vernunft, sondern alle drei Kritiken lesen.
Das gilt erst recht in einer Welt, die — dritter Punkt — auch nach unser aller Alltagserfahrung in zunehmendem Maße von Kultur abhängig, von Kultur gesteuert und getrieben wird. Die kulturelle Dynamik der postklassischen Moderne, im Gegensatz zur sozialökonomischen Dynamik einer früheren Phase, ist eine Grunderfahrung des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts geworden. Der Marxsche ‹Überbau› hat sich selbständig gemacht. Wo früher primär ökonomisches Instrumentarium gefragt war, um Sozialstrukturen und soziale Konflikte zu begreifen, hat längst das weite Feld der Kultursoziologie die Oberhand gewonnen. Weil gesellschaftliche Entwicklung immer mehr von kultureller Dynamik gesteuert wird, so meine These, wirkt Kultur in einem weiten Sinne ohnehin auf Gesellschaft ein und wird sich daher auch in ihren reflexiven, ästhetischen, performativen Formen mit konkreten sozialen Tatbeständen beschäftigen müssen. Zwei unterschiedliche Felder lassen sich dafür beispielhaft anführen. Im Innern unserer Gesellschaft sind Massenkultur und Massenmedien besonders seit den 80er Jahren rasant zu neuer Geltung gekommen: mit dem Durchbruch des kommerziellen Fernsehens, mit PC-Revolution und elektronisch visualisiertem Alltag. Neue Kunstformen wie Medien- und Videokunst haben sich parallel dazu durchgesetzt. Die alte Frage nach Autonomie oder Instrumentalisierung stellt sich nicht mehr. Vielmehr sind die Grenzen zwischen Alltag und Kunst, zwischen Gebrauchsfunktion und Nutzlosigkeit der Kunst selber durchbrochen worden. — Und von außen, aber mit enormen Rückwirkungen auf die westlichen Binnengesellschaften, ist uns die prägende Kraft kultureller Identität in weltweiten Konflikten immer wieder dramatisch vor Augen geführt worden; eines 11. September hätte es dazu gar nicht mehr bedurft. Die neuen cultural clashes verweisen auf die Kraft längst verloren oder verdrängt geglaubter Mächte wie der Religion, und nicht zufällig sind dabei immer wieder auch die sichtbaren Zeichen kultureller Identität wie das Kopftuch umstritten. Globalisierung und Migration haben kulturelle Verwirrung gestiftet, die auch mit künstlerischen Mitteln bearbeitet wird. Auch hier, etwa in der ‹postkolonialen› Literatur, versteht sich Kultur ganz notgedrungen, aber auf andere Weise als eine Generation zuvor, als Teil der Gesellschaft.
Migration — das ist bereits ein Stichwort für den vierten Punkt. Gesellschaftliche Entwicklung hat sich immer schon auch räumlich manifestiert, als Wandel der uns umgebenden, vielfältig kulturell geformten ‹Landschaften›, der gebauten, der ästhetischen, der visuell wahrgenommenen Umwelt des Menschen. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren jedoch scheint die Bedeutung dieser räumlichen Dimension, zum Beispiel unter dem Eindruck von Wanderungsbewegungen, oder angesichts großflächiger ökologischer Verwüstungen, gewachsen zu sein — und mehr noch unser Sensorium, unsere Aufmerksamkeit für diese Schicht der sozialen Realität. Die Stadt, die Entwicklung urbaner Räume ist ein Beispiel von brennender Aktualität. Stadträume entleeren sich wie heute in Ostdeutschland oder früher in Manchester oder Detroit, während in Asien und Lateinamerika neue Megastädte explodieren, alte Stadtlandschaften radikal umgebaut werden. Der Begriff des ‹mapping› hat Konjunktur; mit neuen kognitiven und ästhetischen ‹Landkarten› versuchen wir zu vermessen und aufzuzeichnen, in welcher Welt wir uns eigentlich bewegen und wie wir diese Welt zu sehen gewohnt sind. Die räumlichen Wandlungsprozesse und ihr soziokulturelles mapping, das ist die These, sind bereits eine neue, spezifische Form der kulturellen Befasstheit mit gesellschaftlicher Entwicklung. Und wiederum ist die Überlappung so groß, dass sich die Frage des ‹ob überhaupt› gar nicht stellt. Nicht zufällig überspannen die gegenwärtigen Versuche einer Kartierung, einer Topographie der Welt künstlerische Projekte ebenso wie wissenschaftliche Forschungen.
Vermutlich könnte man diese Liste fortsetzen, weitere Beispiele anführen. Denn es geht immer wieder um ein einziges Grundmuster, um einen veränderten Entwurf im Verhältnis von Kultur und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, den wir in mancher Hinsicht noch nicht vollständig begriffen, erst recht verarbeitet haben. Die Konflikte zwischen Kultur und Gesellschaft, wie sie sich in der klassischen Moderne, in der bürgerlichen Epoche herausgebildet haben, sind damit nicht in jeder Hinsicht überholt. Aber die alte Frage, ob und warum Kultur sich auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen befassen solle, beantwortet sich damit auf eine neue, zugleich vielschichtige und selbstverständliche Weise.
1 Vgl. Thomas Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988.
2 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995. Seite 217f.