Es war Regen vorausgesagt, aber noch wälzte sich der dichte, milchweiße Morgennebel über die Landschaft. In den Küchen glucksten noch die Kaffeekocher und die Hofbewohner waren noch beim Scheißen. Hinterm Weidenhain konnte er schon die riesige Stieleiche sehen, ein wahrlich majestätischer Baum, der über die Gegend herrschte, die Welt beobachtete und über sie Buch führte. Er war nass geworden bis zu den Knien, ihm war, als ob auch seine Leiste feucht war. Ein Glück, dass er in Gummistiefeln gekommen war, er wird sie im Gebäude wechseln. Der Hund kam ihm entgegengelaufen, wartete schon auf ihn. Aber er kann noch soviel um ihn herumspringen, winseln und den Schwanz zur Seite schlagen. Das Aas hatte Strafe verdient, er trat ihn von sich weg. Im Gebäude war es still, als wären alle geflohen, aber dann hörte er das Radio, irgendeine Morgensendung war an, die Moderatoren quasselten und wieherten, und dann kam von irgendwoher auch Gál hervor, unausgeschlafen, zerzaust, mit geröteten Augen. Seine Pistolentasche stand offen, er wird wieder mit der Waffe gespielt haben, dabei hat der Major ihn dafür neulich angebrüllt. Er starrte die Tasche an, bis Gál, ohne hinzuschauen, an seine Seite griff und den Druckknopf schloss.
„Habt ihr gesoffen?”
„Einen Scheiß, die Grenzjäger sind gekommen, da war's noch dunkel.” Gál gähnte, schob ihm das großformatige, karierte Heft mit dem Anwesenheitsbogen hin, und er unterschrieb fast an der falschen Stelle, bei der Abmeldung. Er verstand nicht, wozu dieser Blödsinn gut sein sollte, Anwesenheitsbogen.
„Sie haben fünfzig gefangen letzte Nacht.”
„Syrer?”
„Alles mögliche.” Gál zuckte die Achseln, ist doch egal, ob es Syrer, Afghanen oder Palästinenser sind. Fünfzig sind im übrigen gar nicht so viel, es waren auch schon mal hundertfünfzig, eine richtige kleine Armee, und sie haben genau nachgezählt, hundertfünf von denen hatten Badepantoffeln an. Als er sah, wie viele Füße in Badepantoffeln steckten, fing er an zu zählen, und es waren wirklich mehr als hundert, dabei war es März, und die sind auf Pantoffeln los, es kann doch nicht sein, dass es da keine Schuhe oder Stiefel oder sowas gibt. Vielleicht schwellen die Füße in Pantoffeln nicht so an. Aber wie viele Pantoffeln braucht man dann für dieses Elkamino? Gál zündete sich eine Zigarette an und kippte dann seinen Kopf Richtung seines Zimmers, ob er auch wolle. Er wollte. Dabei mochte er es nicht. Der Schnaps war stark, kratzte im Hals, aber es gab Momente, in denen er doch ja sagte. Wenn sich die Hitze des Alkohols in seinem Körper, genauer gesagt in seinem Magen ausbreitete, war das gut, aber das Kribbeln, das darauf folgte, mochte er nicht mehr so sehr.
Gál sah sich nachdenklich das beschlagene Glas an, ob er noch einen nehmen sollte oder nicht. Hielt das Glas auf seiner Handfläche, leer. Blinzelte durch es hindurch.
„Und noch was.”
„Was?”
„Bälger”, sagte Gál, goss ein, und er hätte schwören können, dass es so kommt. Wenn Gál darüber nachdenkt, ob er noch was trinken sollte oder nicht, entscheidet er sich immer dafür, zu trinken. Aber warum muss er dann darüber nachdenken?! Warum denkst du über etwas nach, das du bereits weißt?!
„Wie, Bälger?”
„Der Transport ist wieder zurück, die Jäger auch, aber vier Kinder sind hiergeblieben. Wir haben's zu spät gemerkt. Jetzt sind die hier.”
„Was machen sie?”
„Nichts.”
Er ging rein zu ihnen, sie saßen in der kleineren Zelle herum, dort, wo letzte Woche die Frau mit dem Tschador einen epileptischen Anfall gekommen hatte, ein Mann tobte, vermutlich ihr Ehemann, er wollte den Arzt nicht zu ihr lassen, Gál zog seine Pistole und hielt sie ihm an den Kopf, aber das nützte auch nichts. Eine heikle Situation, aber dann ging es der Frau plötzlich wieder besser. Sie setzte sich auf und fing zu reden an, sie hatte noch Schaum vorm Mund. Er hätte gerne gewusst, was sie dem tobenden Typen gesagt hatte, wovon der sich sofort beruhigte. Die Kinder saßen nebeneinander, wie eine Reihe Spatzen mit nassem Gefieder. Sie waren erschrocken, sie blinzelten. Die Erwachsenen blinzeln kaum. Die haben auch keine Angst mehr, oder wenn doch, blinzeln sie trotzdem nicht, ihr Blick wird glasig, das Leben verschwindet aus dem Spiegel ihrer Augen. Als wären sie abwesend. Aber sie sind nicht abwesend, sie sehen bloß nichts mehr. Und die hier blinzelten, sie waren klein, sechs oder sieben Jahre alt, hatten den Anschluss an die Großen verloren. Oder sie wurden vorgeschickt. Er sprach sie auf Englisch an, das Ganze war hoffnungslos. Where are you from. Aber im Übrigen war das doch egal, oder nicht? Syrer, Afghanen, Iraker. Perser? Mother, Father? Sie antworteten nicht, sie blinzelten, der eine hatte getrocknetes Blut an der Hand. Und an der Wange, der Stirn, der Schläfe. Er holte eine Tüte Bonbons hervor, bot sie ihnen an, esst, eat, eat. Dann wurde ihm klar, die wollen keinen Zucker, die haben Hunger. Er ging in die Küche, holte einige Brötchen, sie waren von gestern, es gab auch noch ein paar Ecken Schmelzkäse, und er nahm auch zwei Flaschen Wasser unter die Achseln. Erst tranken sie natürlich. Er beobachtete den einen, seine Hand hob sich instinktiv in die Höhe, die Finger öffneten sich, während der andere mit großen Schlucken trank, er riss die Flasche fast vom Mund seines Gefährten weg, und der hielt danach die Hand genauso wie dieser. Nach dem Trinken aßen sie und blinzelten. Sie dankten nicht, sie waren kleine Tiere, sie beugten sich über die Brötchen, hielten sie im Schoß und bissen so ab, als würde sie ihnen jemand wegnehmen wollen. Er hockte sich vor den mit der blutigen Hand, schaute ihn sich an, drückte an seinem Arm herum. Der Zaun zog sich mittlerweile schon fast über die gesamte Länge der Grenze. Und nicht nur das. Man hat auch Klingen am Zaun angebracht, scharfe kleine Metallstücke, die einen schneiden, verletzen. Die Klingen waren mit der Spitze nach Serbien ausgerichtet. Jemand grüßte ihn, die Dolmetscherin war angekommen, sie wurde vor drei Tagen hierher versetzt, eine Frau von der Universität, ihre Vorgängerin war auch eine Frau, hielt es nicht aus, ist ausgerastet, machte eine Szene und schwadronierte über die Menschenrechte, die Neue wird wohl auch nicht lange durchhalten. Im Übrigen war die nicht ganz sauber. In dem Sinne, dass sie eine braune Schattierung in ihrer Hautfarbe hatte, sie war brauner als die Ungarn, als zum Beispiel er selbst, vielleicht war ihr Vater ein Araber. Ihr Name war Sada. Sie versuchte mit den Kindern zu reden, aber die blinzelten auch bei ihr nur, das eine wandte sich sogar ab.
