Retusche = Attacke

Sylvia Sasse

Oder: Wie Geschichte durch Theater repariert wurde

Das Theater spielt in den Jahren nach der Oktoberrevolution in den Künsten die wohl wichtigste politische Rolle. Es dient – als Massentheater – der Selbstvergewisserung der Menge als politischer Mehrheit, und es hat die Aufgabe, Geschichte neu zu schreiben. Das ist Nikolaj Evreinov, Theatertheoretiker, Dramatiker und Regisseur, auf einmalige Weise gelungen. 

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Revolution und niemand macht ein Foto. So ungefähr könnte man das Dilemma der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution von 1917 umreißen. Wie wichtig Fotografien, die den Beginn einer neuen politischen Ära festhalten, für die Gründungserzählung eines Staates oder einer Präsidentschaft sind, zeigte zu Beginn dieses Jahres die absurde Debatte um die Fotos von Donald Trumps Inauguration in Washington. Trump wäre vermutlich froh gewesen, hätte man – wie bei der Oktoberrevolution – keine Fotos gemacht. Denn diese zeigten bloß, dass im Unterschied zu früheren Amtseinführungen nur wenige Zuschauer gekommen waren. Trump erklärte die Fotos im Nachhinein zu Fake-Fotos, weil sie dokumentierten, was er nicht sehen wollte.

Vom Beginn der Oktoberrevolution, dem Sturm auf den Winterpalast, existiert bis heute tatsächlich nur ein Fake-Foto, das erstaunlich lange dokumentarische Glaubwürdigkeit für sich beanspruchte. Es ist seit ca. 1922 tausende Male vervielfältigt worden, taucht in sowjetischen Geschichtsbüchern, in vietnamesischen, tschechischen und jugoslawischen Schulbüchern auf, ist zum Motiv auf Briefmarken und Buchcovern geworden und verziert seit 1947 sogar einen Teller aus Meissner Porzellan.

Das Foto zeigt jedoch nicht die historische Erstürmung des Winterpalastes in Petersburg, sondern dessen theatrale Wiederholung – 1920, zum dreijährigen Jubiläum der Oktoberrevolution in Petrograd am Originalschauplatz. Leiter des Regiekollektivs war Nikolaj Evreinov, ein Theatertheoretiker, Dramatiker und Regisseur, der vor der Revolution Bücher geschrieben hatte wie Theater für sich (1915) oder Theater als solches (1912) und mit der Revolution eigentlich nichts am Hut hatte. Evreinov hatte gemeinsam mit seinen Koregisseuren innerhalb von drei Monaten eine Inszenierung mit 10.000 Akteuren und 100.000 Zuschauern auf die Beine gestellt, die auf zwei von Jurij Annenkov konstruierten Bühnen, einer roten und einer weißen, gespielt wurde. Gezeigt wurde der Weg zur siegreichen Revolution, die Formung eines revolutionären Kollektives aus der ungeordneten Masse der Arbeiter und die Auflösung des Zusammenhalts der zunächst geordneten Provisorischen Regierung unter Kerenskij. Es war ein Kostümfest, fern von revolutionärer Ästhetik.

Revolutionär war lediglich, dass Evreinov die Verwandlung der Zuschauer in Akteure als theatral-politische Botschaft begriff. In einer Rede bei der Probe richtete er sich in diesem Sinne an die Masse und rief: „Die Zeit der Statisten ist vorbei“.[i]

Während die Zeit vor der Revolution zwischen Februar und Oktober auf der Bühne theatral dargestellt wird, wird die entscheidende Revolutionsszene, der Sturm auf den Winterpalast, als realistisches Reenactment konzipiert. Allerdings als ein falsches Reenactment, als eines ohne Original. Denn es war Evreinovs Masseninszenierung, die den Mythos vom Sturm auf das Winterpalais als riesiges Spektakel erst schuf und dafür auch die Bilder lieferte. Den realen Sturm hatte niemand aufgenommen und er war auch nicht besonders spektakulär. Heute weiß man, dass der Winterpalast kaum verteidigt wurde: Nur ein Dutzend Offiziersschüler, einige Kosaken sowie ein Trupp bewaffneter Frauen, das sogenannte Todesbataillon, standen am Abend des 7. November dort bereit. Die Provisorische Regierung im Winterpalais war nur noch durch wenige Minister vertreten und hatte bereits kapituliert. Als in der Nacht zum 8. November ein paar Rotgardisten und Matrosen durch das Hauptportal marschierten, fielen nur wenige Schüsse, die Minister warteten in einem Kabinett der 2. Etage auf ihre Verhaftung.

