Aus weiter Ferne

Christoph Menke

1. Gegenüber der Revolution gibt es nur eine Haltung, die ihr gerecht wird. Das ist die Haltung, die Kant (in Der Streit der Fakultäten), am Beispiel der Französischen Revolution, die „Parteilichkeit“ genannt hat. Gegenüber der Revolution gibt es keine Neutralität. Wie weit auch immer man von ihr entfernt sei – ob so weit entfernt, wie Kants Königsberg vom revolutionären Paris liegt oder wie 2017 von 1917 getrennt ist –, man kann zu ihr nur Ja oder Nein sagen. Man begreift Ereignisse nur als revolutionäre, wenn man zu ihnen und in ihnen Partei ergreift; für die „Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern“ (Kant). Auch der Konterrevolutionär anerkennt daher die Revolution; das tut er, indem er sie bekämpft. Eine Haltung, die beiden Seiten in einer Revolution – denn am Ende gibt es in einer Revolution immer nur zwei Seiten – zugleich gerecht werden will, wird ihr dadurch gerade nicht gerecht. Die Haltung der gerechten Abwägung zwischen den beiden Seiten löst die Revolution auf: Gegenüber der Revolution ist die gerechte Haltung ungerecht.

So wie es in der Revolution nur zwei Parteien gibt, so kann es auch zur Revolution nur zwei Haltungen geben. Die eine Haltung ist die von Zhou Enlai, dem Premierminister der Volksrepublik China, der auf Richard Nixons Frage, was er von der Französischen Revolution halte, geantwortet haben soll: It is too early to tell – es ist zu früh, um das zu sagen. Für Zhou Enlai ist die Revolution der Kampf der Parteien, den es immer nur jetzt, in der Gegenwart, gibt: Dieser Kampf hält noch an, wir kämpfen ihn noch. Das ist die politische Haltung; sie bezeugt die Revolution, indem sie in ihr Partei ergreift. Sie steht immer in der Revolution.

Die andere Haltung zur Revolution hat exemplarisch Alexis de Tocqueville formuliert. Er sah sich fünfzig Jahre danach der Revolution „fern genug“, um im distanzierten Rückblick „erkennen“ zu können, was sie in Wahrheit gewesen ist: „die Vollendung der langwierigsten Arbeit, der plötzliche und gewaltsame Abschluss eines Werkes, an dem zehn Menschenalter gearbeitet hatten“ – die Stifterin der Ordnung, die unsere geworden ist. Während der chinesische Kommunist in der Gegenwart der Revolution lebt, ist sie für den bürgerlichen Liberalen immer schon vergangen. Die liberale Haltung ist: Die Revolution gab es einmal. Der Liberale schaut auf die Revolution zurück als ein vergangenes Ereignis. Damit sagt er aber nichts anderes, als dass es die Revolution nicht gibt.

Während der chinesische Kommunist die Revolution vergegenwärtigt (und sich darin politisch verhält), besteht die Haltung des bürgerlichen Liberalen darin, sie zu historisieren. Die Revolution gilt ihm als Vorgeschichte. Das heißt, er macht aus dem revolutionären Wandel ein evolutionäres Geschehen, das sich seit langem („zehn Menschenalter“!) und wie von selbst vollzogen hat; niemand hat es getan. Selbst (und gerade) die Revolution, die ihn hervorgebracht hat, erklärt der Liberalismus zu einem Ding der Vergangenheit; zu etwas, das im Augenblick seines Vollzugs schon verging. In der geschichtlichen Einstellung löst die Revolution sich auf. Denn sie existiert nur in der Gegenwart.

 

2. Die Gegenwart der Revolution ist aber keine einfache, unmittelbare Anwesenheit. Es gibt sie nur für Zuschauer, „die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind“. So lautet die entscheidende Einsicht von Kant, die Judith Mohrmann (in einer Studie über Affekt und Revolution) eindrücklich entfaltet hat. Gerade für den in die Revolution bloß „Verwickelten“ gibt es sie daher nicht. Die Revolution ist nur so und dann gegenwärtig, wenn die parteiliche Teilnahme an ihr sich in sich entzweit: in eine in sie „verwickelte“ und in eine zuschauende Teilnahme. Das Subjekt der Revolution ist in Täter und Zuschauer gespalten, die voneinander unterschieden sind und zugleich einander brauchen. Denn beide verbinden eine Stärke mit einer Schwäche; beide haben eine Stärke, die eine Schwäche, eine Schwäche, die eine Stärke ist.