„Etwas hat sie sehr erschreckt”, sagte Sada.
Da sagte das blutige Kind irgendetwas. Wenige Worte nur, es sprach sehr schnell. Er hatte da schon das nasse Handtuch zur Hand und rieb das Blut vom Arm des Kindes. Rieb es aus seinen Augen und aus den Mundwinkeln. Es war nicht sein Blut. Dieses Kind hatte keine Verletzung. Das Kind ließ zu, dass man es abrieb, blinzelte groß mit seinen riesigen braunen Augen, ließ den Mund offen stehen, das Abreiben tat ihm offenbar gut. Die anderen Kinder hatten auch keine Wunden. Da hob er die Hand und zeigte ihnen alle fünf Finger. Er zeigte ihnen die vier, den Daumen bog er zur Handfläche hin ein. Er zeigte: Diese vier seid ihr. Eins, zwei, drei, vier. Das seid ihr, du und du, verstehst du? Das seid ihr. Gibt es einen fünften? Und er hielt seinen Daumen vor und bewegte ihn. Gibt es einen fünften? Wo ist er? Er zeigte mit zwei Fingern, wie jemand wegläuft.
Das Kind nickte.
„Verdammte...” Er stand auf, ließ die Bälger mit der Frau zurück. Wie seine Schritte im Flur widerhallten, als er ihn entlang ging. Gál interessierte die ganze Sache nicht besonders.
„Und jetzt willst du es reinbringen?”
„Ja, ich will's reinbringen”, sagte er.
„Vielleicht kommt es von alleine wieder.”
„Es kommt nicht wieder. Es blutet.”
„Es wird regnen”, sagte Gál.
Er ging hinaus, dachte nach, ob er den Hund mitnehmen sollte. Vor einigen Tagen hatte der Hund eine Frau ins Gesicht gebissen, als diese hingefallen war. Es war gar kein richtiger Biss, er schnappte nur, und ein Journalist, der da herumstand, sah es, sie hatten Mühe, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Dass das in Wahrheit gar nicht ihr Hund sei, sein Besitzer sei auf die kroatische Seite abkommandiert worden, er habe ihn nicht mitnehmen können und nun sei er für ein paar Tage hier. Es war ein Unfall, da war wirklich nicht mehr, sie setzen den Hund nicht ein, wozu sollten sie ihn einsetzen, aber der Journalist glaubte ihnen nicht. Sie hetzen ihn bestimmt auf die Syrer. Nichts da. Der Journalist wollte die Bestie auch fotografieren, aber das ließen sie nicht mehr zu. Der Hund hatte ein schlechtes Gewissen, lief auf ihn zu, als hätte er ihn erzogen. Dabei gab er ihm nur manchmal was zu essen. Er kannte den Hund nicht, wer weiß, wie er in so einer Situation reagieren würde. Diese Tiere werden manchmal ohne jeden Grund wild. Er sah sich den Himmel an, wie er grau wurde und sich senkte. Es war noch früh am Vormittag und er hatte das Gefühl, er könnte in den Himmel hineingreifen, so nah war er. Die Luft war schwer. Er überlegte, ob er einen Mantel mitnehmen sollte. Neulich hing ein Hase am Kleiderhaken neben seinem Mantel. Der Hase gehörte Gál, das Tier hatte sich irgendwie im Draht verheddert und war erstickt, Gál hatte es gefunden, hängte es an den Kleiderhaken und vergaß dann, es mit nach Hause zu nehmen. Also nahm er den Hasen mit nach Hause. Im Übrigen hat Gál auch schon mal einen Fasan an den Kleiderhaken gehängt. Einmal ein paar Haselhühner. Als er den Hasen mitnahm, fluchte Gál, dass er ihn kaum wieder beruhigen konnte, aber wirklich, was denkt sich Gál, dass sie den Hasen hier lassen, bis zum nächsten Morgen hätte der doch schon gestunken, hätte hier alles vollgestunken neben den Mänteln, einen ganzen Hasen können sie doch nicht in den Kühlschrank legen, er passt nicht hinein und dreckig war er auch. Sie stritten sich eine Weile, dann stellte er eine Plastikdose auf den Tisch, für Gál, und sagte, hier, eine Kostprobe von meiner Frau, Paprikasch. Hase in Paprika-Sauerrahm-Soße. Sogar das Kind hatte davon gegessen, sie hatten ihm was ins Krankenhaus gebracht, aber sie sagten ihm nicht, dass das Hase war. Gál hat keine Frau, er hätte den Hasen verkauft.
Er legte sich den Mantel um, den Hund ließ er da. Das erste Haus gehörte den Schmugglern, etwa fünfhundert Meter von ihnen entfernt, der Zaun macht ihnen das Leben schwer, keine freie Passage mehr, sie mussten den Zoll bezahlen. Das mussten sie auch vorher schon, aber jetzt eben mehr. Ihr Hof war hübsch und ordentlich, ein alter Passat mit einem riesigen, heimlichen Benzintank stand in der Garage, und sie hatten sogar einen Ziehbrunnen. Und sie hatten Pferde, mehrere Sorten, sogar so ein Zwergpferd, wie man sie auf dem Markt herumzeigt. Sie haben den Stall blau gestrichen und auch den Ziehbrunnen. So einen Blödsinn. Der Mann kam heraus in den Hof, im Unterhemd, bestimmt zählte er Geld, die Einnahmen, und er dachte lächelnd daran, dass man Geld immer im Unterhemd zählt. Man muss sich fürs Rechnen ein wenig ausziehen.
„Wir waren die ganze Woche nicht draußen, Herr Leutnant.”
„Ich suche nach einem Kind.”
Eine Weile waren sie mit Alkohol unterwegs gewesen, dann fuhren sie Benzin und Zigaretten mit dem guten alten Passat. Wie lange ist es her, dass es Jeans waren, du lieber Himmel! Die Zigaretten, die von den Türken auf den Balkan kamen, waren immer der Renner. In letzter Zeit versuchten sie es mit Potenzmitteln, die kamen auch aus dem Osten, ägyptische Pakete. Und natürlich Marihuana, große und kleine Portionen, manchmal sogar, und das war neu, in gerollten Zigaretten. Mit Waffen handelten sie nie. Das sagten sie ihm auch, mit Waffen nie. Und sie schworen auch, dass sie auch mit Menschen nicht handelten. Und er glaubte ihnen. Denn wenn sie jetzt auch viel mit Menschen verdienen würden, morgen wären die alle. Sie wissen das. Menschen werden alle. Zigaretten werden nicht alle. Menschen werden alle, es werden zu viele, man kann die Situation nicht mehr händeln, es hängen sehr große Strafen dran, das Risiko ist groß, aber Zigaretten sind eine sichere Sache.
„Es blutet”, sagte er.
Im blauen Stall schnaubte ein Pferd, stieß mit seiner schönen, sternfleckigen Stirn gegen das Holz.
„Das Blau ist schick, Béla”, sagte er. „Aber dass der Brunnen auch blau ist …”
„Das war nur ein Scherz, Herr Leutnant.”
„Und was ist witzig an einem blauen Ziehbrunnen?”
„Wir haben gelacht”, sagte der Mann und drehte sich um, weil die Frau herauskam. Die Frauen kommen bei sowas immer etwas später raus. Sie erschrecken, bleiben drin, aber dann halten sie es doch nicht aus und kommen heraus. Eine dünne Silberkette glänzte an ihrem Knöchel.
„Ich würde einen Blick in den blauen Ziehbrunnen werfen, Béla”, sagte er.
