Blinde Flecken

Von Mark Siemons

Spekulation über eine europäische Kulturpolitik

Im Zuge der diesjährigen EU-Erweiterung wird die Frage nach dem Selbstverständnis, den Aufgaben und Zuständigkeiten einer europäischen Kulturpolitik immer dringlicher. Mark Siemons plädiert dafür, das Hauptanliegen einer europäischen Kulturpolitik müsse es sein, einer Instrumentalisierung der Kultur zu politischen Zwecken entgegenzuwirken. Nur unter dieser Voraussetzung könne Kulturpolitik dazu beitragen, ‹Europa› jenseits von ökonomischen Interessen und administrativen Strukturen als einen kulturellen Zusammenhang zu begreifen. Europäische Kulturpolitik dürfe sich nicht in der Forderung nach mehr Geld für die Kultur erschöpfen, sondern müsse für das Verhältnis von Kultur und Politik einen neuen Rahmen schaffen.

Kulturpolitik stellt sich dem Außenstehenden als einigermaßen geheimnisvolles Geschäft dar. Die Branche, die gewohnheitsmäßig diesen Begriff im Munde führt, erweckt den Anschein, als sei selbstverständlich, was gemeint ist. Davon aber kann keine Rede sein. Nähme man ernst, was die Kulturpolitiker über die Kulturpolitik sagen, dann höbe diese sich selbst auf: Sie soll ja weder kulturell noch politisch sein; sie darf sich kein ästhetisches Urteil anmaßen, welche Kunst förderungswürdig ist und welche nicht — und ein politisches erst recht nicht. Die Kunst soll ja nicht funktionalisiert, zum Mittel werden: Sie ist doch das Ziel. Was aber ist ‹Kulturpolitik› dann? Die Politik, sagt man, soll Kultur nicht selber machen, sondern bloß ermöglichen. Also wird die politische und ästhetische Verantwortung an Jurys und Expertenkommissionen delegiert, und von der Kulturpolitik im engeren Sinne scheint nur die Wucherung der einschlägigen Administration zu bleiben, die von ‹Kultur› so redet, als sei diese ein kompaktes, gleichförmiges Etwas, von dem es gar nicht genug geben kann, um somit ihre, der Kulturverwaltung, eigene Notwendigkeit unter Beweis zu stellen. Indem die Kulturpolitik sich über ihre politischen und ästhetischen Kriterien ausschweigt, macht sie die Kultur zu einem Inbegriff des Status quo: Kultur als das, was ist und was genau so, wie es ist, auch immer bleiben soll. «Die Funktion von Kulturpolitik ist, Ereignisse zu verhindern», schrieb Heiner Müller einmal. Das funktioniert natürlich nur innerhalb eines stabilen gesellschaftlichen Rahmens, der sich durch real existierende Künste nicht so schnell gefährden lässt und daher mit ‹Kultur› als Dekorationsstoff bedenkenlos gefüllt werden kann. Dies alles erwägend, könnte man es durchaus begrüßen, dass die Europäische Union, die von administrativen Wucherungen sonst ja nicht eben frei ist, von einer eigenen Kulturpolitik bislang verschont blieb. So wichtig es ist, die Künste wirksam und klug zu fördern, so wenig ist es schon mit dem Ruf nach mehr Geld und mehr Strukturen allein getan.

Nun bekommen indessen all diese Veranlassungen zur Skepsis, auf Europa angewandt, eine andere Stoßrichtung. Die EU bietet nämlich gar nicht den gesellschaftlichen und staatlichen Rahmen, den eine Kulturpolitik ohne weiteres mit dem Dekorationsstoff Kul- tur füllen könnte. Vielmehr ist dieses eigentümliche Gebilde ‹Europa› selbst, unbeschadet seiner primär ökonomischen Zielsetzung und seiner rapide zunehmenden bürokratischen Verklammerung, vorderhand nicht viel mehr als ein kultureller Zusammenhang — ein Zusammenhang jedoch, der erst einmal recht unspezifisch und diffus bleibt und daher für Instrumentalisierungen gut geeignet ist. Tatsächlich kann man feststellen, dass kaum eine der zentralen politischen Auseinandersetzungen in der EU ohne kulturellen Bezug auskommt. Gleich ob es um die europäische Verfassung, um die transatlantischen Beziehungen oder um die Aufnahme der Türkei geht: Mit dem Verweis auf ‹Kultur› lässt sich so ziemlich jede politische Position begründen.