Die Schwäche – die zugleich ihre Stärke ist – der Zuschauer der Revolution liegt darin, dass, so Kant, ihre „Teilnehmung [eine] dem Wunsche nach“ ist. Wer lesend, redend und debattierend in Königsberg an der Revolution in Frankreich teilnimmt, tut dies nicht durch eigene Taten, die in dem „Spiele großer Umwandlungen“ vor Ort wirksam wären. Er tut dies nur dem Wunsche nach; der Wunsch nach Teilnahme ist eine Teilnahme im Wunsch. Und das gilt ebenso für diejenigen, die in Frankfurt und Berlin 1967 lesend, redend und debattierend an den Revolutionen in Sankt Petersburg 1917/18, in Kuba 1958, in China 1949 und 1966 teilnehmen. Sie wünschen sich nicht nur teilzunehmen; sie nehmen teil, indem sie wünschen.

Aber diese Schwäche der zuschauenden Teilnahme ist zugleich ihre Stärke. Denn es gibt keine wahre Teilnahme an der Revolution, die nicht eine Teilnahme dem Wunsche nach ist. Die Revolution zu wünschen, ist keine defizitäre Einstellung, die durch den Übergang zu wahrer Praxis, tatkräftigem Eingreifen, aktivem Engagement zu überwinden wäre. Es kann gar keine Verwirklichung der Revolution geben, die nicht der Wunsch nach der Revolution, die Revolution im Wünschen, ja der Wünsche ist. Die Revolution zu machen heißt nicht, den Wunsch zu erfüllen und in die Tat aufzulösen, vom Wunsch zur Tat überzugehen. Das ist ein Fetischismus der Praxis. Die parteiliche Teilnahme an der Revolution aber muss Teilnahme in der Form des Wünschens sein.

Kant sagt auch, weshalb das so ist: weil die „Teilnehmung dem Wunsche nach“ eine ist, „die nahe an Enthusiasm“ grenzt. Die wünschende Teilnahme des nicht direkt in das revolutionäre Spiel verwickelten Zuschauers grenzt an Enthusiasmus. Enthusiasmus ist Begeisterung durch etwas Großes, Überschreitendes – durch eine Idee. In seiner wünschenden Teilnahme ist der Zuschauer begeistert über die Revolution, weil sich in ihr etwas verwirklicht, das über ihn hinausgeht. Der in die Revolution verwickelte Teilnehmer dagegen steht in Gefahr, seine Begeisterung zu verlieren. Er muss kämpfen: Er muss kalkulieren, verborgene Absichten erspähen, Gefahren antizipieren, Strategien entwickeln, Taktiken ersinnen und ausführen. Und er muss aufbauen: Er muss Ordnungen erschaffen, neue Strukturen ausprobieren, dabei die vorhandenen Fähigkeiten mobilisieren, um die dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Der verwickelte Teilnehmer an der Revolution ist als Soldat und Organisator gefordert. Lenins Schriften unmittelbar nach dem erfolgreichen Oktober-Aufstand, als es um die Sicherung des Erfolgs geht, zeigen das. Weiß er da überhaupt noch, dass er ein Revolutionär ist – was es heißt, ein Revolutionär zu sein? Gerade der Revolutionär weiß nicht, was eine Revolution ist. Das weiß der Zuschauer, der von ferne her – Kant in Königsberg, Benjamin in Berlin, wir heute – teilnimmt und dessen revolutionärer Wunsch an Enthusiasmus grenzt.

 

3. Der in die Revolution verwickelte Teilnehmer braucht den Zuschauer, weil dessen Enthusiasmus etwas erfährt und bestärkt, was dem Handelnden zu entgleiten droht. Kant nennt es das „Idealische“ und bestimmt es als die Idee einer Rechtsordnung, die die Revolutionäre deshalb etablieren wollen, weil sie ihnen „selbst gut zu sein dünkt“. Die Begeisterung der Zuschauer der Revolution ist ihre „Teilnehmung am Guten mit Affekt“; sie bekundet das Gute der Revolution. Braucht die Revolution also deshalb enthusiastische Zuschauer, um an das Gute zu erinnern, für dessen Verwirklichung sie angetreten ist und das die Revolutionäre, die in die Kämpfe des Tages, die Mühen der Ebene, verwickelt sind, vergessen zu haben scheinen? Sind die Zuschauer die Idealisten, die die Revolutionäre nicht bleiben konnten? Ist es das Privileg der Zuschauer, sich die idealische Haltung bewahren zu können, die im Handeln nicht realisierbar ist? Wäre es so, dann gäbe es keine Revolution. Denn die Revolution ist die idealische Tat: Sie tut das Gute (oder sie ist gar keine Revolution).

Dazu muss das revolutionäre Handeln beides sein: idealisch wie die zuschauende Teilnahme, realistisch wie die tätige, verwickelte. Die Begeisterung der Zuschauer über die Revolution ist keine Projektion, keine Begeisterung nur über sich selbst, Begeisterung über die eigene Begeisterung. Sondern sie entdeckt etwas im Handeln der Revolutionäre, das ihnen selbst zumeist verdeckt bleibt: dass das revolutionäre Handeln selbst ein „Handeln aus Enthusiasmus“ (Mohrmann) ist. Die Begeisterung der Zuschauer über die Revolution erschließt die Begeisterung der Handelnden in der Revolution: die Begeisterung, ohne die ihr Handeln kein revolutionäres wäre und die sie zugleich, notwendigerweise, vergessen, ja unterdrücken.

Kants grundlegende Einsicht besagt, dass die Revolution nicht aus den Taten der Revolutionäre besteht. Die Revolution liegt vielmehr zwischen den Handelnden und den Zuschauern; sie ist kein datierbares und lokalisierbares Ereignis, sondern ein Zwischenraum, ein Verhältnis. Nur so, als dieses Verhältnis, gibt es die Revolution. In diesem Verhältnis ist der Handelnde überdies zweimal da. In dem Verhältnis zwischen dem Handelnden und dem Zuschauer (in dem die Revolution besteht) spaltet sich das Handeln in sich: Der Effekt des Zuschauens ist die Spaltung des Handelns. Das revolutionäre Handeln erscheint dem Zuschauer als doppeltes: idealisch und pragmatisch oder strategisch, begeistert und nüchtern oder kalkulierend.

 

4. Im Jahr 1930 hat Dziga Vertov einen Film gedreht, in dem er die Industrialisierungs- und Kollektivierungsanstrengungen des ersten sowjetischen Fünfjahresplans darstellt. Weil die Filmmusik zum Großteil aus den Tönen und Geräuschen des industriellen Lebens im ostukrainischen Kohlerevier montiert ist, trägt der Film den Unter- oder Zweittitel „Symphonie des Donbass“. Sein Haupttitel aber ist Enthusiasmus. Dabei soll der Film Enthusiasmus nicht nur wecken, sondern zeigen (oder Enthusiasmus wecken, indem und weil er ihn zeigt): Der Film zeigt die Begeisterung der revolutionären Veränderung. Er zeigt die Begeisterung, die in der Veränderung selbst wirksam und anwesend ist. Die revolutionäre Veränderung ist begeisternd, weil sie begeistert ist.

Dabei versteht Vertov die revolutionäre Veränderung so, wie Lenin sie, vor allem nach dem Oktober 1917, immer wieder beschrieben und gefordert hat: nicht als den spektakulären Coup der Erstürmung des Winterpalais’, den Eisenstein zum zehnjährigen Jubiläum reinszeniert hat, sondern als die langandauernde, mühselige Arbeit der Umgestaltung der Verhältnisse (am wichtigsten der Arbeit selbst). Die Revolution, so wissen Lenin und Vertov, findet nicht als einmaliger Akt statt. Die Revolution ist ein langdauernder Prozess (ob sie deshalb auch ein permanenter Prozess ist, ist der Streit mit Trotzki). Um „die Wirtschaft des Landes möglichst rasch zu heben“, schreibt Lenin im April 1918 über Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, ist es nötig, nach der „Verrohung“, „Verwilderung“, „Verzweiflung“ und „gegenstandslosen Erbitterung“ durch den Krieg und den folgenden Umsturz „einen vollständigen Umschwung in den Stimmungen der Masse und ihren Übergang zu einer richtigen, ausdauernden und disziplinierten Arbeit herbeizuführen.“ Die erste Aufgabe der revolutionären Macht ist die „Disziplin“: die Disziplinierung des Arbeitens und der Arbeiter.

Vertovs Film zeigt, wie das geschieht. Das heißt, er zeigt, wie sich die Disziplinierung der Arbeit als revolutionärer Prozess vollzieht. Was bei Lenin nur eine Behauptung bleibt – dass die Disziplinierung der Arbeit durch die Sowjetmacht zugleich den befreienden „Bruch mit der verfluchten Vergangenheit“ bedeutet –, wird bei Vertov gezeigt und damit wirklich. Das Versprechen der Revolution lautet, dass es zwischen der alten, kapitalistischen und der neuen, revolutionären Disziplinierung der Arbeit tatsächlich einen Unterschied gibt. Lenin kann nicht erklären, worin der besteht. Vertov zeigt es an der Form des Trainings, des Lernens und Übens, durch das sich die Disziplinierung vollzieht. In einer entscheidenden Szene des Films werden Komsomolzen, ungelernte Freiwillige, für die harte Arbeit des Kohleabbaus untertage trainiert. Vertov zeigt die Übungen, in denen sie die dafür nötigen Fähigkeiten erwerben, als ein Ballett der Bewegungswiederholungen, die in ihrer Endlosigkeit auch ihr Ziel zu vergessen scheinen. Das rein Mechanische der Einübung von sinnloser Disziplin kippt in die Zweckfreiheit des Spiels. In einem Moment werden Disziplin und Slapstick ununterscheidbar (vielleicht mochte Chaplin auch deshalb diesen Film so sehr). Vertov zeigt, was Kleist beschrieben hat: dass die Mechanisierung befreien kann.

Die Revolution besteht nicht in dem umwälzenden Akt, dem Moment der Anarchie, in dem die alte Ordnung ihren Kopf verliert. Sie besteht aber auch nicht in der effektiven Gründung einer neuen Ordnung, über deren Stabilität und Geltung wir vergessen können, durch welche Schrecken sie etabliert wurde. Die Revolution besteht in der Veränderung des Lebens in dem, worin es am unfreiesten ist: im Leben als diszipliniertem Tun, als Arbeit. Die Revolution verändert es nicht, indem sie es abschafft; ohne Disziplinierung – Abrichtung, Übung, Prüfung – gibt es gar keine Fähigkeiten und daher auch kein Handeln. Die Revolution verändert das Üben selbst: Sie macht es zu einem Vollzug, der begeistert, weil er spielerisch ist. Oder lebendig (denn Begeisterung, Enthusiasmus, heißt Belebung, animation).

 

Die Existenz selbst vergangener Revolutionen hängt also von uns ab, die – und wie – wir sie erinnern. Denn Revolutionen, die vergangen, die nur ein Ereignis in der Vergangenheit sind, sind keine. Um Revolutionen gewesen zu sein, brauchen sie Zuschauer in der Gegenwart, deren Teilnehmung dem Wunsche nach an Enthusiasmus grenzt. Dieser Enthusiasmus ist kein blinder, dummer Überschwang der Gefühle. Er ist oder bestimmt eine „Denkungsart“ (Kant). Dem Wunsche nach an der Revolution teilzunehmen heißt ein anderes Denken zu praktizieren. Es ist die Veränderung des Lebens im Denken: im Denken, immerhin im Denken, in der Haltung.     

 

Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Kap. II.6

Judith Mohrmann, Affekt und Revolution. Politisches Handeln nach Arendt und Kant, Frankfurt am Main/New York 2015

Christoph Menke

Der Philosoph und Germanist Christoph Menke (*1958) hat seit 2009 den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main inne und leitet dort das Forschungsprojekt „Normativität und Subjektivität“. Menke veröffentlichte u.a. zu Recht und Gewalt (Berlin 2011) und zur Kraft der Kunst (Berlin 2013). Zuletzt erschien von ihm im Suhrkamp Verlag Kritik der Rechte (2015). Im Heft 794 (2015) der Zeitschrift Merkurveröffentlichte Menke einen Artikel über „Die Möglichkeit der Revolution“.

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