„Wollen Sie nicht einen Kaffee, Herr Leutnant? Wir haben guten Kaffee da”, sagte die Frau. Sie hatte schöne, runde Brüste.
Neulich hatten sie zwei Säcke Kaffee auf die Wache gebracht, er bekam auch was davon, nahm es mit nach Hause, natürlich. Geld nimmt er nicht an, aber Kaffee manchmal oder Alkohol schon. Aber sie betreiben das nicht mal annähernd so wie die an der ukrainischen Grenze, da ist es ein Geschäft industriellen Ausmaßes, einmal war er da, ein Bekannter nahm ihn mit, sie fuhren mit dem Auto zwischen in die Gegend geworfenen Kleinstdörfern, halb von Zigeunern bewohnten Siedlungen, Hütte, richtiges Haus, Hütte, richtiges Haus, dann eine Villa. Aber eine Villa, dass dir die Spucke wegbleibt. Ein Palast! In jedem Dorf gab es etwa vier Paläste. Wie geht das denn?, fragte er den Bekannten, der ihn mit dem Auto mitnahm, und der lachte, fick dich, Lacilein, da lebt entweder ein Schmuggler oder ein Zöllner da drin, die haben solche Häuser mit Steinstuck, Engelsstatuen und Pool. Die Zigeuner, die am Wegesrand gingen, hatten immer eine Tüte dabei, wie die Rumänen eine Zeit lang. Die Tüte hast du, damit du jederzeit irgendwas reintun kannst. Was grad da ist, verkauft wird, oder du findest es, bekommst es geschenkt, kannst es in die Tüte tun. Aber solche Häuser! Bei Gott, manche hatten sogar ein Turmzimmer mit so einem spitzen Dach! Die Zöllnerinnen trugen die Euros in BH und Schlüpfer nach Hause.
Als er den Kaffee getrunken und den Hof verlassen hatte, regnete es bereits. Das schmutzige Silber schlug auf ihn ein, die Kälte stichelte die Haut. Es regnete noch nicht sehr, aber man konnte schon sehen, dass das ein ausdauernder Regen sein würde, wie eine Rede, die einfach kein Ende nehmen will. Es wurde sehr grau. Der Regen klopfte auf die Blätter der Bäume, er mochte dieses Geräusch sehr. Das Geräusch des Regens beruhigte ihn immer. Wie schön langsam alles, wirklich alles nass wird, durchweicht, schwer wird. Ohne Ausnahme.
Er ging an der Grenze hin und her, seine Stiefel machten schmatzende Geräusche, er sah durch sein Fernglas, alles wurde nass. Er wusste, wo die Gruben sind, etwa vier große Lehmgruben, da holten die Zigeuner und die Leute von den umliegenden Höfen den Lehm fürs Haus. Unten in den Gruben blieb das Wasser stehen, blinkte stumpf herauf, das Kind fand er nicht. Ein Storch flog raschelnd über ihn hinweg, er konnte fast den Wind spüren, den der Vogelkörper verursachte. Da fiel ihm ein, dass er noch nicht einmal den Namen des Kindes wusste und auch nicht, wie es aussah. Er wusste nur, dass es blutete, weil ihn eine Klinge geschnitten hatte. Wenn auch sein Blut auf den Pfad, den Wegerich, auf Baumstämme gefallen war, hatte es der Regen schon weggewaschen. Es gab hier, in unmittelbarer Nähe des Weidenhains, davon verdeckt, einen Kadaverfriedhof. Vor einigen Jahren wurde er geschlossen, verboten, man konnte ihn schon von Weitem riechen, es gab viele Beschwerden. Das Kind war auch da nicht. Aber es wurde hier auch Müll abgeladen, man brachte den Schutt und die Trümmer aus den umliegenden Dörfern hierher. Es ragten ganze Betonstücke aus der Erde, mit sich kringelnden, verbogenen Eisendrähten. Er hat schon oft Katzen auf solchen Drähten gesehen, sie steckten drauf, sie waren aufgespießt. Das Schöllkraut blühte bereits üppig und gelb, warum wuchs es so gerne auf Schuttabladeplätzen, denn es wuchs da sehr gerne, wuchs auf Beton, überall blühte es gelb. Einmal brachten sie ein halbes Haus zu einem illegalen Ablageplatz. Wo war die andere Hälfte? Wo kommt ein halbes Haus hin, die Fenster und der Türrahmen, warum wollte niemand diese Hälfte, denn sie wollten es nicht. Da kam der See, ein gewundener Pfad führte auf ihn zu, das Gras an den Seiten wucherte meterhoch. Der See war auch so, dass es ihn gar nicht richtig gab, es gab ihn oft nicht, er trocknete aus und stank, die restlichen Fische verrotteten in ihm, und dann lief er wieder voll, und wenn Störche und Reiher an seinem Ufer standen, wusste man, dass auch das Wasser wieder gut war. Wie ein Bart wuchs das Schilf am Ufer. Eine Trauerweide ließ ihre Krone ins Wasser hängen, morgen wird sie sich mit dem ganzen Stamm hineingedreht haben. Er sah sich das Wasser an, das metallische Kräuseln, er sah nichts Besonderes. Aber er schaute so lange hin, bis er einen Fisch springen sah. Es war schon Nachmittag. Seit Stunden hatte er keinen Menschen mehr gesehen. Als hätten sie sich versteckt. Aber nicht wegen des Regens. Hier gibt es selbst bei Sturm, bei fauchendem Wind Menschen im Grenzgebiet. Es bleiben immer ein, zwei Typen übrig, die kommen und gehen, was suchen oder schleppen, Säcke, Beutel, Körbe, sie klauen, klauen zurück, schmuggeln, flüchten, fahren Rad. Selbst bei meterhohem Schnee gab es noch Leute. Aber jetzt nicht. Er nahm den Pfad zum Kreuz, vielleicht würde er dort jemanden finden. Obwohl sich beim Kreuz keiner versteckt, es gibt zu viel dorniges Gestrüpp drum herum, einmal sah er sogar eine Schlange dort. Früher gab es hier einen Weg, aber dann wucherte er zu, das Gras, das Unkraut fraßen ihn auf. Die Höfe in der Gegend starben aus und das Unkraut, die dornigen Schlingpflanzen bewuchsen das Kreuz. Das Kreuz war schief, diesmal kam es ihm noch etwas schiefer vor als sonst. War es müde geworden? Wollte es sich hinlegen?
„Ich suche ein Kind“, sagte er unwillkürlich, und dann bemerkte er, dass verwelkte Blumen am Fuße des von Rissen durchzogenen Steinsockels lagen. Der Regen pladderte rundherum auf die Schlingpflanzen, den verwilderten Stechapfel. Gut, dann würde er zu Lakatos' Hof gehen, dachte er, das war seine letzte Chance, der Hof war nicht weit, hinter der großen Kurve auf dem Feldweg, wo die Pappel mit den Eulen sich sanft schüttelt.
Er musste den Hofhund von sich wegtreten, einen kleinen, schwarzen Bastard, der tobende Fellzottel spuckte Schaum und bellte, dass er fast erstickte. Eine Ziege sah ihm dabei starr zu, sie war an einen Pflock gebunden, sie rührte sich nicht. Ein riesiger Hahn kam drohend heranmarschiert, sein Kamm sah aus, als hätte man ihn mit frischem Blut angemalt. Die Männer waren nicht da, sie waren in die Stadt gefahren, um Fleisch zu holen.
„Vielleicht bleiben sie drin und machen Musik“, fügte die Frau hinzu. Sie war dick und trug auch zu Hause ein buntes Kopftuch. Sie hielt sich einen Topf über, um nicht nass zu werden.
„Gib mir ein bisschen deinen Jungen mit, Mame.“
„Warum soll ich ihn mitgeben?“
„Es gibt Arbeit, Mame.“
„Na, dann wirst du wohl nass werden, László“, sagte die Mame und lächelte, zeigte ihre Goldzähne.
„Ich habe einen Mantel“, sagte er und betastete sich.
„Hast du nicht, du wirst ihn dem Kind geben. Unsere haben die Männer heute früh alle mitgenommen.“
Das Kind ging ihm bis zur Taille. Der Mantel, den er ihm überzog, schleifte auf dem Boden. Als wären ihm zwei schwarze Flügel gewachsen, als wollte es davonfliegen. Es war wie sein eigenes Kind, das vor kurzem Hasen gegessen hatte und ebenfalls davonfliegen wollte. Aber sie ließen es nicht zu. Wenn es wieder gesund wird, wird er ihm auch seinen Mantel überziehen. Darüber lächelte er ein wenig, aber das Kind schritt mit ernster Miene neben ihm her, manchmal hätte es gerne gegen einen Maulwurfshügel getreten, aber es konnte nicht wegen des Mantels. Also sprang es nur oben drauf.
„Wie heißt du nochmal, Janika?“
„János“, sagte das Kind.
Wenn man über nasse Erde geht, verändert sich der Klang. Wenn es trocken ist, knistert das Gras, das Stroh, und man kann es nicht nur sehen, sondern auch hören, wie die Grashüpfer und die Heuschrecken klickend davon springen. Wenn das Gras nass ist, geht es sich schwerer. Das nasse Gras würde einen am liebsten am Knöchel erwürgen. Das nasse Gras wäre gerne Seegras. Man konnte kaum mehr etwas sehen. Sie gingen durch eine dichte, graue Welt. Er war schon durchnässt. Das Kind verlangte nach dem Fernglas, hängte es sich um den Hals.
„Wohin würdest du gehen, wenn du Angst hättest?“
„Ich habe nie Angst.“
„Ich habe nicht gesagt, dass du Angst hast. Ich habe gesagt, wenn.“
„Ich sag doch, ich habe keine Angst.“
„Gut, dann sag mir, wo würdest du dich verstecken, wenn du nicht wollen würdest, dass man dich findet.“
„Wer?“
„Die Leute. Sagen wir, ich.“
Hier beugte er sich etwas zum Kind hinunter und packte es ein bisschen. Janika, verdammt noch eins, wir machen hier keine Scherze. Er packte den Jungen nicht zu hart an, er hielt ihn nur an beiden Armen fest, ein wenig schüttelte er ihn auch, als wollte er den Schlaf aus seinen großen, verschlafenen Augen herausrieseln lassen. Janika, verdammt noch eins, hier wird sich nicht bockbeinig gestellt. Hier werden keine Widerworte gegeben. Wir haben keine Zeit für Fisimatenten. Du hast einen Mantel bekommen. Und ein Fernglas. Du musst nicht zu Hause sein, was dich viehisch anödet. Er holte die Bonbons hervor, steckte ihm zwei davon in den Mund. Janika befreite seine Arme und griff nach der Tüte.
„Ein Kind, so groß wie du, ist verloren gegangen“, sagte er. „Es hat sich versteckt, dabei weiß es nicht mal, wo es ist. Lass uns ihn suchen, ja? Wenn wir ihn finden, bekommst du tausend Forint.“
Sie schwiegen ein wenig, das Kind hatte schon mindestens fünf Bonbons im Mund.“
„Fünftausend.“
„Drei.“
„Gut, drei.“
Von da an ging der Junge anders. Er trug eine Verantwortung. Und er war auch irgendwie stolz, dass er hier etwas zu erledigen hatte, eine wichtige Angelegenheit, wie die Erwachsenen immer. Er suchte nicht mehr nach Maulwurfshügeln oder den Ziesellöchern, er schaute nicht nach Eiern oder Nestern, er kniff die Augen zusammen und schaute nach vorne. Der Regen klopfte auf den Mantelrücken, sein Haar war nass und klebte zusammen, seine Nase glänzte vor Rotz und triefte. Das Fernglas war ziemlich schwer für ihn, er gab es zurück. Er sah auch so gut. Sie gingen durch das hochgewachsene, sich biegende Gras, zogen Kreise zwischen blühendem Schierling und Wegwarten. Aber die Kreise wurden wahrnehmbar enger. Wieder flog der Storch über sie hinweg, jetzt war er noch näher. Er sah sogar seine Augen. Der Junge fand einen Stock, damit schlug er sich den Weg frei. Er säbelte die weit ausladenden Kletten, die stachligen Blüten, die Dotterblumen nieder. Es regnete. Er fror nicht und verstand nicht, warum er nicht fror. Er war schon ganz durchnässt. Seine Stiefel machten schmatzende Geräusche, als würde er mit den Füßen Steine hochheben. Da blieb das Kind stehen. Der Ärmel des Mantels knautschte sich hoch, als es den dünnen Arm hob, um nach vorn zu zeigen.
„Da oben ist er.“
„Ich sehe ihn nicht.“
„Dort, auf dem Baum, zwischen den Blättern. Ich sehe ihn auch nicht, aber er ist da. Er beobachtet uns.“
„Dort wird er doch auch nass oder nicht?“
„Ja, aber nur von oben. Von unten nicht. Wenn die Kälte von unten kommt, das ist das Schlimmste. Und der weiß das schon. Er ist lange unterwegs, also weiß er es. Ich geh jetzt nach Hause“, sagte das Kind. „Machen Sie nicht schnell, sonst fällt er noch runter. Gehen Sie langsam hin.“
„Sehr langsam!“ rief er.
Und der Junge schlenderte davon, nahm den Mantel mit, knüllte sich das Geld in die Tasche, nahm das Fernglas mit und die Bonbons. Vielleicht summte er sogar, der Regen klopfte ihm auf den Rücken. Bestimmt richtet sich das Gras hinter ihm schnell wieder auf. Er betrachtete den riesigen Baum. Es war die majestätische Stieleiche, unweit der Wache. Wie konnte das Kind da hochklettern? Und vor ihm, das bemerkte er jetzt, da es ihn schüttelte, denn schließlich fing er doch zu frieren an, war eine Reihe dunkler Flecke auf dem Blatt eines Breitwegerichs. Der Regen hatte sie nicht weggewaschen, er löste nur ein wenig ihre Ränder. Er sah zum Baum. Er hatte noch eine halbe Stunde bis zum Einbruch der Dunkelheit. Bis dahin musste er es bis dorthin geschafft haben. Er ging auch los. Er machte langsam, vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen. Er kam noch bei Tageslicht unter dem Baum an, es war noch hell, als er sich endlich gegen den Stamm des Baumes lehnen konnte. Er war so müde, dass ihm sein eigenes Keuchen fremd vorkam, ein fremder Mund schnappte in seinem Gesicht nach Luft. Ein kleiner Pantoffel lag am Fuß des Baumes. Er hievte seinen Nacken nach hinten und sah nach oben, in das immer dunkler werdende System der ineinander verschlungenen, einander kreuzenden Äste und Zweige und zitternden Blätter, die die Dunkelheit in sich aufnahmen wie ein Sack die Kohle. Und er sah nichts mehr. Er sah nichts mehr, worauf er hätte seufzen können, jetzt habe ich dich, du bist es, Freundchen. Ich habe dich erwischt, Kumpel. Aber er sah so lange nach oben, bis er die Wärme in seinem Gesicht spürte. Er fasste hin, dabei wusste er es. Er wusste, dass sein Gesicht blutig geworden war.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora