„Nun sag, wie hast Du‘s mit der Religion?“ Jahrzehntelang hat die sogenannte Gretchenfrage ein Schattendasein in den öffentlichen Diskursen gefristet. Wer sich für aufgeklärt hielt, betrachtete das Tun und Wirken der Religionen und ihrer Vertreter mit kritischer Distanz und hielt die säkulare Gesellschaft für eine unhintergehbare zivilisatorische und kulturelle Errungenschaft. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts setzte langsam, aber stetig ein Umdenken ein. Der prominente Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, der keinen Hehl daraus machte, „religiös unmusikalisch“ zu sein, setzte sich öffentlich für die Akzeptanz von Religionen als Sinnressource der Demokratie ein. Der Dialog, den er mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger führte, bestärkte ihn in seiner Forderung, die demokratische Öffentlichkeit müsse ein „Bewusstsein für das, was fehlt“ entwickeln und solle dabei die religiösen Wurzeln der Identitätsstiftung berücksichtigen. Sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht gibt es derzeit wohl kaum ein Verhältnis, das spannungsreicher wäre und mehr Diskussionsstoff böte als jenes von Religionen und säkularer Gesellschaft. Das spiegelt sich in den öffentlichen Debatten, befeuert um die Kritik am Islamismus und religiös motivierter Verfolgung, ebenso wieder, wie es schließlich auch Spuren im inhaltlichen Spektrum unserer Projektanträge hinterlässt, in denen das Thema Religion deutlich an Prominenz gewinnt. Die vorliegende Ausgabe des Magazins widmet sich deshalb schwerpunktmäßig dem Thema „Religion“ im Zusammenhang der von uns geförderten Projekte und berücksichtigt dieses Thema auch bei der Wahl der Bildstrecke von Boris Mikhailov.
Von heute aus betrachtet erscheint es nur folgerichtig, dass die evangelisch-lutherische Kirche nicht nur die Feier des Reformationsjubiläums im Jahr 2017 langfristig plante, sondern im Jahr 2008 die sog. „Luther-Dekade“ startete: Unser religiöses und kulturelles Selbstverständnis braucht und verdient eine umfassende Reflexion. Die Kulturstiftung des Bundes hat im Zusammenhang der Luther-Dekade schon mehrfach Projekte gefördert. In diesem Jahr nun hat die katholische Kirche ebenfalls ein historisch bedeutsames Datum zu feiern, den 50. Jahrestag des 2. Vatikanischen Konzils. Das 2. Vatikanische Konzil (1962 – 1965) wirkt bis heute auf das Verhältnis von Staat und römisch-katholischer Kirche oder den Umgang mit Nichtchristen oder Leitfragen der Ökumene nach. Die Kulturstiftung des Bundes fördert ab Mai eine große Ausstellung in Düsseldorf, in der anhand von zeitgenössischen Werken die christliche Ikonografie als Bestandteil des kollektiven Bildgedächtnisses vorgestellt wird („The Problem of God“).
Darüber hinaus führt die Kulturstiftung des Bundes ihre Tradition eigener Veranstaltungen („Die Untoten“, „Kulturen des Bruchs“, „Einbruch der Dunkelheit“, „Politische Romantik“) auch in diesem Jahr fort und lädt wieder zu einer internationalen Konferenz ein. Unter dem Titel „Religion und Wachstumsdenken“ fragt sie danach, ob Religionen den modernen Wachstumsglauben fördern oder ihm in kritischer Absicht Grenzen setzen. Im Zentrum der Konferenz stehen die drei dominierenden Religionen Mitteleuropas, die abrahamitischen Religionen Judentum, Islam und Christentum. Mit dieser Konferenz möchte die Kulturstiftung des Bundes einen eigenen, religionenübergreifenden Akzent zu den historischen und theologischen Implikationen unserer gegenwärtig sich immer weiter globalisierenden Kultur setzen.
Das Religions-Heft macht mit dem Beitrag eines ganz „normalen“ evangelischen Pfarrers und weithin geschätzten Predigers auf, der darüber nachdenkt, warum es religiöse, warum es „christliche“ Menschen hierzulande überhaupt noch gibt. Die Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally stammt aus den USA, wo es evangelikale Strömungen gibt, die, anders als bei uns, den Ton in Politik und Gesellschaft angeben und dabei keineswegs rückschrittlich sein müssen. Und sie findet das auch gut und richtig so, zumal sie die landläufige, auch in Europa vorgetragene Religionskritik für „naiv“ hält. Marcia Pally wird ebenso an der Konferenz teilnehmen wie Birger Priddat aus Witten-Herdecke: Im Interview mit Jacqueline Boysen beleuchtet der Ökonom und Philosoph verschiedene Facetten im Zusammenspiel von religiösen Glaubensgrundsätzen und kapitalistischer Doktrin. Der katholische Theologe Reinhard Hoeps bezweifelt, dass es eine Rückkehr christlicher Bilder, eine Renaissance christlicher Bildmotive gibt, auch wenn die These von der Rückkehr der Religionen dies scheinbar nahelegt. Die Kunst der Gegenwart lasse sich nicht so einfach auf das Erbe der Religion verpflichten, stellt er mit Bezug auf die Ausstellung „The Problem of God“ fest. Christoph Balzar hat sich die Teilausstellung „[O]ffene Geheimnisse“ in der Probebühne 4 des Humboldt Lab angesehen und beleuchtet am Beispiel der heiligen „Churingas“ australischer Aborigines die moralischen Konflikte, wenn sakrale Objekte im profan-musealen Kontext einer ethnographischen Sammlung gezeigt werden. Der britische Schriftsteller Tim Parks schließlich beschäftigt sich mit der (derzeit eher unpopulären) Frage, ob nicht die Wissenschaft(en) der Religion den Rang abgelaufen haben, wenn es um Deutung und Sinn von Lebensfragen geht.