Das kommt vermutlich daher, dass man meist im Unklaren darüber gelassen wird, was mit ‹Kultur› eigentlich gemeint ist: Soll sie ein Oberbegriff für künstlerische Aktivitäten sein, oder meint man die Summe der Werte, der moralischen und politischen Grundlagen eines Gemeinwesens, oder ist im eher ethnologischen Sinne an das Gesamt der mehr oder weniger bewussten Mentalitäten und Verhaltensweisen einer Gesellschaft gedacht? Unfreiwillig oder planmäßig werden verschiedene Ebenen vermengt, und diese Diffusion ist manipulatorischen Absichten jedweder Art günstig. ‹Kultur› scheint oft bloß der Verschleierung der Machtkämpfe zu dienen, die sich andernorts abspielen, in den Ressorts der Wirtschafts- oder Agrarpolitik, der Verkehrs- und der Strukturpolitik, der inneren und äußeren Sicherheit. Für die Öffentlichkeit bleiben dadurch die realen politischen Optionen im Dunkeln. Im Falle der Europäischen Union ist das um so fataler, als ihre Identität noch durchaus ungesichert und daher besonders anfällig für ideologische Füllungen ist.

Vor diesem Hintergrund könnte man sich eine Kulturpolitik vorstellen, wie es sie bis jetzt noch nicht gegeben hat, wie sie sich aber im Zuge der bürokratischen Einigung Europas — eines Prozesses, den es bis jetzt ja auch noch nicht gegeben hat — geradezu aufdrängt. Diese Kulturpolitik dürfte nicht darin aufgehen, immer mehr ‹Kultur› zu fordern — das machen schon die anderen, denen es dabei manchmal um durchaus handfestere Interessen geht. Ganz im Gegenteil müsste diese Kulturpolitik ihre vornehmste Aufgabe darin erblicken, die Reichweite des kulturellen Arguments zu begrenzen — und dies im Interesse der Kultur wie der Politik gleichermaßen.

Das Beispiel der Türkei-Debatte mag verdeutlichen, wie das gehen könnte. Sowohl die Befürworter wie die Gegner einer Aufnahme der Türkei in die EU pflegen ihre Auffassungen kulturell zu begründen: als Imperativ einer aufgeklärten multikulturellen Gesinnung oder als Gebot einer unterschiedlichen historisch-kulturellen Identität. Beides vernebelt die tatsächliche Alternative. Der kulinarische Multikulturalismus, der an der Verschiedenheit der Lebensweisen seine Freude hat und aus diesem Grund für eine Aufnahme plädiert, kann zur Vernachlässigung und Relativierung politischer und menschenrechtlicher Maßstäbe führen. Und der Versuch, kulturelle Identitäten einzuhegen und zu zementieren, lenkt von den ökonomischen, außenpolitischen und demokratischen Bedenken gegen eine Aufnahme ab und verschärft durch seine Ausgrenzungen dabei just jene Konflikte, die er aus der eigenen Sphäre heraushalten wollte — ganz abgesehen davon, dass dieses Unterfangen in Zeiten der Globalisierung ohnehin illusionär ist. Wenn eine historisch gewachsene Kultur zum unveränderlichen Richtmaß des europäischen Selbstverständnisses erklärt wird und nicht die politischen Prinzipien von Demokratie, Menschenrechten und Laizität, dann droht sich Europa in seiner Vergangenheit einzuschließen, während es sich in der Gegenwart ein möglicherweise immer bedrohlicheres Außen schafft.

