Die Münchner Kammerspiele beteiligen sich an der Debatte über die Lage von Flüchtlingen in Deutschland mit einem Beitrag in eigener Sache: Das Theater selbst soll zum Modellprojekt für eine offene Gesellschaft werden. In einem Prozess, der berät, entwickelt und gestaltet, wollen die Künstler Björn Bicker und Malte Jelden die Institution Theater auf inhaltlicher, personeller und struktureller Ebene mit den Themen Flucht und Ankunft verbinden.
Lieber Herr Bicker, Sie wollen die Kammerspiele zu einem „Munich Welcome Theatre“ umbauen. Warum engagieren sich die Kammerspiele für Flüchtlinge?
Weil das Theater als öffentlich subventioniertes Kulturinstitut Teil dieser Gesellschaft ist. Die Grenzen, die Europa um sich herum aufgebaut hat, die setzen sich ja im Inneren fort. Theater sind keine Orte ohne Grenzen, wenn es darum geht, wer da reingeht und wer nicht. Sie sind oft unsichtbar, aber deswegen nicht weniger wirkungsvoll. Irgendwann sollten wir mal anfangen, uns zu öffnen. Das ist natürlich ein gefährlicher Prozess, denn man muss sich dann auch verändern. Die Kunst, die man macht, wird vielleicht eine andere werden: Die Sprache. Die Inhalte. Die Formen. Die eingeübte Professionalität. Die politische Haltung. Alles steht irgendwann zur Disposition. Insofern könnte so ein Theater sehr paradigmatisch betrachtet werden. Für andere Teile der Gesellschaft. Als Ort für Veränderung. Als Freiraum.
Was sind Ihre Pläne?
Unser Projekt hat drei Stufen. Zunächst werden wir vom 16. bis 18. Oktober den Open Border Kongress in den Münchner Kammerspielen veranstalten. Wir laden Künstler, Initiativen, Kampagnen, Wissenschaftler, Flüchtlingsorganisationen, Aktivisten in die Kammerspiele ein, um sie drei Tage lang exemplarisch mit dem Theater zu verbinden – in Aufführungen und Debatten. Wir wollen zeigen, wie ein Theater aussehen könnte, wenn es sich radikal mit Flucht, Ankunft und Grenzpolitik beschäftigt. Wichtig ist uns dabei der Aspekt der Teilhabe: Wo ist was gelungen? Welche Bedingungen braucht es, um ein möglichst gleichberechtigtes Miteinander zu ermöglichen? Nach diesem Kongress werden Malte Jelden und ich in den Theater-Betrieb gehen und versuchen, mit möglichst vielen Abteilungen des Theaters Projekte zu entwickeln, die sich langfristig mit den Themen Flucht und Ankunft verbinden: Wie könnte man Geflohene in die Arbeitsprozesse des Theaters einbinden? Was kann die Schauspielschule tun, was das Ensemble, die Werkstätten, der Förderverein? Diese Phase wollen wir begleiten durch Workshops, Veranstaltungen, vielleicht auch Exkursionen. Der dritte Schritt wird sein, Kooperationen mit dem Bellevue di Monaco, einem zivilgesellschaftlichen Wohn- und Kulturprojekt für Geflohene mitten in der Stadt, einzugehen. Am Ende sollen die Münchner Kammerspiele als eine Art Partnertheater für das Bellevue fungieren.
Der Untertitel Ihres Projektes lautet: Ein Konversionsprojekt zur Flüchtlingsthematik. Der Begriff Konversion (auch Umnutzung oder Nutzungsänderung) beschreibt in der Stadtplanung die Wiedereingliederung von Brachflächen in den Wirtschaftskreislauf oder die Nutzungsänderung von Gebäuden. Warum gehört das zur Aufgabe eines Theaters?
Konversion meint die Öffnung und den Weg hin zu einer neuen Nutzung der Ressource Stadttheater. Es gehört zur Aufgabe eines Theaters, über sich selbst nachzudenken und die eigene Konzeption den gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Entweder indem es sich gegen die Gesellschaft und ihre Normen stellt, oder Teil einer Entwicklung wird. Oder vorbildlich agiert. Oder irritierend. Oder Dinge tut, die sich sonst niemand traut. Wenn man ein Theater als Institution öffnet, sie vernetzt, dann ist das ja schon eine Umnutzung im Sinne der Konversion. Und ein politisches Statement! Natürlich ist der Untertitel „Ein Konversionsprojekt“ auch eine Art Provokation. Nach innen wie nach außen. Politisch gesprochen, auf die Einwanderungspolitik bezogen, heißt das: Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Wir müssen unsere Institutionen und Einrichtungen neu denken und nutzen.
Was werden die Zuschauer im Saal von den Ideen und Initiativen mitbekommen?
Während des Open Border Kongress werden sie all die Ansätze, Ideen und Best Practice-Beispiele, die es gibt, schon mal erleben können. Dann wird es in der Tat erst mal etwas unsichtbarer, denn es beginnt ein Entwicklungsprozess. Sobald Projekte gereift sind, werden sie sichtbar gemacht. Als Aufführung, als Debatte, als Kampagne. Vielleicht im Theater, vielleicht im Bellevue di Monaco. Wer am Ende auf der Bühne zu sehen sein wird, wird sich zeigen. Im besten Falle wird es mehr darum gehen, wer alles mitmacht, und weniger darum, wer zuschaut. Das ist in der Tat ein offener Prozess. Und wir als Künstler sind den Verantwortlichen des Theaters dankbar, dass sie keinen Druck aufbauen, zu einem bestimmten Zeitpunkt Ergebnisse präsentieren zu müssen.
An dem Open Border Kongress zum Auftakt nimmt auch das Grandhotel Cosmopolis aus Augsburg teil, eine gesellschaftliche Initiative aus dem Augsburger Domviertel, die Unterkünfte für Menschen mit und ohne Asyl stellt, aber auch eine Bürgergaststätte, Ateliers und eine Café-Bar. Wenn man eine solche gewachsene Initiative sieht, was können die Kammerspiele leisten, was die Leute vom Grandhotel nicht auch können?
Was die Leute im Grandhotel erreicht haben, ist sensationell. Da ist eine Schönheit entstanden, die mit dem, was in einem Theater geschieht, kaum zu vergleichen ist. Sie haben einen neuen Raum geschaffen und selbst definiert. Das Theater gibt es schon. Als öffentlichen Ort, an den die Leute bestimmte Erwartungen richten. Wenn wir am Theater so ein Projekt starten, geht es uns eher um Umdefinition und Neuinterpretation. Wir befinden uns in einem der kulturellen Zentren der bürgerlichen Gesellschaft, die es in dieser Form eigentlich fast nur noch im Theater gibt. Es geht ganz stark um Öffentlichkeit. Ich würde gerne von den Betreibern des Grandhotels lernen: Die Offenheit in der Entwicklung, die Vorstellung davon, was Kunst sein könnte, nämlich das stetige und friedliche Inszenieren von Begegnung, das Verwischen der Grenzen zwischen sozialer Arbeit, politischem Aktivismus und künstlerischem Ausdruck – wenn wir davon etwas mitnehmen, dann freue ich mich. Das Grandhotel Cosmopolis ist vielleicht das Theater der Zukunft.
Interview: Tobias Asmuth