Für die künftige sowjetische Geschichtsschreibung dienten die Aufnahmen des Spektakels ab 1922 als Dokument des historischen Ereignisses. Das Sturmfoto erscheint 1922 erstmals in dem Band 5 Jahre Sowjetmacht mit dem Untertitel: Attacke auf den Winterpalast. Auch eine erste Retusche ist schon gemacht: Die Zuschauer, die auf der rechten Seite standen, sind wegretuschiert. Wenig später wird auch in der Mitte des Fotos etwas wegretuschiert und unsorgfältig übermalt. Aus Evreinovs Aufzeichnungen wissen wir, das dort die Kommandobrücke der Regisseure stand: „eine aufragende Bude (so hoch wie ein einstöckiges Haus), ausgerüstet mit einer ganzen Reihe von Telefonen und Signalhupen“.[ii]

In den russischen Archiven ist das Foto mal unter dem Stichwort Revolution, mal unter dem Stichwort Evreinov abgelegt. Es ist immer das gleiche retuschierte Foto, abgelegt als Original, während das Original selbst in den Archiven von Petersburg, Moskau bis nach Minsk nicht aufzutreiben war. Das nicht retuschierte Foto mit Zuschauern und der Kommandobrücke der Regisseure erscheint nur 1926 in einem Buch des amerikanischen Soziologen René Fülöp-Miller, der 1920 in Petrograd die Geschehnisse beobachtet hatte.

Besonders ausgeklügelt ist die Inanspruchnahme des Bildes als historisches Dokument in einem 1971 erschienenen Fotoband mit dem selbstentlarvenden Titel Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben (Istorija pišetsja ob''ektivom), der vom bekannten sowjetischen Journalisten Leonid Volkov-Lannit herausgegeben wurde. In diesem Band wird sogar ein angeblicher Fotograf mit Namen Ivan Kobozev präsentiert, der erzählt, wie er dieses Foto in den Morgenstunden des 8. November geschossen habe.

Ob Evreinov bewusst war, dass er mit dem Massenspektakel die Geschichtsschreibung aufpolierte, lässt sich nicht rekonstruieren. Es ist aber nicht anzunehmen. In seinen Erinnerungen an das Massenspektakel macht er immer wieder darauf aufmerksam, dass es sich um eine historische Rekonstruktion des Sturms handle. Evreinov schreibt, dass unter denjenigen, die in der Nachstellung auf das Palais stürmten, solche waren, die 1917 am Sturm auf den Winterpalast bereits teilgenommen hatten oder die damals als Personal der Kerenskij-Regierung im Winterpalast arbeiteten. Diese wenigen Zeugen der Revolution hatten eine wichtige Funktion: Sie sollten das theatrale Ereignis beglaubigen, so dass die Zeugen der theatralen Veranstaltung auch zu Zeugen am historischen Ereignis werden konnten.

So konnte das theatrale Ereignis das historische Ereignis substituieren. Folgt man Evreinovs Theatertheorie, so könnte ein solcher Schluss der Substitution tatsächlich auch konzeptuell naheliegen. 1920 verfasst Evreinov eine Art Manifest im Journal Žizn’ iskusstva (Das Leben der Kunst), das den programmatischen Titel „Theatertherapie“ („Teatroterapija“) trägt.

Theatertherapie meint bei Evreinov, dass der Mensch durch das Theaterspielen im Alltag aus seinem gewohnten Leben herausgerissen wird und dadurch eine Verwandlung erleben kann, die eine therapeutische Wirkung hat. Das Theater könne so jene Situationen, die der Mensch im realen Leben nicht erleben konnte, ersetzen. Damit entwickelt Evreinov eine Therapie, die nicht wie bei Freud auf Wiederholung, sondern auf Ersatz basiert. Während Freud dem Patienten in der talking cure erlauben wollte, „einen der heißesten Wünsche der Menschheit“ zu erfüllen, nämlich „etwas zweimal tun zu dürfen“,[iii] also im Grunde ein therapeutisches imaginäres Reenactment zu vollziehen, wird Evreinovs Therapiekonzept allein durch die Möglichkeit zur Verwandlung durch den ausgelebten Instinkt zum Theater-Spielen erreicht. Die Evreinov’sche Theatertherapie richtet sich deshalb nicht wie bei Freud auf das Begehren, etwas zweimal tun zu dürfen, sondern auf das vielleicht noch ›heißere‹ Begehren, etwas überhaupt erleben zu dürfen, auch wenn dieses Tun nur im Spiel erfolgt. Das heißt auch, dass Evreinov gar kein Ereignis benötigte, auf das sich die ›Rekonstruktion‹ bezieht, das Theater war aus seiner Perspektive in der Lage, die mit einem solchen Ereignis verbundenen Erlebnisse zu schaffen.

Evreinovs Sturm auf den Winterpalast hatte damit eine sowohl kollektiv wie auch individuell substituierende Funktion. Es sollte für die Akteure das historische Ereignis für die künftige kollektive Erinnerung, die die individuelle korrigiert, herstellen. Ganz in diesem Sinne schreibt Evreinov in seinen Erinnerungen, dass es darum gehe, den „erhabenen Moment“ der Geschichte in eine „authentische und erhabene Aufführung“ zu „übertragen“ und die, im Unterschied zum wiederholten Ereignis, selbst unwiederholbar sein soll.[iv] Evreinov will also das historische Ereignis mit dem Theater noch überbieten. So können die Zeitzeugen das Ereignis künftig so erinnern, wie es die Geschichtsschreibung von ihnen verlangen wird. Und die Theaterzeugen werden in Zeitzeugen verwandelt. Das historische Nichtereignis wurde quasi durch das Theater für die, die es nur aus der Überlieferung kannten, in eigenes Erleben verwandelt und für die anderen, die es bereits erlebt hatten, repariert.


[i] Nikolaj Evreinov, „Vzjatie Zimnego Dvorca“, o.D., 11.

[ii] Ebd., 11.

[iii] Sigmund Freud, „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“, in: ders., Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband. Nachtragsband, Frankfurt a.M. 1987, 81–95, hier 93.

[iv] Evreinov, „Vzjatie“, 1.

Sylvia Sasse

Sylvia Sasse studierte Slawistik und Germanistik in Konstanz und St. Petersburg. Nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten an verschiedenen Instituten wurde sie 2009 als Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft an die Universität Zürich berufen. Aktuell forscht sie zur Interferenz von Literatur und Recht, Konzepten des Auswegs und Performance Art in Osteuropa.

Sturm auf das Winterpalais

2017 jährt sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal. Die Ausstellung im Hartware MedienKunstVerein widmet sich aus diesem Anlass jener Fotografie, die wie keine andere zum Symbolbild der Revolution geworden ist: dem "Sturm auf das Winterpalais" und unternimmt eine "Forensik des Bildes". 

Magazinarchiv

Magazine bestellen

Die Magazine der Kulturstiftung geben einen facettenreichen Einblick in die Arbeit der Kulturstiftung der vergangenen 20 Jahre.

Zahlreiche Print-Ausgaben können Sie kostenfrei nachbestellen. Bitte teilen Sie uns Ihre Wunsch-Ausgaben sowie Ihre Adresse mit.

 

Zudem können Sie ab Ausgabe #9 (2007) alle Magazine auch als digitale Ausgaben auf Issuu (nicht barrierefrei (externer Link, öffnet neues Fenster)) abrufen.

Adressdaten ändern

Wenn Sie Ihre Adressdaten korrigieren oder ändern möchten, schicken Sie uns bitte eine E-Mail mit den geänderten Kontaktdaten (alte und neue Adresse) an:

magazin​(at)​kulturstiftung-bund.de