Eine europäische Kulturpolitik könnte gegen diese gefährliche Ideologisierung durch ‹Kultur› nun die real existierenden Künste in Stellung bringen und damit dazu beitragen, dass die politischen Alternativen wieder akzentuierter hervortreten. Die Künstler, Musiker, Regisseure und Schriftsteller, die da mit ihren Erfahrungen und Werken zur Geltung kommen, würden eine Verbindung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit — in diesem Falle der Türkei und der europäischen Länder — herstellen, die vielgestaltiger ist als die bereinigten Kultur-Abstraktionen. So könnte etwa deutlich werden, dass sowohl in der Türkei wie in anderen islamischen Ländern viele Muslime, ohne damit ihren Glauben zu verleugnen, durchaus der ‹westlichen Kultur› angehören, indem sie die Ideen von Menschenrechten und Aufklärung, von Demokratie und Marktwirtschaft verinnerlicht haben. Welche Rolle für ihre politische Orientierung etwa der Islam spielt, steht eben nicht ein für allemal fest, sondern hängt vom sich ständig verändernden und neu sich ordnenden politischen Kontext ab.

So ließe sich ‹Kultur› nicht länger im Singular, als etwas Festes, Unveränderliches und Gleichförmiges behandeln, und die politischen Optionen müssten wieder spezifischer, politischer werden. Gewiss gehört diese Arbeit der Unterscheidung der Ebenen zu den normalen Kontrollfunktionen der Öffentlichkeit. Doch da die Macht sich in der Administration sammelt und artikuliert, wäre eine gleichfalls administrative Gegenmacht in Brüssel hilfreich, um die öffentliche Stimme anzustacheln und zu verstärken. Die Auseinandersetzung findet an zwei Fronten statt. Zum einen gilt es, den politischen Akteuren ihr kulturelles Deckmäntelchen zu entwinden und sie so dazu zu veranlassen, spezifisch zu reden. Zum anderen geht es um ein Gegengewicht zum Selbstlauf der Administration und deren Abstraktionen, eine ständige Herausforderung mit den sich wandelnden Realitäten, die diese Abstraktionen auf den Begriff zu bringen sich anmaßen. Die Kulturpolitik neuen Typs müsste das Kunststück fertigbringen, die Erfahrungen der Künste für die demokratische Willensbildung nutzbar zu machen, gerade indem sie auf der Unterschiedlichkeit der Sphären — der politischen und der kulturellen — besteht.

Der Gebrauch der ‹Kultur› ist eben alles andere als harmlos. Wenn Europa tatsächlich auch ein kultureller Zusammenhang ist, dann hängt für die europäische Politik einiges davon ab, daß die Realitäten dieses Zusammenhangs nicht durch falsche Begriffe verstellt werden. In dieser Konstellation müsste der Kulturpolitik das Paradox gelingen, die Kultur auf administrativem Wege den politischen Administratoren zu entziehen und gerade dadurch für die Politik fruchtbar werden zu lassen. Der ‹Lobbyismus› der Künste bestünde in diesem Sinne nicht darin, ein partikulares materielles Interesse der Kunstproduzenten zu vertreten, sich also zuvörderst um Gesetze und Strukturen zu bemühen, die etwa dem Kino, den Literaturverlagen oder dem Kunstbetrieb günstig wären. Die wohlverstandene Interessenvertretung der Kultur bestünde vielmehr darin, die heterogenen Gesichtspunkte der Künste in die Verwaltungsmaschine einzuspeisen und so eine Verbindung der EU herzustellen zu dem, was Europa jenseits der rein ökonomischen Interessen und der administrativen Eigendynamik ausmacht. Diese Arbeit bliebe sonst ungetan, und die Planstelle der Kultur bliebe besetzt bloß von strategisch eingesetzten Worthülsen.

Vielleicht ist das alles etwas utopisch. Eine «europäische Kulturpolitik», der sich die einschlägige Branche erst einmal angenommen hat, sieht vermutlich bald nicht viel anders aus als jede andere Kulturpolitik auch. Doch um den blinden Flecken der gegenwärtigen europäischen Kulturrhetorik auf die Spur zu kommen, lohnt die Spekulation allemal.

Über den Autor

Mark Siemons ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Berlin.

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