Der Schriftsteller Jewgeni Schwarz war in der Sowjetunion als Märchenerzähler abgestempelt, und dieser Umstand half ihm, dessen Freunde und Zeitgenossen reihenweise verbannt und hingerichtet wurden, zu überleben: zu leben bis zu seinem natürlichen, von niemandem anberaumten Tod. Er schrieb erfolgreiche Theaterstücke über Drachen, nackte Könige und Bären, die man für leichte Kost halten konnte – oder man konnte in den Ritzen und Lücken des Textes subtile, präzise Anspielungen auf die sich rasant verfinsternde politische Realität der Zeit entdecken, vielleicht auch die Finsternis selbst, die in ihm versteckt lag und dem Zuschauer auflauerte. 1940 schrieb Schwarz eine Geschichte, die später in sämtliche Lesebücher aufgenommen werden sollte; ihr Titel – Märchen von der verlorenen Zeit – klingt überraschend proustianisch, die Handlung ist schlicht: Böse Zauberer stehlen den Kindern die für deren Kindheit vorgesehene Zeit, wodurch aus den Kindern runzlige Greise werden und aus den Zauberern Kinder, die wieder ein sorgloses Leben zwischen Eisbahn und verbummelten Hausaufgaben genießen. Um sich das Gestohlene zurückzuholen, müssen die Helden die Uhrzeiger um siebenundsiebzig Umdrehungen zurückdrehen, in die Zeit davor, als die Kinder noch Kinder waren und die Schurken alte Zauberer.
Die konservative Wende der jüngsten Zeit hat kein einheitliches Gesicht; wenn sie eines hätte, wäre es das Gesicht eines solchen verjüngten Zauberers: unnatürlich kindlich, mit Grübchen und goldenen Locken, ein Gesicht von einem Werbeplakat, Popanz einer fremden Zukunftsfantasie aus jener Zeit, als Schwarz seine Geschichte schrieb und Auden über den Ozean auf Europa blickte, das mit einem Mal zu den darkened lands of the earth gehörte.
Lange Zeit schien es, als wäre dieses Gesicht ein für allemal verschwunden. Die Nachkriegswelt – und in diesem Punkt unterschieden sich der Westen und die Sowjetunion, Europa und Amerika kaum – hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus ihren Fehlern zu lernen und ein System aufzubauen, das keine Wiederholung des Vergangenen zuließ. Lehrstühle und Schulklassen, Generationen von Intellektuellen, die ganze mächtige Maschinerie der Kultur arbeiteten über Jahrzehnte an diesem „Nie wieder!“. Erinnern, wissen, wachsam sein, das war die Devise.
Vor etwa einem Jahr habe ich einen Versuch unternommen, die Ursache für Russlands Entwicklung der letzten Jahre zu verstehen, jene veränderten Wahrnehmungsweisen (im Sinn der Sontag’schen sensibility), die all das möglich gemacht haben: die schweigende Putin’sche Mehrheit, den Krieg in der Ukraine, die politisch motivierten Gerichtsverfahren und die pausenlosen Festivitäten, die parallel dazu ablaufen. Das Geschehen in Russland schien mir damals als Extremfall, der sich unter veränderten Bedingungen nicht reproduzieren ließe und gerade deshalb lehrreich wäre. Die Grundzüge der Weltwahrnehmung, die ich festzuhalten versuchte, muteten sehr heterogen und in ihrer Kombination zugleich seltsam konsequent an: Es waren die bleibenden Kennzeichen einer Gesellschaft, die geprägt ist durch eine über ein Jahrhundert lang andauernde, unvorstellbare Gewaltgeschichte. Dieses Spezifikum Russlands – nämlich dass das Trauma sich hier nicht auf eine Grenzerfahrung reduzieren lässt, sondern eine Kette solcher Erfahrungen darstellt, deren jede die vorangegangene fortschreibt und vertieft, eine Art Korridor des permanenten Schmerzes – scheint mir nach wie vor einzigartig.
Umso sonderbarer und bitterer ist es, ein Jahr später dieselben Züge in der Rhetorik und politischen Praxis von Ländern wiederzufinden, die ich bislang wenn nicht als Vorbilder betrachtet hatte, so doch als Spielarten der Norm – im Sinn von Lebensweisen, die durch das unsichtbare Netz eines ethischen Vertrags zusammengehalten werden. Jetzt sehe ich auch hier das bekannte hybride Muster, das Nebeneinander unvereinbarer Standpunkte, die Inkonsequenz, den raschen Wechsel von Strategien und Lösungsansätzen, die Verdrehung von Tatsachen zum Zweck einer allgemeinen Emotionalisierung. Auch das Kulissenhafte, Unechte daran ist bekannt: Man beruft sich auf inexistente Präzedenzfälle, auf Traditionen, die man im selben Atemzug erfindet, und macht aus Phantomen Gegenstände einer tätigen Nostalgie. Man vereinnahmt fremde Diskurse ohne Rücksicht auf Kontext und Bedeutung. Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Schwarz und Weiß mischen sich in dieser Logik, gehen fließend ineinander über. Und alle diese Wahrheiten und Unwahrheiten sprechen eine Sprache von gestern. Das Schlüsselwort des Slogans „Make America great again“ ist nicht „great“, sondern „again“. Auf der Tagesordnung stehen nicht Zukunftsfantasien, sondern ein Traum von der Vergangenheit.
Diese Vergangenheit lässt sich weder lokalisieren noch beschreiben, weil sie nicht historischer, sondern fantastischer Natur ist; ihre Hauptmerkmale sind Glückseligkeit und Unveränderlichkeit. Stasis als Staatsideal war das unausgesprochene Ziel von Putins politischem Projekt – eines Projekts, das sich ausschließlich am Bild einer großen Vergangenheit orientiert, welche das Regime notdürftig zu rekonstruieren versucht. Bis vor kurzem war es schwer vorstellbar, dass der Charme des politischen Reenactments globales Potenzial entfalten könnte. Heute aber scheint selbst die Sehnsucht nach der Welt vor 1913 schon wieder überholt. Nie haben wir so viele Dystopien und Katastrophenfilme gesehen wie in den letzten zwanzig Jahren. Ihre Botschaft wurde gründlich verinnerlicht: Die Zukunft ist immer schlechter als die Gegenwart und darf folglich nicht eintreten. Man muss sie um jeden Preis bekämpfen, oder zumindest dafür sorgen, dass sie der Vergangenheit möglichst ähnlich sieht.
Die neue Wahrnehmung, die hinter der Wende nach rechts steht, sieht Größe wie Glückseligkeit wie auch Sicherheit grundsätzlich nicht als Sache der Zukunft: Man kann sie weder erkämpfen noch ererben, sondern nur imitieren. Das höchste Ziel ist die perfekte Nachbildung, ein Bild der Vergangenheit, das befreit ist von späteren Schichten, von den Spuren der Globalisierung, des Multikulturalismus, von jedem Hinweis auf das Allgemein-Menschliche, auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Arbeit an einem besseren Leben. Lange stand die Welt der Idee von Veränderung als solcher nicht so hilflos und ängstlich gegenüber wie heute. Der Augenblick soll verweilen – nicht, weil er so schön ist, sondern weil wir allem, was nach ihm kommt, misstrauen; unser einziger sicherer Halt ist die Vergangenheit, das Terrain des (vermeintlich) exakten Wissens, der verlässlichen Modelle.
All das fügt sich zu einem übergreifenden Muster, das nichts gemein hat mit 1917 oder 1933: Es geht nicht darum, der Welt eine neue Gestalt zu geben, sondern darum, sie von innen zu verriegeln. Was derzeit in Russland, Europa und Amerika vorgeht, scheint weniger mit Politik als mit Metaphysik zu tun zu haben. Die Entwicklung, die ich so gebannt beobachte und die derzeit die Karte der Welt verändert, ist ein verzweifelter Versuch, gegen die Zeit anzukämpfen, gegen die Unausweichlichkeit von Alter und Zerfall.
Eine Welt, die ihre eigene Zukunft nicht mehr liebt, hat für die Idee des Fortschritts, der schrittweisen Entwicklung zum Besseren keine Verwendung. Wie auch für die Idee des Neuen – nicht im Sinn des neuesten Gadgets, sondern des Neuen an sich, als etwas Unbekanntem, Erschreckendem, das unser Leben zu einer Sache von Mut und Verantwortung macht. Rimbauds Forderung, „absolut modern zu sein“, kommt in der neuen Weltwahrnehmung nicht mehr vor, oder schlimmer, sie wandert in Lifestyle- und Instagram-Sphären ab und wird zur Parodie ihrer selbst.
Mir scheint, das „Vergangenheitsspiel“, das heute so viele spielen, ist zum Teil auch ein Produkt der Hochkultur der letzten Jahrzehnte, hervorgegangen aus eben jenem Kult des historischen Gedächtnisses, der eine Wiederholung des Vergangenen verhindern sollte. Die bloße Idee eines optimistischen Projekts ist durch Nationalsozialismus und Kommunismus gründlich diskreditiert; an die Stelle der Utopien sind Dystopien getreten – die Zukunftsvisionen der Nachkriegszeit beginnen mit Orwells 1984, und im selben Stil geht es weiter. Die Kultur sah es als ihre Pflicht, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und das brachte womöglich mehr Konzentration auf diese Vergangenheit mit sich, als die Welt sich leisten konnte. Ich spreche hier auch von meiner eigenen, keineswegs nur privaten Praxis: Für zu viele von uns ist die Vergangenheit zurzeit das zentrale Interesse, sie ist der optische Apparat, durch den wir die Gegenwart betrachten, und die Sprache, in der wir von der Zukunft sprechen. Möglicherweise hat die Kulturszene, die keineswegs mit Trump oder der AfD sympathisiert, in diesem Punkt trotz allem eine gemeinsame Grundlage mit deren Anhängern. Die Angst vor der Zukunft, der faszinierte Blick auf die Vergangenheit, das Misstrauen gegen die Idee der gemeinsamen Arbeit – all das betrifft auch uns.
In einer Welt, die vor dem Unbekannten zurückschreckt, wird die Position des Anderen überflüssig bis gefährlich. Als bevorzugtes Objekt der Beschreibung und des Erkenntnisinteresses treten an seine Stelle der Unsrige, „unsereiner“, „die Unseren“ – eine Galerie von Gipsabgüssen und Spiegelungen, ein ganzes Regiment der Muster und Vorläufer, in dem die Verfahren der Postmoderne ein unverhofftes Revival erleben. Aus dem Anderen dagegen wird der verhasste, der in der dunklen Außenwelt verschwimmende Fremde.
An Schwarz’ Geschichte, geschrieben an der Schwelle der Katastrophe, tritt heute plötzlich ein Detail ins Bewusstsein: Um sich die verlorene, die gestohlene Zeit wiederzuholen, muss man die Uhrzeiger rückwärtsdrehen, siebenundsiebzig Umdrehungen gegen den Lauf der Zeit und Geschichte. Die Zauberer haben die Zeit beschleunigt, sie vorangetrieben, und sich auf diese Art selbst verjüngt und erfrischt, alle anderen aber künstlich altern lassen. Vom heutigen Punkt, aus der Sicht jenes verfrühten, erbärmlichen Alters, das seine Tage mit der Erinnerung an bessere Zeiten zubringt und das nach Russland auch Europa befallen hat, scheint es oft, als bewegten wir uns allzu schnell auf die Zukunft zu. Für mich besteht eine der wichtigsten Erkenntnisse der Nicht-Neuzeit aber darin, dass wir, die Kinder der Geschichte, in dem Bemühen, die Zeiger zurückzudrehen, nicht Zeit gewinnen, sondern verlieren. Würde man die Menschheitsuhr um siebenundsiebzig Jahre zurückstellen, stünde sie wieder auf 1939. Das sollten wir vermeiden.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja