Von Monica Juneja
Als der französische Kunsthistoriker Serge Guilbaut die 1940er Jahre zum Zeitraum stilisierte, "when New York stole the idea of modern art" in seinem gleichnamigen Buch von 1983), deutete er auf eine Geografie der Moderne hin, die bis heute den etablierten kunsthistorischen und damit den musealen Diskurs mitgeformt hat. Die lineare Erzählung moderner Kunst positionierte sich entlang der Achse Paris-Berlin-Wien, die dann von dem kriegsgebeutelten Europa nach New York verlängert wurde. Wo und nach welchem Prinzip lassen sich in diesem Narrativ die "Außenposten der Moderne", etwa Shanghai, Bombay, São Paulo, Kairo, Mexiko-Stadt, Teheran oder Ljubljana, welche die jüngere Forschung nach und nach ans Licht bringt, zuordnen? Jeder dieser Orte bildete ein Laboratorium für künstlerische Experimente, die aus modernen Subjektpositionen hervorsprudelten und an einem wachsenden Netzwerk von grenzüberschreitenden, häufig weiträumigen Begegnungen beteiligt waren. Eine Kunstgeschichtsschreibung, die sich überwiegend mit der Erstellung von Genealogien stilistischer Einflüsse beschäftigt, hat uns eine Erzählung von der Moderne als Exportgeschichte zivilisatorischer Errungenschaften aus westlichen Zentren in die aufsaugenden "Peripherien" der Welt beschert. Der Gegensatz zwischen dem Ort des Ursprungs, dem Hort der Originalität, und den vermeintlich abgekupferten oder Nachzügler-Varianten der Moderne findet sein Echo im musealen Kanon. Die Exklusion nichteuropäischer Strömungen aus den großen Sammlungen moderner Kunst fällt – im Gegensatz zur äußerst sichtbaren Gegenwartskunst aus unzähligen Weltregionen – schlagartig auf. Sei es London, New York oder Berlin, an solchen Orten sind die Abteilungen zur Moderne und Avantgarde in den großen Museen von einer Art Glaswand umgeben – hier hat nicht nur die außereuropäische, sondern auch die osteuropäische Avantgarde nach wie vor keinen Platz.
Inzwischen aber ist der kunsthistorische Diskurs über die Moderne vielfach revidiert worden, um die dem gängigen Narrativ zugrunde liegenden teleologischen Tendenzen, universellen Ansprüche und Geschlechterideologien kritisch zu hinterfragen. Die postkolonialen Studien haben ihrerseits den grundsätzlichen Eurozentrismus angegriffen, indem sie anstelle von Konzepten des Exports und des Derivats Begriffe wie Kulturelle Übersetzung oder Mimikry heranziehen, um die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Welträumen, vor allem unter dem Zeichen des Kolonialismus, zu erschließen und den Künstlern unter kolonialen Bedingungen die Fähigkeit, eigenständige künstlerische Positionen zu entwickeln, zuzusprechen. Die radikalen politischen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen seit dem Ende des Kalten Krieges haben im Kunstbereich eine Neuschreibung kultureller Geografien angeregt, in der es nicht um die Umkehrung der alten Zentrum-Peripherie-Modelle geht, sondern um eine veränderte Kartografie auf der Basis von Gemeinsamkeiten, Reziprozität und Vielfalt. Und schließlich geht die Perspektive einer globalen oder transkulturellen Moderne von der Prämisse aus, dass die Moderne einen Daseinszustand oder eine Lebensbedingung definiert, in der ganz unterschiedliche materielle Elemente und soziale Akteure ständig aus ihren Ursprüngen gerissen und über wachsende Netzwerke des Reisens und des ökonomischen Handels miteinander in Kontakt gebracht werden. Der Ansatz regt an zu untersuchen, auf welche Weise der grenzüberschreitende Dialog und die darauffolgenden transkulturellen Beziehungen eine bedeutende und immer gegenwärtige Rolle in der Geschichte der Moderne spielen. Von Bewegungen wie dem Primitivismus, dem Surrealismus über grundlegende Prozesse wie Abstraktion und Montage bis hin zu den Grenzgängen der Popkultur zeigt sich, dass kulturelle Differenz nicht anormal oder etwas Besonderes ist, sondern eine strukturelle, vielleicht auch normative Eigenschaft der künstlerischen Produktion unter den Bedingungen der Moderne als globaler Prozess.
Welche Herausforderung bildet die Neuperspektivierung der Kunst- und Kulturgeschichte zur Moderne unter dem Zeichen des global turn für die museale Praxis des Ausstellens und Sammelns? Als national verankerte Institutionen mit der Funktion, die Staatsbürgerschaft mitzugestalten, befinden sich Museen – ähnlich wie der gegenwärtige Nationalstaat – vor der Aufgabe, sich in einer global verflochtenen Welt neu zu positionieren. Um der transkulturellen Vergangenheit des nationalen Gebildes als auch der zunehmenden Pluralität der Gegenwart gerecht zu werden, verlangt die Beziehung zwischen Nation und Kultur grundlegend reflektiert zu werden. Konkreter sind Museen und Sammlungen aufgefordert, innovative Konzepte zu gestalten, um grenzüberschreitende Verbindungen zwischen Akteuren, künstlerischen Strömungen und Objekten sichtbar und erfahrbar zu machen und um zugleich die eigene Sammlungsgeschichte mit zu reflektieren. Während etliche ethnologische Sammlungen einen selbstreflexiven Prozess des Sich-neu-Erfindens bereits in Gang gesetzt haben, zeigen sich – mit einigen wenigen Ausnahmen – die einschlägigen, Kanon-bildenden Kunstmuseen in dieser Hinsicht zögerlicher. Einen Weg in diese Richtung bahnte die im Pariser Centre Pompidou durch Catherine Grenier kuratierte Ausstellung "Modernités plurielles 1905–1970" (Oktober 2013 bis Januar 2015), inspiriert von einer inklusiven, vernetzten Vision der künstlerischen Moderne. Trotz mutiger Grenzüberschreitung gelangte das Pariser Projekt schnell an seine Grenzen. Eine auf die eigene Sammlung allein angewiesene Ausstellung läuft Gefahr, die der Sammlungsgeschichte innewohnenden, historisch-kulturell bedingten Machtbeziehungen und Asymmetrien zu reproduzieren, wenn das Ausstellungskonzept die Erwerbskriterien außereuropäischer Objekte zu bestimmten historischen Zeiten nicht als Teil seines theoretischen Gerüsts thematisiert. Die einzelnen choreografierten Momente einer Begegnung bislang unbekannter außereuropäischer Künstler mit der Pariser Kunstwelt, die sich dem Publikum darboten, bewirkten so am Ende eine Verfestigung seiner vorhandenen Auffassung von Paris als Zentrum. Dennoch gilt das Experiment als wichtiges Beispiel eines "critical curating". Eine weitere Möglichkeit wäre eine Ausstellung mit Leihgaben, mit dem Ziel, die Wege einer "exzentrischen" Moderne zu entdecken. Was in der Wissenschaft als "bloß additiv" verpönt wird, könnte für das Medium Ausstellung ein dynamisches Potenzial besitzen, und zwar das Nebeneinander-Platzieren von Werken, denen der Stilkanon bislang getrennte geografisch-kulturelle Räume zugewiesen hat. Eine solche Geste der Distanzüberbrückung und des In-Beziehung-Setzens könnte unerwartete Überraschungen hervorbringen. Die Überwindung von Gattungs- und Stilordnungen sowie von gängigen Qualitätskriterien, die selbst ein ideologisches Erbe der westlichen Moderne sind, kommt für viele Kunstmuseen einem Tabubruch nahe. Hier mag ein Dialog mit kuratorischen sowie künstlerischen Praktiken aus der Gegenwartskunst frische Impulse bringen – vor allem wenn es um die Entgrenzung des alleinstehenden "Meisterwerks" geht, um es als Teil eines Beziehungsgeflechts zwischen Materialität, dem Seriellen und dem Repetitiven neu zu positionieren.
Sowohl die kunsthistorische Forschung als auch die Museen sind heute bestrebt, verborgene oder vergessene Geschichten und Spuren ans Licht zu bringen und adäquate Gestaltungsmodi sowie eine Sprache – sei es fachlich oder museal – zu schaffen, um eine Antwort auf die Herausforderung der Globalität zu finden. Dafür benötigen sie die Intensivierung des jüngst begonnenen, wechselseitig synergetischen Austauschs miteinander. Die Rehabilitierung moderner Kunst im Deutschland der Nachkriegszeit verdankt ihren Erfolg in wesentlichem Maße der Zielstrebigkeit, Vision und dem Mut zur Grenzüberschreitung, wie ihn Kuratoren und Museumsleiter aufbrachten wie etwa Werner Schmalenbach, um ein Beispiel zu nennen. Vielleicht ist heute eine weitere Grenzüberschreitung angesagt.