Wenn einem jemand eine Visitenkarte überreicht, auf der nur ein Name und das Wort „Umstürzler“ vermerkt sind, sollte man sich auf einiges gefasst machen. Dino Gavina, geboren 1922, gestorben 2007, hatte solch eine Karte – wobei Umstürzler in seiner Heimatsprache noch eleganter klang: „Dino Gavina. Sovversivo“. Keine Adresse, kein Telefon. Mehr musste man nicht wissen. Denn zumindest in Italien, in der Welt des Designs, der Kunst, der Architektur und auch der Mode, war Gavina so bekannt wie Gertrude Stein unter den Schriftstellern und Künstlern der Lost Generation. Und im Prinzip war Gavinas Rolle nicht unähnlich: In seinen Läden und seiner Wohnung wurden Künstler und Entwerfer entdeckt, vage Utopien zu realen Objekten verdichtet, Gavinas Räume waren einer der wichtigen Treffpunkte der italienischen Kunst- und Designszene der Nachkriegsjahrzehnte – und es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das moderne Italien in seinen Räumen gemacht wurde.
Aber der Reihe nach: Ursprünglich hatte Gavina am Theater in Bologna als Bühnenbildner begonnen, bald aber übernahm er die väterliche Polsterei – und stellte als erstes Serienprodukt 1955 etwas her, das man weder von einem Polsterer noch von einem Bühnenbildner erwartet hätte: einen einfachen Tischbock, den Pier Giacomo Castiglioni entworfen hatte; es folgten weitere Modelle, die bald zu Klassikern des italienischen Designs wurden und in ihrer eleganten Pragmatik – oder pragmatischen, sehr architektonischen Eleganz – das italienische Design prägten: einen der Böcke konnte man mit einem einfachen Schieberiegel in der Höhe verstellen konnte. Er wurde so erfolgreich, dass er heute noch zu kaufen ist – unter dem Namen des großen Erfinders Leonardo.
Gavina hatte ein Talent, interessante Gestalter an sich zu binden, denen sein umstürzlerisches Talent gefiel: die Brüder Castiglioni, Vico Magistretti, Mario Bellini, Marco Zanuso und Luigi Caccia Dominioni, aber auch Carlo Scarpa, der vielleicht einer der typischen Gestalter dieser Zeit ist: ein Entwerfer, der sich weder auf die Berufsbezeichnung „Architekt“ noch auf „Möbeldesigner“ festlegen ließ; ein Tisch war für ihn ebenso eine Bauaufgabe wie ein Museum oder eine Grabstätte, und wenn der Begriff des Lebens-Entwurfs irgendwo Sinn macht, dann in dieser Bewegung von Gestaltern, die allen Dingen des Lebens, vom Stuhl bis zum Haus, eine neue Form zu geben versuchten: Das neue Ding sollte dem Leben eine neue Intensität geben, ein Gefühl dafür, wie es sich anfühlt, heute und nicht im vergangenen Jahr zu leben.
Nur eine Bewegung dieser Art gab es im 20. Jahrhundert, die einen ähnlich grundlegenden lebensreformatorischen Furor an den Tag legte – das Bauhaus. Entsprechend wichtig waren Gavina deren Produkte – vor allem die, die man damals noch nicht herstellen konnte oder zu schnell wieder eingestellt hatte. Es gibt ein berühmtes Zitat von Marcel Breuer, das Gavinas Auftritt in seinem New Yorker Büro beschreibt: „Eines Tages, Anfang der sechziger Jahre, besuchte mich ein Italiener“, erinnerte er sich später, „ein kleiner, magerer, lebhafter Mann mit einem scharf beobachtenden Blick. Er sprach weder englisch noch deutsch, aber ich verstand, dass er meine Möbelentwürfe aus den zwanziger Jahren haben wollte. Wir einigten uns sofort.“ Den heute „Wassily“ genannten Sessel, der aus einem zerlegbaren Gestell aus verchromtem Stahlrohr besteht, hatte Breuer zwar schon Mitte der zwanziger Jahre entworfen und damit das Stahlrohr, das vor 1925 allenfalls für Auto- und Flugzeugsitze verwendet wurde, in den Möbelbau eingeführt; seinen Durchbruch erlebte das Möbelstück aber erst, als Gavina es 1962 wieder auflegte.
Was Warhols Factory im New York dieser Jahre war, waren Gavinas Fabriken und Ausstellungsräume in Italien: Orte, an denen der Ton, die Materialität, die Atmosphäre, die ästhetische Stimmung einer Zeit geprägt wurde. Als Gavina 1960 mit seinem Werk von Bologna nach Foligno umzog, entwarf Pier Giacomo Castiglioni die Fabrik, der Präsident der Firma „Gavina" war Carlo Scarpa, der wiederum Gavinas Geschäft in Bologna designte, wo aber zum nicht geringen Erstaunen der Kundschaft keine Möbel, sondern Ready-mades von Marcel Duchamp zu sehen waren, der dafür eigens anreiste. Auch in Gavinas „Factory“ hatten nicht nur seine Möbelbauer einen Arbeitsplatz, sondern auch Künstler wie Lucio Fontana. Auf der anderen Seite ähnelten die Designobjekte, die hier produziert wurden, immer mehr Kunstwerken von eigenem Recht: Für Gavinas Leuchtenfabrik „Flos“ entwarfen die Castiglioni-Brüder eine Lampe aus dem Geist der surrealistischen Assemblage: Die Leuchte Toio bestand aus einem Autoscheinwerfer, einem Transformator und Teilen einer Angelrute. Lautréamonts „zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ war nichts dagegen, die Frage Kunst oder Design obsolet: Lampen von Gavina waren Serials.
Die strategische Durchmengung von autonomer Kunst und Möbelproduktion war hellsichtig und nahm Konzepte wie das der Prada-Stores von Rem Koolhaas – oder auch, in gewisser Weise, die Experimentalkollektionen von Kostas Murkudis – vorweg, führte aber auch dazu, dass Gavina 1968 bankrott ging und von Knoll International übernommen wurde, womit auch die sagenhaft futuristischen, wie für Monderstbesiedlungen entworfenen Wohnobjekte von Designern wie Cini Boeri und auch die Breuer-Möbel an Knoll fielen. Gavina zog sich grollend zurück, verlegte ein paar Bücher – um kurze Zeit später zusammen mit Maria Simon Simoncini eine neue Firma zu gründen, das Studio Simon, auch Simon International genannt. Wobei man wieder nicht sicher sein konnte, ob es sich hierbei um eine Möbelfirma oder nicht wieder um ein konzeptionelles Kunstprojekt handelte (wieder war beides der Fall). Für die Serie „Ultrarazionale“ wurde unter anderem der gigantische weiße Marmortisch „Delfi“ produziert, ein Objekt, das die statuarische Schwere antiker Bauformen und Materialien des klassischen Tempels mit der entmaterialisierten Schwebeästhetik der klassischen Moderne zusammenbringt – und darin ein Objekt von einer manieristischen Eleganz ist, die gleich drei ästhetische Schulen Italiens in einem Objekt fusioniert: Antike, Manierismus, Moderne.
Als Gegenteil dieser exquisiten Luxusprodukte entstand die „Metamobili“-Serie, Möbel für die Massen, die als Bausätze gekauft und zu Hause selbst zusammengebaut werden konnten – eine Art Ikea, bevor Ikea seinen Siegeszug antrat, sozusagen der Fiat Panda unter den Möbeln: Alles abschraub- und zusammenlegbar. Und auch bei den Holzmöbeln des Metamobiliars hallt die Erfahrung von Arte Povera nach, die Kunst, einfachen, armen Materialien eine eigene Ästhetik, eine Schönheit des Vorläufigen, des Improvisierten abzugewinnen: Kaum jemand hat so virtuose Kurzschlüsse zwischen Alltag und Haute Couture gelegt wie Gavina.