Margarita Tsomou: Es ist Anfang 2016, und du probst gerade in Brüssel. Was bereitest du vor?
Boris Charmatz: Ich arbeite an „danse de nuit“, einem Stück für sechs Tänzer, das nachts in urbanen Räumen stattfinden wird. Als wir für das Musée de la danse in Rennes nach dem richtigen Spielort suchten, kam uns der Gedanke, dass die beste Architektur gar keine wäre – dass nicht Wände, sondern die sich bewegende Stadt unsere Architektur sein sollte.
So unternehmen wir eine Reihe Recherchen und beziehen uns dabei auch auf die Problematik des öffentlichen Raums in Europa. Man bedenke, dass sich auf unseren Plätzen und Bahnhöfen viel mehr bewaffnete Soldaten als Tänzer_innen aufhalten. Die will ich nicht naiv ersetzen, aber deutlich machen, dass unsere Straßen immer mehr zu Orten der Angst vor dem „Anderen“ geworden sind, aber auch Orte, in denen Segregation und Privatisierung stattfindet.
M: Wo und wie willst du das Stück performen?
B: Ich habe an den Place de la République in Paris gedacht, an dem die Versammlungen gegen Jean-Marie Le Pen stattgefunden haben und der immer wieder unterschiedlich genutzt wird, unter anderem für Demonstrationen, als Open-Air-Schule für Flüchtlinge oder für die Trauerkundgebungen nach Charlie Hebdo und den Attentaten im November 2015. Aber vielleicht brauchen wir einen weniger aufgeladenen Ort ... Wir tragen keine Augenbinden, der Ort affiziert uns, aber auch wir verändern ihn durch unseren Tanz. Am Tanz gefällt mir, dass sein Ausdruck multiple Bedeutungen und Resonanzen bietet, seine Interventionen sind dadurch subtiler, er kann in bestimmte Orte sogar eintauchen – in diesen Momenten bin ich gern Tänzer.
M: Du nimmst demnächst am Tanzkongress 2016 in Hannover teil. Wie intervenierst du in diesen Kontext?
B: Das ist noch in Vorbereitung. Ich arbeite seit kurzem an etwas, das ich, in Ermangelung eines besseren Begriffs, vorerst „transformative Choreografie“ oder „Protokolle“ nenne. Eine Art Methode, um Projekte zusammenzuführen. Nicht als Aneinanderreihung von Stücken, sondern als ineinandergreifendes Set, bei dem der Raum und die Teilnehmer_innen verschiedene Zustände durchlaufen und sich mit der Zeit verändern.
Wir beginnen mit einem allgemeinen Warm-up. Man kann dabei zusehen, man kann aber auch mitmachen und selber zum Performer werden. Dann kommt das Publikum in die Oper Hannover, wo der Kongress stattfindet, und besucht die Life-Ausstellung „20 Dancers for the XX Century“. Das ist eine Ausstellung von Solo-Gesten aus dem 20. Jahrhundert, die wir schon an vielen Orten gezeigt haben, unter anderem in Berlin. Und im dritten Schritt kommen alle für das Tanzstück „manger“ auf der Opernbühne zusammen. Das Publikum nimmt dann mitten auf der Bühne an der Performance teil, die Performer bewegen sich, essen und singen mitten unter den Zuschauern.
M: Du zeigst also drei Projekte, aber nicht als bloße Aneinanderreihung. Das Zusammenbringen scheint mir typisch für deine Arbeit: Du experimentierst mit verschiedenen medialen Logiken, kombinierst unterschiedliche Räume und forderst damit Produktions- und Wahrnehmungsweisen von Kunst heraus.
B: Ja, ich will eine Struktur erschaffen, in der man sich durch drei Projekte, drei Räume und drei Erfahrungen hindurchbewegt, die alle miteinander verbunden sind. Mir gefällt die Idee, dass das Publikum verschiedene Positionen einnimmt, erst nimmt es an einem Warm-up teil, wo es quasi selbst performt, dann besucht es eine Ausstellung, in der man sich ohne Anweisungen und Einschränkungen bewegen kann, und als Drittes sieht es ein Stück wie „manger“, das horizontal auf einer Ebene mit den Performern stattfindet.
M: Du hältst also das Publikum ständig in Bewegung, was mich an das Manifest des Musée de la danse erinnert, in dem du sagst, dass du die Beziehung zwischen Publikum und Performern transformieren oder neu denken willst ...
B: Als Sandra Neuveut, Martina Hochmuth und ich das Musée de la danse ins Leben gerufen haben, fanden wir, dass die einzelnen Räume für den Tanz zu sehr getrennt sind. Da sind zuerst einmal die Tanzklassen, in denen Tanz etwas ist, das man macht. Außerdem findet Tanz auf der Bühne statt, hier ist er etwas, das man sich ansieht. Aber der Tanz bietet eine viel größere Bandbreite an Erfahrungen – er kann Diskussionen und Texte auslösen, er kann auf Video betrachtet oder im Internet erfahren werden. Mit dem Musée de la danse wollten wir neue Erfahrungsräume für den Tanz öffnen. Wir versuchen, die Kluft zwischen Amateuren und Profis zu reduzieren, zwischen Pädagogik und Kunst, Recherche und Improvisation. Wie diese Haltung jeweils aktualisiert wird, ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich und hängt von den jeweiligen Teilnehmer_innen ab. Uns gefällt die ständige Standpunktverschiebung, der Übergang von einer Teilnehmer_in einer Tanzlasse zur Besucher_in, vom Passanten zum echten Tänzer. Was wir beim Tanzkongress machen, hängt mit diesem Gedanken zusammen.
M: Du wendest also durch diese drei Projekte die Logik des Musée de la danse auf Hannover an: Indem du sie – in ihrer Verschiedenheit – kombinierst, erweiterst du die Art und Weise, wie Tanz erfahren und produziert wird. Die Frage bleibt jedoch: Wie präsentierst du diese Stücke, die ja in einem anderen Kontext entstanden sind? Bei „manger“ ist das nicht so schwer, weil es in einer Black Box spielt, aber wie gehst du bei „20 Dancers for the XX Century“ vor?
B: Wir fangen immer mit einem Protokoll, oder anders gesagt, mit einer Struktur an: Da sind zwanzig Tänzer, die wir für jeden neuen Kontext eigens aussuchen, es gibt keine Technik, kein Licht, keine Kostüme, vielleicht eine kleine Musikanlage. Die Tänzer schlagen ihre Solos vor, zusammen ergibt das eine Ausstellung oder ein Dickicht aus Tänzern und Gesten. Aber die Struktur schreibt nicht vor, wie die Performance am Ende aussehen wird. Einige Teile sind festgelegt, andere eher ephemer, wieder andere passen wir an. In Berlin zum Beispiel fand die Performance am Sowjetischen Ehrenmal statt, einer Gedenkstätte für im Zweiten Weltkrieg gefallene russische Soldaten, ein Ort komplexer sozialer Praktiken. Wir luden deutsche Künstler wie zum Beispiel Reinhild Hoffmann ein, die einen Text von Heiner Müller vorschlug, wir haben aber auch eine Lecture über Karl Marx mit Dmitri Gutov organisiert. Wir öffnen uns also, folgen den Performern, geben aber auch selbst einige Richtungen vor.
Für Hannover sind wir noch im Entwicklungsprozess. Wir suchen nach Künstlern aus Hannover, wie zum Beispiel Kurt Schwitters, den ich liebe, und sehen uns die Geschichte des Tanzes in der Stadt an. Wir würden auch gerne die Geschichte des Tanzkongresses einbeziehen, der ursprünglich in den zwanziger Jahren gegründet und später wiederbelebt wurde. Und natürlich nehmen wir Bezug auf den Raum, also auf das Opernhaus.
M: Ich lese „20 Dancers for the XX Century“ als eine mögliche Methode zur Historisierung von Tanzbewegungen. Und in meinen Augen ist deine Mitwirkung am diesjährigen Tanzkongress kein Zufall, der sich ja mit dem Begriff des „Zeitgenössischen“ auseinandersetzen will – ein Begriff, der sich auf Geschichtlichkeit und Zeit bezieht. Ich würde gerne mit dir über diesen Begriff sprechen.
B: Wie würdest du ihn definieren?
M: Ich versuch’s mal. Zuerst einmal wird er als eine Dimension von Zeitlichkeit verstanden, damit wird das „Neue“, das „Aktuelle“, das, was im „Jetzt“ stattfindet, beschrieben. Aber wer bestimmt, was im „Jetzt“ „neu“ ist? Heute werden sehr bestimmte Dinge als „zeitgenössisch“ bezeichnet. Wir sagen „zeitgenössischer Tanz“ und meinen etwas anderes als „modernen Tanz“. In diesem Sinne also könnte man sagen, dass der Begriff „zeitgenössisch“ sich auf bestimmte Kunstrichtungen bezieht. Die können in verschiedenen historischen Phasen in Erscheinung getreten sein – von den sechziger Jahren bis heute –, aber alle wenden einen „zeitgenössischen Stil“ an, der an ästhetische Methoden wie Konzeptkunst, ortsspezifische Kunst, Dematerialisierung, Partizipation, Postdramatik etc. gebunden ist. Hier wäre das „Zeitgenössische“ ein Genre, weniger eine Zeitkategorie.
B : Ja, und außerdem könnte man es noch als Raum denken. Ein horizontaler Raum von Menschen, die Geschichte oder Genres oder Praktiken teilen.
M: Also, lass mich mal nachdenken: Könnte es ein Raum zur Herstellung des Zeitgenössischen sein, ein permanentes „Zeitgenössisch-Machen“, durch einen Prozess des „commoning“, also der Herstellung von Gemeinsamem in gegenseitiger Auseinandersetzung?
B: Es ist auch meine eigene Haltung. Ich will nicht der sein, der sagt, „Das 20. Jahrhundert, this is it“, oder der definiert, was „zeitgenössisch“ ist. Bei den Projekten des Musée de la danse gehen wir auch so vor, dass wir keine Antwort vorgeben, sondern ein Fragezeichen setzen und eine Plattform bieten, einen horizontalen Bereich, in dem Künstler_innen und Teilnehmer_innen gemeinsam versuchen, darüber nachzudenken, was das „Jetzt“ ist. Wenn wir einander folgen, ändert sich vielleicht die Art und Weise, wie wir zum Beispiel das Zeitgenössische ansehen, berühren, denken. Aber damit das geschehen kann, muss man einen Raum öffnen, in dem man sich gemeinsam treiben lassen kann. Diese Haltung von Horizontalität ist Bestandteil des Tanzkongress-Projekts. Das Warm-up findet auf der Straße statt, ohne Bühne oder Infrastruktur. Wer immer auf dem Weg zum Einkaufen, zur Arbeit oder zum Kino vorbeikommt, wird Teil dessen, was wir da machen. Und bei „20 Dancers“ hat das Publikum keine feste Position, der Zuschauer kann sich frei bewegen, auf die Tänzer zugehen und nach den Soli mit ihnen reden. In „manger“ wiederum verwandeln wir die Bühne in einen Tisch, weil wir vom Boden essen. Und diesen Boden teilen wir mit den Zuschauern und fragen: Können wir auf demselben Boden oder Tisch gehen und essen? Beim Tanzkongress geht es also auch um die Herstellung gemeinsamer, horizontaler Räume.
M: Okay, wenn wir das Zeitgenössische als etwas denken, das wir tun, als horizontalen Raum, um Gemeinschaftlichkeit zu produzieren, dann stellt sich die Frage nach der Einladungspolitik. Wer wird eingeladen, „zeitgenössisch“ zu sein, Zeit miteinander zu verbringen? Wer entscheidet, welches Solo das 20. Jahrhundert repräsentiert? Ich frage mich: Wenn man Künstler_innen zusammenbringt, beteiligt man sich nicht damit automatisch an der Produktion einer Art „Kanon des Zeitgenössischen“ der gegenwärtigen Tanzszene? Postkoloniale Kritiker würden einwenden, dass wir Europäer unsere Praxis als „zeitgenössischen Tanz“ universal geltend machen wollen und andere Tanzrichtungen als veraltet oder traditionell ansehen.
B: Ich habe überhaupt kein Interesse daran, einen Kanon herzustellen. In „20 Dancers“ vermeiden wir jeden Anspruch auf Universalität, das 20. Jahrhundert wird jedes Mal von den Teilnehmer_innen neu gestaltet. Und es geht auch darum, die Position des Kurators zu teilen. Martina Hochmuth und ich laden, als die Kuratoren von „expo zéro“, beispielsweise Faustin Linyekula ein. Aber wir laden ihn dazu ein, selber Kurator zu werden, er entscheidet, wie er den Raum füllt. Ich stelle den Rahmen zur Verfügung, aber die Ausstellung selbst wird von zehn Teilnehmer_innen entwickelt und geschaffen. Was das Postkoloniale angeht: Entlang meiner langjährigen Zusammenarbeit mit Dimitri Chamblas beschäftigen wir uns mit der Archäologie unserer eigenen Praxis, anstatt „mit dem ‚Anderen’ zu arbeiten“, d.h. wir machen uns bewusst, wie wir beispielsweise von bestimmten Tanztechniken beeinflusst sind. In den Räumen, die wir schaffen, geht es gerade darum, uns zu öffnen, um unsere Horizonte zu verschieben. Dabei geht es wiederrum nicht darum, zu einem harmonischen Körper zu verschmelzen, sondern die Unterschiede zu verhandeln, die Singularitäten herauszuarbeiten, warum „Faustin nicht Boris ist“, und das Spannungsfeld zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zu nutzen.
M: Ich sehe dein Bemühen, Räume zu schaffen, auch als Vorschlag für neue Institutionen – das Musée de la danse bietet viele verschiedene institutionelle Modi, um Tanz zu erfahren. Welche sind für dich die Herausforderungen beim nächsten institutionellen Akt, den du in der Volksbühne in Berlin antreten wirst? Wie können wir uns in einem Raum wie der Volksbühne eine zeitgenössische institutionelle Praxis vorstellen?
B: Das ist noch sehr offen. Ich kann sagen, dass ich Berlin liebe, dass ich die Volksbühne schon immer geliebt habe, und dass nicht ich für das ganze Haus verantwortlich bin, sondern Strukturen und Formate miterfinde. Am Musée de la danse ist unser Interesse an öffentlichen Räumen stetig gewachsen. Aber ich weiß noch nicht, wie sich das Musée de la danse und die Volksbühne verknüpfen werden. Ich weiß nur, dass die Volksbühne eine neue Art von Theater werden soll, wie die Bühne das Zentrum im Bauhaus war. Das Theater wird zu einem Ort, an dem es über sich selbst hinaus denken kann. Die Volksbühne ist nicht mehr bloß ein Gebäude, sondern eine Nord-Süd-Linie, die von Tempelhof über Neukölln und Mitte zum Prater führt. Also mehr ein Archipel. Bevor Tempelhof beispielsweise als Raum für Flüchtlinge designiert wurde, hatte ich geplant, dort zu arbeiten. Meine Frage ist, welche Art von Praxis und Protokollen sollten an der Volksbühne enacted werden? Damit nicht nur wir, die Kuratoren, die Frage nach den Herausforderungen der Volksbühne beantworten, sondern die Vielzahl der sozialen, kulturellen und politischen Kontexte in Berlin, dieser Stadt voller Künstler.
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn