"Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit." Das Lenbachhaus München will seine einzigartige Sammlung zum Blauen Reiter im Sinne dieses von Wassily Kandinsky formulierten Credos neu präsentieren, indem es die berühmte Künstlergruppe im weltweiten Kontext anderer Künstlerkollektive betrachtet. Das verändert den bisher auf westliche Perspektiven verengten Blick auf die Moderne und erfordert ein Umdenken im kuratorischen Team. Matthias Mühling, Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, gibt einen Einblick in Überlegungen und Planungen in seinem Haus.
Kaum eine Künstlergruppe ist international so bekannt wie der Blaue Reiter. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Haben sich bestimmte Ansichten zum Klischee verdichtet, das in den Museen tradiert wird und den Besucherandrang erklärt?
Es ist schon erstaunlich, dass die Kunst der inzwischen klassisch gewordenen Moderne derart populär ist. Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, warum dem so ist, warum sich eine Gesellschaft ausdrücklich zu einer Kunst bekennt, die fast hundert Jahre alt ist und die es als zeitgenössische durchaus schwer hatte, ein breites Publikum zu begeistern, oder dies nicht einmal wollte. Von dieser Popularität profitiert natürlich auch eine Bewegung wie der Blaue Reiter und mit ihr ein Museum wie das Lenbachhaus, das den weltweit größten Bestand des Künstlerkreises beherbergt. Bilder von Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Franz Marc oder August Macke gelten gemeinhin als „schön“. Und es gibt ja tatsächlich auch etwas Schönes an der Idee der Moderne: Sie verspricht Weltverbesserung und Utopien, Aufklärung und Fortschritt, und die Kunst gibt diesen Ideen eine spezifische neue Formensprache: farbig, expressiv, aufs Wesentliche reduziert. Der Expressionismus ist durchaus etwas, was zum Klischee gerinnen kann.
Was ist demgegenüber in der gängigen Wahrnehmung verloren gegangen?
Wir vergessen leicht das Verstörungspotenzial, welches diese Kunst einmal hatte, das Skandalöse: Oskar Maria Graf berichtet von Unverständnis, ja gar Wut der Münchner Bürger gegenüber blauen Pferden und abstrahierten Bergdarstellungen. Und Kandinsky schreibt in seinen Erinnerungen, dass die ausgestellten Bilder von den Betrachtern sogar bespuckt wurden. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, diese Eindrücke und die Gründe dafür heute noch zu vermitteln. Außerdem sind die meisten Menschen gerne bereit, über dem Versprechen der Moderne, so, wie es sich in der Kunst ausdrückt, die weniger positiven Begleiterscheinungen der Modernisierungsbewegungen zu vergessen, die heute ebenfalls die ganze Welt prägen.
Jahrzehntelang lag in den Museen der Fokus auf der Malerei und auf dem engsten Kreis der Künstlerinnen und, vor allem, der Künstler des Blauen Reiter. Seit einiger Zeit ist nun auch der 1912 erschienene Almanach Der Blaue Reiter stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Kandinsky und Marc haben diese Publikation herausgegeben. Für unser Projekt wird er die Funktion eines Leitmotivs einnehmen. Im Almanach ist ein universelles Kunstverständnis ausgedrückt, die Idee einer gattungsübergreifenden, unhierarchischen und weltweiten Kunst. Daraus ein Zitat: „Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit“. Im Abbildungsteil wird dies dann exemplarisch vorgeführt: Ohne Hierarchien finden sich hier Arbeiten der beteiligten Künstlerinnen und Künstler abgebildet, aber auch Objekte europäischer und russischer Volkskunst, Kinderzeichnungen und sehr viele Werke verschiedener Epochen aus China, Indien, Mexiko, Guatemala, Brasilien, Neukaledonien, Ägypten, Kamerun, Malaysia oder den Marquesas. Diese Auffassung einer Kunst, deren Ziel eine gemeinsame Sprache „der Menschheit“ jenseits von kultureller Bildung und nationaler Zugehörigkeit ist, war in der Zeit der kolonialen Weltordnung vor dem Ersten Weltkrieg kulturell weit vorausdenkend. Selbstverständlich muss man aus heutiger Perspektive diese Grundannahmen und Errungenschaften des Almanach auch kritisch sehen: Der Bezug auf eine „Menschheit“ blendet historisch-kulturelle Zusammenhänge und Machtgefälle zugunsten einer vermeintlichen globalen „Essenz“ aus.
Sie rücken in Ihrer Ausstellung im Rahmen des Programms „Museum Global“ der Kulturstiftung des Bundes das Thema Künstlerkollektive in den Vordergrund. Was hat die Gruppe, was einzelne ihrer – vielfach berühmten – Mitglieder nicht haben?
Dasselbe wie in allen Unternehmungen, die in der Gemeinschaft ausgebildet werden: Die Gruppe ist stärker als die oder der Einzelne. Da sind sich Gewerkschaften, Protestbewegungen und Künstlerkollektive sehr ähnlich. Gemeinschaft ist an sich ein hoher Wert – von dem Füreinander-Dasein bis zu dem Sich-gegenseitig-Herausfordern und Aneinander-Abarbeiten. Beziehungsarbeit ist lebensnotwendig für die Stabilität der Gesellschaft.
Die Künstlergruppen der Moderne einigt aber auch eine Absage an den Geniekult des singulären Künstlersubjektes, das so ganz anders und viel besser, erhabener sein soll als alle anderen Menschen. Manche unter ihnen erteilen auch dem System aus Akademie, Markt und Museum eine Absage und dessen Ökonomie des Geldes und der Aufmerksamkeiten.
Im Kontext des Projektes „Museum Global“ ist das Thema Künstlerkollektive für uns im Lenbachhaus eine notwendige und längst überfällige Arbeit, die Kategorien Autorschaft, Autonomie, Ideologie und kanonische Ästhetik zu hinterfragen. Insbesondere, weil auch der Blaue Reiter selbst diese Kategorien in Frage gestellt hat. Nicht zuletzt sehen wir den Fokus der Künstlerkollektive auch als eine Aufforderung zum noch stärkeren gemeinschaftlichen Denken und Arbeiten an uns selbst, hier im Museum.
Wie ist zu erklären, dass nur ein Teil der Gründungsmitglieder und der Teilnehmer an den Aktivitäten des Blauen Reiter heute noch bekannt sind? Andere sind, außer in Fachkreisen, nahezu vergessen.
Kennzeichnend für die Rezeption der Künstlerinnen und Künstler, die im Blauen Reiter mitgewirkt haben, ist dann doch wieder ein starker Bezug auf Einzelpositionen. Das liegt natürlich auch daran, dass fast alle Mitglieder eine über den engen Zeitraum des Blauen Reiter hinausreichende Karriere hatten und die Gründe für ihre Berühmtheit in ihrem gesamten Schaffen liegen. Zur Teilnahme an den Ausstellungen des Blauen Reiter sind zum Teil Künstler eingeladen worden, die außerhalb der Gruppe bereits sehr bekannt waren, zu ihnen gehören Robert Delaunay oder Hans Arp. Interessant ist, dass gegenüber Marc, Kandinsky, Macke, Alexej Jawlensky, Paul Klee oder Alfred Kubin Frauen wie Münter und Marianne Werefkin schon stiefmütterlicher behandelt und lange Zeit auch stark über ihre Partner definiert wurden. Hier dürfen wir durchaus auch den Museen, Kuratoren oder beispielsweise dem Buchmarkt Vorwürfe machen: Die Hoffnung auf mehr Publikum und höhere Verkaufszahlen dank der Repetition der immer gleichen berühmten Namen lässt sich kaum ausmerzen.
Haben wir ein zu homogenes Bild von der Blauen-Reiter-Gruppe? Welche inneren Konflikte gab es, die wir um des „schönen Gruppenbildes (mit Damen)“ willen unterschlagen?
Die Vorstellung vom Blauen Reiter als einer homogenen, harmonischen Künstlergruppe ist sicherlich ein Klischee. Am ehesten trifft sie noch auf die Zeit in Murnau 1908/09 zu, als Kandinsky, Münter, Jawlensky und Werefkin dort viele produktive, gemeinsame Malwochen verbrachten, in gegenseitigem Austausch und einer ähnlichen, innovativen stilistischen Entwicklung. Diese Periode wird deshalb legitimerweise dem Blauen Reiter zugeordnet, betrifft aber eigentlich nur seine unmittelbare Vorgeschichte. Denn damals hatten sich die vier, zusammen mit weiteren Kollegen und Kolleginnen, 1909 zunächst in der Neuen Künstlervereinigung München zusammengeschlossen. Die Geschichte des Blauen Reiter beginnt genau genommen mit einem ersten Konflikt: Als die Jury der NKVM für ihre dritte Ausstellung mehrheitlich Kandinskys große, fast gänzlich abstrakte Komposition V zurückwies, trat er zusammen mit Marc und Münter aus der Vereinigung aus. Die eigentliche Geschichte des Blauen Reiter lässt sich anhand weniger Aktivitäten umreißen: Sie organisierten die berühmt gewordene Erste Ausstellung Der Redaktion Der Blaue Reiter – benannt nach dem in Planung befindlichen Almanach – um die Jahreswende 1911/12 in der Galerie Thannhauser und zogen dafür neue Künstler hinzu, wie Albert Bloch, Delaunay, Macke und Schönberg. Im Frühjahr 1912 folgte die zweite Ausstellung, die nur Grafik zeigte, kurz darauf kam der Almanach heraus. Verschiedene Ausstellungsaktivitäten, darunter die Tournee der ersten. Blaue Reiter-Ausstellung, noch bis 1914 und bis nach Skandinavien, beschließen das Kapitel des Künstlerkreises bereits wieder.
Konflikte innerhalb der Gruppe in diesen kurzen Jahren gab es jede Menge, sie waren künstlerischer aber auch persönlicher Art, sie fanden zwischen Untergruppen, zwischen Paaren, zwischen den Geschlechtern, zwischen den wohlhabenderen und den ärmeren Mitgliedern statt und betrafen auch das Verhältnis zu Galeristen oder Verlegern. Der Erste Weltkrieg hat all den aufgeregten und engagierten Diskussionen ein Ende gemacht. Die Briefe zwischen den Künstlerfreunden, teilweise bis zu ihrem frühen Tod, sind ein Abgesang auf die gemeinsame Zeit.
Die Idee vom Blauen Reiter als eine kompakte, geradezu mythische Künstlergruppe im öffentlichen Bewusstsein ist dagegen ein Phänomen der Rezeption in der Nachkriegszeit seit 1945, zunächst in Deutschland, dann international in der westlichen Welt.
Was unterscheidet den Blauen Reiter von anderen Künstlerkollektiven, die heute noch sehr präsent sind, wie das Bauhaus, die Dadaisten, die Surrealisten, das Black Mountain College oder ähnliche? Gab es da wechselseitige Bezugnahmen oder auch Abgrenzungen?
Der Blaue Reiter war und wollte keine Kunstinstitution sein. Institutionell aufgestellt waren zum Beispiel das Bauhaus – 1919 von Walter Gropius als Fusion der Staatlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule in Weimar gegründet, mit Schwerpunkt auf Architektur, in den Dessauer Jahren vermehrt auch auf industriellem Design – oder das Black Mountain College in North Carolina, in dem Josef und Anni Albers nach der Emigration den Bauhausgedanken weitertrugen. Er war nicht einmal ein enges Künstlerkollektiv wie die Pariser Surrealisten oder auch die zeitgleichen Brücke-Künstler in Dresden und Berlin 1905/13 mit ihrem gemeinsamen Programm und großer stilistischer Ähnlichkeit. Der Blaue Reiter war eher ein loser Künstlerkreis mit dem Zusammenwirken von unterschiedlichen Kräften auf der Basis von Vielfältigkeit. Dieser Pluralismus der Ausdrucksformen – etwa der expressiven Abstraktion von Kandinsky, den großen Tiersymbolen von Marc, der farbintensiven Umdeutung der Realität, von Landschaft, Stillleben, Porträt, von Zoologischen Gärten und Spaziergängern etwa bei Münter, Macke und Elisabeth Epstein, oder der intellektuellen Bildschöpfungen Klees – unterscheidet den Blauen Reiter von anderen Künstlergruppen seiner Zeit wesentlich.
Das verbindende Moment war eher ein spiritueller Ansatz, nämlich in der Kunst neue Formen zu finden, die deren Inhalte – die innere Vision – unmittelbar und originär zum Ausdruck bringen sollten. Diese spirituelle Idee des Blauen Reiter, die besonders für Kandinsky und Marc mit dem Glauben an „Das Geistige in der Kunst“ in die Gegenstandslosigkeit führte, hat in der Tat durch das 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart auf eine künstlerische Nachfolge mit vielen Bezugnahmen gewirkt. Man denke nur an den abstrakten Expressionismus der Nachkriegszeit in Amerika und Frankreich, oder auch an die zahlreichen Bezugnahmen auf das Zeichenhafte in der Kunst von Klee.
Wie „global“ agierte die Gruppe? Konnte sie ihr transnationales Credo auch in der Praxis einlösen?
„Global“ agierte der Blaue Reiter, als er mit den europäischen und russischen Kolleginnen und Kollegen – und über Marsden Hartley auch mit den amerikanischen Synchronisten – in der Tat in erstaunlich hohem Maß vernetzt war. Sie haben dabei – und dies ist besonders zu betonen – auch als einzige Avantgarde-Bewegung gemeinsame europäische Aktivitäten zustande gebracht. So forderten sie für den Almanach Der Blaue Reiter internationale Beiträger besonders aus Russland, Frankreich, der Schweiz und Österreich auf. Zudem bezogen Macke und Marc als Kommissare der großen Sonderbund-Ausstellung in Köln 1912 und des Ersten Deutschen Herbstsalon in Herwarth Waldens Sturm-Galerie in Berlin in großem Umfang ihnen bekannte internationale Avantgarde-Künstler ein. Beide Projekte wurden auf diese Weise zu den wichtigsten internationalen Kunstausstellungen vor dem Ersten Weltkrieg, in keinem anderen Land fand etwas Vergleichbares statt.
In dem unhierarchischen Kunstverständnis des Almanach, das von der grundsätzlichen Gleichberechtigung der menschlichen Empfindungen und Ausdrucksformen ausgeht, schwingen soziale und demokratische Ideen mit. Wie „sozial“ waren die Mitglieder des Blauen Reiter tatsächlich, wie „demokratisch“ ging es zu?
Die „soziale Frage“ interessierte Kandinsky bereits in seiner unvollendeten juristischen Doktorarbeit. Inwieweit den Blauen Reiter jedoch das Thema als Lebensrealität der Menschen wirklich bewegte, wäre näher zu untersuchen. Dezidiert „soziale“ oder „demokratische“ Ideen finden sich im Almanach in einigen Bemerkungen im russischen Beitrag der Brüder Burljuk.
Am Ende werden diese Themen jedoch nur implizit formuliert. Kandinsky und Marc, ebenso wie den anderen Autoren des Almanach Der Blaue Reiter, unter ihnen Arnold Schönberg und Macke, ging es vielmehr um eine Erneuerung des Lebens durch die Kunst und einen Zusammenschluss der neuen künstlerischen Kräfte aus dem In- und Ausland, um diese geistige Erhebung zu erreichen. Die praktische Umsetzung dieser Ideen, etwa in der Bildauswahl des Almanach, die Kunst verschiedener Völker und Zeiten gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, hatte prägende Wirkung. Auch in diesem Pluralismus der Formen und dem Anspruch auf vielschichtige Bedeutungsdimensionen liegt das moderne Moment des Blauen Reiter, das bis heute Aktualität und Akzeptanz bewahrt hat. Denn von der ästhetischen Erneuerung wird nicht weniger erwartet als eine gemeinsame „Sprache“, jenseits der engen Grenzen von Nationalsprachen und der kulturellen Bildung, aus der wir kommen.
Dennoch ist die Formensprache des Blauen Reiter viel stärker zum „brand“ der Gruppe geworden als ihre Philosophie der geistigen und gesellschaftlichen Veränderung. Warum wird daran so wenig erinnert bzw. warum hat das in unserem kulturellen Gedächtnis so wenig Spuren hinterlassen?
Wir finden schon, dass die Schriften des Almanachs oder Über das Geistige in der Kunst von Kandinsky enorm und breit gewirkt haben. Als ich einmal in Colombo unterrichtete, hatte der dortige Malereiprofessor Über das Geistige in der Kunst ins Singhalesische übersetzt. Alle Studentinnen und Studenten wollten über diese Texte sprechen. Es sind mehr als Spuren in unserem kulturellen Gedächtnis vorhanden. Allein die Tatsache, dass in fast jeder Schule in Deutschland schon in der Grundstufe mit Kindern gemalt wird, oder dass ein Standard deutscher Schulbildung das abstrakte Gestalten zu einem im Augenblick des Malens gehörter Musik ist, zeigt, wie stark unsere Gegenwart durch das Denken des Blauen Reiter beeinflusst ist. Nur wissen wir nicht immer, wo solche Ideen herkommen. Bei der künstlerischen Produktion ist der Blaue Reiter am Geistigen und an unmittelbarer und unverfälschter Empfindung interessiert, nicht an technischer Meisterschaft; als Ideal wird dabei das kreative Schaffen von Kindern vorgestellt. So können die Gemälde als demokratische Bilder im besten Sinne verstanden werden, denn es sind nicht mehr geniale Meisterwerke von Ausnahmetalenten, die nach akademischer Bildung und handwerklicher Reifung etwas produzieren, was nur sie beherrschen.
Zu den direkten Folgen des Blauen Reiter zählt zudem, dass wir heute in einem Museum alles erst einmal frei vom Ballast historischen Wissens auf seine Aktualität für uns überprüfen oder einfach nur genießen können. Die Bildkombinationen im Almanach liefern nicht kunsthistorische Fakten, es herrscht die Auffassung, dass jedes Kunstwerk der Gegenwart angehört und auch losgelöst von den historischen Bedingungen seiner Entstehung rezipiert werden kann.
Zu den großartigsten Ideen im Almanach Der Blaue Reiter gehört allerdings, dass jede Kulturleistung wertvoll ist. Die Geschichte der Zerstörung von kulturellen Zeugnissen bis heute zeigt, dass dieser Gedanke leider überhaupt nicht selbstverständlich ist.
Mit welcher Hypothese arbeiten Sie, wenn Sie andere Künstlerkollektive aus verschiedenen Teilen der Welt im Kontext beziehungsweise als Ko-Text des Blauen Reiters präsentieren?
Wir haben keine Hypothese, wir stellen uns viele Fragen, denn wir wollen ja unbedingt die blinden Flecken überwinden, die wir in unserem Wissen und selbst in unserem Erkenntnisinteresse haben.
Statt eine These aufzustellen, konfrontieren wir ähnliche Prozesse an unterschiedlichen Orten miteinander und machen daraus eine Geschichte. Es war einmal: 1901, im Jahr, in dem Kandinsky mit einigen Künstlern in München die Künstlervereinigung und Kunstschule „Phalanx“ gründete, gelang es dem entschlossenen Widerstand der Asante-Nation im heutigen Ghana nach mehrjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen trotz militärischer Niederlage, einen kulturellen Sieg davonzutragen. Sie täuschten die Briten, indem sie eine Replik des „Golden Stool“ verteidigten, dann davon abließen und ihn willentlich in die Hände der Briten fallen ließen. Während die Kolonialherren einen gefälschten Thronschemel in einem Triumphzug durch London fuhren und als Beweis ihrer Überlegenheit ausstellten, befand sich das Original sicher verwahrt im Besitz der Asante. In Folge dieser erfolgreichen Täuschung der Briten bedienten sich die Asante und ihre Nachbarn einer kollektiven wie subtilen Form der symbolischen Kommunikation, die noch heute in weiten Teilen Afrikas allgegenwärtig ist und als eine ästhetische Form des Widerstandes gelesen werden kann: Wachsdruckstoffe, die erst wenige Dekaden zuvor nach West-Afrika gelangt waren, wurden nun als ideales Kommunikationsmedium erkannt. Stoffe mit Symbolen wie Thronschemel oder Sonnenschirme, Zeichen des politischen Systems der Asante, fanden rasch starke Verbreitung und blieben gleichzeitig als eine Art „stiller“ Protest unverstanden von der Kolonialadministration. So konnte eine Gruppe von Menschen ihre Stimme erheben ohne zu sprechen. Eine Strategie, die sich rasch über die gesamte westafrikanische Region und den Kontinent verbreitete und eng verknüpft ist mit der Idee der Würde des Menschen auch (oder gerade) in Momenten politischer Unterdrückung. Die Waren der ursprünglich aus den Niederlanden stammenden Wachsdrucktechnik wurden zu einem afrikanischen Material, zu einer hybriden Kulturtechnik. Ästhetische Ausdrucksmittel und Appropriation galten von nun an als Beispiele dafür, dass auch aus der Position der Beherrschten auf subtile Weise die koloniale Macht unterwandert werden konnte. Die „Phalanx“ ist in der westlichen Kunstgeschichtsschreibung fest verankert als ein Bestandteil in der Erfolgserzählung der Moderne. Im Vergleich zur lokal angelegten und kunstimmanenten Initiative der „Phalanx“ hatte die Aktion der Asante globale Auswirkungen. Zudem nutzten die Asante ästhetische beziehungsweise künstlerische Methoden für eine politische und identitäre Selbstbehauptung gegen die koloniale Herrschaft. Beide Strategien haben heute und international ein große Aktualität: sowohl die Ausstellungsgemeinschaft als auch das gemeinsame politische und ästhetische Handeln im weiteren Sinne. Der direkte Vergleich vermag Strategien zu verdeutlichen oder Bewertungen geradezurücken. Über solche Bezüge, beziehungsweise parallele Entwicklungen, wollen wir mehr lernen und sie im Gefüge bedenken.
Könnten Sie die Ziele Ihrer Ausstellung in Kategorien von Vorher – Nachher beschreiben?
Es ist uns ein Bedürfnis, den Blauen Reiter dank einer globaleren Perspektive neu kennenzulernen, und wir hoffen, dass dies bleibende Auswirkungen auf unsere zukünftige Arbeit mit der Sammlung hat. Es scheint uns wichtig, dass die Sammlungsbestände kritisch neu bewertet werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lenbachhauses erhoffen sich von dem Projekt eine Revision und Erweiterung ihres kuratorischen und kunsthistorischen Denkens. Denn die Frage nach dem Spezifischen einer Künstlergruppe (nicht der Einzelkünstler), nach Inspiration und Wirkung, auch unter Berücksichtigung des internationalen Kontextes, erfordert eine neue Herangehensweise und eine neue Art der Recherche. Dazu gehört zum Beispiel das Zusammenführen von Erkenntnissen aus allen dafür notwendigen Disziplinen wie Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Volkskunde oder Postkoloniale Studien. Verschiedene Kunstformen wurden und werden in verschiedenen Kontexten anders beurteilt, das sollte sich in der Ausstellung niederschlagen. Dabei müssen Präsentationsformen überdacht und weiterentwickelt werden, um kulturelle Zusammenhänge beispielsweise durch anschauliches Erzählen statt auratischen Zeigens wiederzugeben. So kommen dann hoffentlich auch Objekte und Dokumente aus den vielfältigen Nachlässen der Blauen Reiter-Künstler zum Zug, die wir bisher übersehen haben, weil sie nicht zu den hergebrachten Kategorien vom „Kunst“ gepasst haben.
Die Fragen stellte Friederike Tappe-Hornbostel.