Welchen Plot hätten Sie denn gern? In den ersten Jahren nach der Entdeckung des HI-Virus erinnerte die Berichterstattung über die Krankheit AIDS an sensationslüsterne Horrorstreifen oder kitschige Schmonzetten. Vladimir Čajkovac beschreibt die Inszenierung einer Krankheit als Medienspektakel.
„Es war einmal in Amerika, in der Blütezeit der Konsumkultur, als ein primitiver, aber tödlicher Organismus beginnt, ahnungslose Personen inmitten ihres eifrigen Strebens nach Vergnügen zu attackieren. Der Tod kommt schnell und ist besonders grausam. Die ersten Opfer gelten als promisk und haben Drogen- oder Alkoholprobleme. Jeder von ihnen fällt in gewisser Weise aus dem Mainstream heraus oder gehört einer Minderheit an. Der Organismus greift darüber hinaus auch Frauen und, besonders dramatisch, kleine Kinder an. Zu guter Letzt auch weiße, heterosexuelle Mittelklasse-Männer, die monogam oder keusch leben.
(…) Politische und wirtschaftliche Faktoren verhindern, dass effektive Maßnahmen ergriffen werden, bis die Todesrate sprunghaft ansteigt und die Bedrohung für die Gesellschaft nicht länger ignoriert werden kann. (…) Als die Medien das Thema aufgreifen, kommt es zu einer Flut reißerischer Berichte. Es herrscht panische Angst, dass sich die Gefahr unbegrenzt ausbreiten könne, es sei denn, es würde sofort hart durchgegriffen.
Am Ende sind es drei Kräfte, die sich der Herausforderung stellen: Recht und Ordnung, die biomedizinische Technik sowie Findigkeit und Eigenverantwortung im alten Stil. (…) Nach großen Opfern und herkulischen Anstrengungen kann der tödliche Organismus isoliert, untersucht und schließlich ausgelöscht werden. Viele sind tot, aber die amerikanische Gesellschaft kann nun wieder zur Normalität zurückkehren.“[1]
Was sich wie eine Zusammenfassung der AIDS-Epidemie liest, ist in Wirklichkeit der Plot einer ganz anderen Geschichte, nämlich von Steven Spielbergs 70er-Jahre-Blockbuster „Der weiße Hai“. Für den amerikanischen Literaturwissenschaftler Daniel Selden ist diese knappe Inhaltsangabe des Hollywoodfilms ein durchaus geeignetes Szenario, um die AIDS-Epidemie in den wesentlichen Punkten zu umreißen: Unkontrollierbare Natur, tödlicher Ur-Organismus, Randgruppen sowie eine sprichwörtliche Heldentat kombiniert mit traditionellen Werten. Dieses Gedankenspiel und die Analyse Seldons verdeutlichen, wie stark unsere Vorstellungen von AIDS durch Formeln und Szenarien geprägt werden, die in den Massenmedien bereits etabliert sind.
„Nach einer wahren Begebenheit ...“ – Based on a true story ist ein Begriff aus der Filmindustrie, der oft gebraucht und noch öfter missbraucht wird. Er verleiht Geschichten Glaubwürdigkeit und verspricht Authentizität. Dabei ist dieser Begriff dehnbar und wirkt dadurch manipulativ. Natürlich ist AIDS unleugbare Realität, dennoch muss man sich die Frage stellen, wie und durch welche Augen wir die Krankheit als Ereignis, als Geschichte und Phänomen wahrnehmen.
Die Inszenierung einer Krankheit als Medienspektakel zeigt sich erstmals exemplarisch 1885 in den USA, im Fall von vier von einem tollwütigen Hund gebissenen Kindern.[2] Die Kinder aus dem amerikanischen Newark waren nach einer erfolgreichen Fundraising-Kampagne in den lokalen Medien im Dezember 1885 nach Paris zu Dr. Pasteur für eine neue experimentelle Behandlung geschickt worden. Die Tageszeitungen in den USA berichteten regelmäßig ausführlich über die Reise und die Fortschritte in der Therapie. Dieses doch verhältnismäßig bescheidene Ereignis hatte in den Medien ein solch großes Publikumsinteresse ausgelöst, dass die Kinder nach ihrer Rückkehr sogar zeitweise im Globe Museum in der Bowery auftraten. Zwischen den Exponaten thronten sie dort auf einem Sockel, um von den Besuchern, die laut Presseberichten aus jener Zeit in Scharen in das Museum strömten, bestaunt zu werden. Der Ansturm war wohl so groß, dass das Museum auch nachts geöffnet wurde.
Das Bedürfnis nach solch intimen Einblicken ist unersättlich, und seine Befriedigung erlebte mit der rasanten Entwicklung der Medientechnologie im 20. Jahrhundert völlig neue Möglichkeiten. Und wenn es eine Krankheit gibt, die reichlich Material für ein solches Medienspektakel geliefert hat, dann ist das sicherlich AIDS. In den frühen 1980er Jahren brach parallel zur viralen Epidemie AIDS eine kulturelle „Bedeutungsepidemie“ aus, wie die US-amerikanische Theoretikerin Paula Treichler diagnostiziert hat.[3] Neben dem HI-Virus verbreiteten sich weltweit medizinische Theorien, Gerüchte, Ängste, Vorurteile und Interpretationen, mit denen man die bis dahin unbekannte Krankheit zu beschreiben, bekämpfen und erfassen versuchte.
Es war einmal in Amerika ein Monster ... In ihrem Musiktheater-Projekt AIDS FOLLIES setzen sich die Künstler Johannes Müller und Philine Rinnert mit genau diesem Spektakel um die Krankheit AIDS und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung auseinander. Ausgangspunkt des Projektes ist das Leben des vermeintlichen „Patient Zero“ Gaetan Dugas. Dugas starb 1984 mit 31 Jahren an Nierenversagen — ausgelöst durch AIDS. Nach seinem frühen Tod wurde Dugas regelrecht dämonisiert, denn er galt als der Mann, der HIV in den USA verbreitete. Seine Lebensgeschichte wurde erstmals 1987 in dem Buch And the Band Played On des investigativen und offen schwulen Journalisten Randy Shilts veröffentlicht. Die Schlagzeilen in den Tageszeitungen überschlugen sich mit Spekulationen und Falschmeldungen, so z.B. dass Dugas die Krankheit absichtlich von der West- an die Ostküste der USA brachte, begünstigt durch seinen Beruf bei einer Fluggesellschaft. Wiederholt wurden Zweifel an dieser These geäußert, doch der Mythos vom „Patienten Null“ hielt sich bislang hartnäckig. Erst kürzlich wurde Gaetan Dugas wieder einmal von den Anschuldigungen freigesprochen.
Im Jahr 1993 erschien der gleichnamige Fernsehfilm zu Shilts’ Buch. Eine Szene stellt Dugas im Gespräch mit seinen Ärzten dar. Dugas wirkt darin ein bisschen nervös, ein bisschen arrogant, am Hals sieht man die Flecken des Kaposi-Sarkoms, als er mit seinen sexuellen Kontakten prahlt: „Mein lieber Freund, wir sprechen von über tausend Männern auf der ganzen Welt, an deren Gesichter ich mich nicht einmal mehr erinnern kann ...“ Gaetan Dugas war zwar nicht der „Patient Null“, aber mit seinem unverantwortlichen Verhalten hat er nachweislich eine große Zahl von Männern mit HIV infiziert.
Die Geschichte von AIDS reicht jedoch sehr viel weiter zurück – bis in ein Krankenhaus in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo. Dort konnten belgische und amerikanische Wissenschaftler in konservierten Blutproben den HI-Virus nachweisen. Die anonymen Proben stammen aus dem Jahr 1959, ein Jahr vor der Unabhängigkeit von der belgischen Kolonialherrschaft. Die koloniale Ausbeutung und die große Arbeitsmigration hatten das soziale Gewebe in der Region derart zerrissen, dass Mitte des 20. Jahrhunderts der HI-Virus hier auf fruchtbaren Boden fiel. Dazu kamen die schweren Arbeits- und Lebensbedingungen in der rasant wachsenden Stadt sowie die autochthonen Ungerechtigkeiten, besonders in der Beziehung zwischen den Geschlechtern, die dazu beitrugen, dass sich der Virus dort erfolgreich ausbreiten konnte.
Die meisten Geschichten über AIDS setzen jedoch etwas später ein, und mit jeder Wiederholung klingen sie mehr wie ein Märchen: Es war einmal im Jahre 1981 in San Francisco und New York, als die Ärzte asymptomatische Merkmale bei fünf jungen, zuvor kerngesunden homosexuellen Männern feststellten ...
In den Jahren unmittelbar nach der Entdeckung der neuen Krankheit zeigten weder die Medien noch die Öffentlichkeit besonderes Interesse an ihr. Es war die Krankheit der Anderen, wie auch immer man diese definieren mochte. Erst ab Juli 1985 stieg das Interesse am Thema AIDS rasant an. Der Fall des durch Blutkonserven mit HIV infizierten Teenagers Ryan White und der AIDS-Tod des Schauspielers Rock Hudson bildeten die ersten Höhepunkte in der Berichterstattung. Die Krankheit bekam ein Gesicht, mit dem sich das Publikum identifizieren konnte.
Laut Judith Williamson wurde AIDS besonders in den ersten Jahren entweder als Horror oder als Melodram betrachtet: „Das Leiden wird zu einer Ware, die von jeglicher systematischen Ursache isoliert ist: So wie die Quelle irgendeines Problems im Horror-Diskurs im Monster liegen kann, kann auch ihre Wirkung von jeder sozialen Dimension getrennt und auf das einzelne Opfer übertragen werden.”[4] Im AIDS-Narrativ war HIV sicherlich das Hauptmonster, aber der Virus an sich ist unsichtbar. Mit Ryan White war die Rolle des unschuldigen Opfers besetzt. Rock Hudson führte vor Augen, dass jeder infiziert sein konnte, doch trotz Bekanntwerdens seines schwulen Doppellebens ging man nachsichtig mit dem einstigen Saubermann und Frauenliebling um. Somit war Gaetan Dugas derjenige, dem die Rolle des Monsters zugewiesen wurde. Die zur selben Zeit veröffentlichte Geschichte Robert Rayfords wurde hingegen kaum zur Kenntnis genommen. Der Fall des schwarzen, offiziell heterosexuellen Teenagers, der mitten in den USA in einer Arbeitergegend von St. Louis 1969 an AIDS starb, wurde schlicht und einfach ignoriert.
Das Erinnern an AIDS sollte klar und einfach sein: ein Plus, die Schleife, das Dreieck, der Kreis, eine Null. Die komplexe Geschichte und Gegenwart der AIDS-Epidemie wurden und werden häufig in einige wenige Symbole gepresst, die sich leicht vervielfältigen und verbreiten lassen, die niemanden beleidigen und jedem die einfache Teilnahme am globalen Kampf gegen AIDS ermöglichen. Reduziert man diesen aber auf das gelegentliche Tragen der Roten Schleife, so wird die Geschichte eines harten und unfairen Kampfes weichgespült und der Komplex von Rasse, Klasse und Sexualität, Schuld und Scham, der mit HIV/AIDS verbunden ist, ignoriert. Der wiederholte moralische Freispruch des „Patienten Null“ lässt nicht die Gründe verschwinden, die zu seiner Verurteilung geführt hatten. Umso wichtiger ist das komplexe Virus-Panorama, das im Projekt AIDS FOLLIES entsteht und das genau daran erinnert. In unserem Zeitalter, das sich so leidenschaftlich mit der Faktizität auseinandersetzt, müssen diese Bilder, die medialen Vorstellungen und die Realitäten, die sie beeinflussen und mitwirken, auch mit den Menschen und deren Schicksalen verbunden werden.
[1] Daniel Selden: “Just When You Thought It Was Safe to Go Back in the Water ...” in The Lesbian and Gay Studies Reader, hg. von Henry Abelove et al., New York 1993, S. 360–380. Übersetzung des Autors.
[2] Bert Hansen: Picturing Medical Progress from Pasteur to Polio, A History of Mass Media Images and Popular Attitudes in America, New Brunswick (NJ) 2009, S. 396.
[3] Paula Treichler: „AIDS, homophobia and biomedical discourse: An epidemic of signification“, Urbana (IL) 1987, S. 263–305.
[4] David Caron: AIDS in French Culture, Social Ills, Literary Cures, Madison (WI) 2001, S. 101. Übersetzung des Autors.