Okwui Enwezor über das Verständnis von Afrika als Einheit, den kulturellen Reichtum des Kontinents, das Engagement afrikanischer Künstler, den Hype um Afrika in Deutschlands Kulturszene und den Kampf zwischen Authentizität und Mimikry.
Daniela Roth: Gibt es in Bezug auf Kunst und Kultur einen Afrika-Hype in Deutschland oder Europa?
Okwui Enwezor: Ob es einen Afrika-Hype gibt, weiß ich nicht, und falls ja, muss man nach dem „Warum?“ fragen. Warum gibt es in Deutschland einen Afrika-Hype? In Anbetracht der Tatsache, dass Afrika fast zehnmal so groß ist wie Europa, eine viel größere Bevölkerung hat, und hunderte, wenn nicht tausende fortdauernder Traditionen, wundert es mich, dass der Kontinent in eine monolithische Kiste gesteckt wird. Doch mir scheint, falls es einen Hype gibt, hat er mit der wachsenden Anerkennung der Fähigkeiten von Afrikanern zu tun. Afrika hat viel zu lange als eine Art Kontrastfigur hergehalten, die es vielen Kulturen und Orten in dieser Welt erlaubte, sich überlegen zu fühlen, zufrieden mit sich selbst, geadelt. Wenn man über die Bedeutung des Hypes nachdenkt, muss man das unter Berücksichtigung dieser Rolle tun, die Afrika so lange Zeit gespielt hat. Aber vielleicht können die Diskussionen über einen Hype in die Erforschung und Entwicklung eines neuen Paradigmas umgewandelt werden, das auf gegenseitigem Interesse an Austausch basiert, und daran, wie dieser Austausch auf der Anerkennung menschlicher Qualitäten basieren könnte, auf den Werten und der Vielschichtigkeit der Afrikaner – sowohl im Hinblick auf die besonderen Beiträge von Individuen als auch im Hinblick auf das Potenzial Afrikas, eine wichtige Vermittlerrolle in der Welt zu übernehmen. Hier liegt mein persönliches Interesse. Dennoch bin ich sehr neugierig zu erfahren, warum Deutschland sich so für Afrika interessiert.
Warum, glauben Sie, ist das so? Afrika ist riesig und besteht aus so vielen verschiedenen Kulturen und Regionen. Sehen Sie dieses Verständnis von Afrika als Einheit kritisch?
Das ist eine sehr wichtige Frage, aber ich sorge mich vor allem um die Folgen von guten Absichten. Gute Absichten tragen ein Machtelement in sich, das häufig zugleich verborgen und durchschaubar ist. Es gibt eine Branche von beträchtlicher Größe, die sich dem „Helfen“ und „Unterstützen“ Afrikas widmet. Als wäre diese enorme geografische und komplexe geopolitische Fläche ein Kind, das ewig mit Stützrädern fährt und ein Heer von Experten und Wissenschaftsbürokraten benötigt, um es am Umfallen zu hindern. Diese Beziehung zwischen Afrika und Europa macht mir Sorgen, es besteht die Gefahr, dass eine sehr zerklüftete, vielschichtige Region oder Topografie abgeflacht wird. Das Ausglätten, die Folgen von Verallgemeinerungen, die Vorstellung, dass die Vielschichtigkeit des Kontinents vollkommen ausgelöscht wird. Ich nenne das „Developmentalismus“ (engl. developmentalism). Man erkennt es an der Art, wie bestimmte Projekte unter der Federführung der deutschen Politik – zum Beispiel das IFA mit seiner Zeitschrift – aufgezogen werden. Die Entwicklungsorganisationen führen anstatt von Austauschprojekten Patronage-Projekte durch. Patronage bedeutet etwas, was ich „Ökonomie der Ehrung“ (engl. tribute economy) nenne. Afrikaner müssen voller Dankbarkeit einzahlen. Aber wir brauchen eine ernsthafte Debatte und Befragung der Organisationen, die immer wieder dem überholten Paradigma des Developmentalismus verfallen. Um zu verstehen, was vor sich geht, müssen wir Raum für Diskurs schaffen.
Aber leider basieren viele Projekte, die ich kenne, auf einer bestimmten Art von Amnesie – Amnesie im Sinne des Vergessens der Vergangenheit. Zum Beispiel gab es in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern wirklich unglaubliche Momente, als afrikanische Künstler, Musiker, Performer und Schriftsteller durch ganz Deutschland reisten. Wo sind die Aufzeichnungen dieser Momente? Wie könnten wir diese Aufzeichnungen heute in einem weitgefächerten kulturellen und intellektuellen Diskurs verwenden? Wir vergessen auch die vielen Afro-Deutschen. Manchmal sehe ich eine Art toten Winkel in der Nichtbeachtung dieser Themen. Afrika sollte nicht nur ein neuer Hype sein. Nicht einmal seine eigene koloniale Geschichte hat Deutschland so aufgearbeitet, wie man es sich wünschte. Deutschland hatte seine kolonialen Abenteuer in Afrika: in Togo, Kamerun, Tansania und in Namibia, wo Deutsch noch aktiv gesprochen wird. Wie können Deutsche und Afrikaner diese historischen Ereignisse aufarbeiten? Wie können wir die Schwierigkeiten, mit denen Afrikaner in der deutschen Gesellschaft zu tun haben, untersuchen? Um diese Fragen greifbar zu machen, müssen wir über die Spannung zwischen Gastlichkeit und Feindlichkeit (engl. Hospitality und hostility) nachdenken. Jacques Derrida hat die etymologische Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen untersucht. Es erscheint mir äußerst interessant, ernsthaft darüber nachzudenken.
Entschuldigen Sie, ich würde diese Fragen auch gerne an Sie als Afrikaner stellen. Sie sind eher ein Global Player, ein Kosmopolit. Aber darf ich diese Fragen an Sie als Afrikaner, Nigerianer, Igbo stellen? Sie haben von den Bemühungen der Sechziger gesprochen. Inzwischen wird Afrika detailreicher wahrgenommen. Vielleicht haben auch Künstler – und Sie als Kurator – dafür gekämpft, vor allem, indem Sie diese Rolle als Afrikaner nicht spielten?
Das ist ein wichtiger Punkt. Ich sehe mich wirklich nicht als Outsider. Im Kontext der Kunstwelt bin ich ein Insider, und ich möchte ganz und gar nicht vorgeben, nicht in eine breitgefächerte, vielschichtige und globale Diskussion integriert zu sein. Ich bin voll und ganz integriert und weiß das sehr zu schätzen. Sie sprachen über die Rolle von Künstlern und Intellektuellen. Um zu einem weitgefassten Verständnis von Afrikanern beizutragen, ist das sehr wichtig. Letztes Jahr starb der große nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe im Alter von 83 Jahren. Neben seiner Arbeit als großer Schriftsteller ist auch sein Wirken als großer Sohn Afrikas, als Nigerianer und Igbo – als Vertreter all dieser Identitäten – wichtig für das vollständige Bild dessen, was Achebe für die Afrikaner meiner Generation bedeutet. Achebes wichtigstes Lebensthema hatte mit der narrativen und diskursiven Handlungsfähigkeit der Afrikaner zu tun, er nannte das die „Ausgewogenheit der Geschichten“ (engl. balance of stories). Damit meinte er, dass die Geschichten keine negative Bilanz für Afrika ergeben sollten. Es bedeutet auch, dass Afrikaner ihre eigenen Geschichten erzählen müssen. Afrikaner müssen neue, imaginäre Geografien erfinden. Sie müssen ethische Räume erfinden, die sowohl spezifisch afrikanischen als auch universellen Reiz haben. Und das ermöglicht Kunst – der imaginären Geografie der Afrikaner zu begegnen, auf ihr ethisches Engagement einzugehen, zu einem breitgefächerten zwischenmenschlichen Diskurs beizutragen, zu der Ausgewogenheit der Geschichten. In einem Essay bezieht Achebe sich auf ein Massai-Sprichwort. Sinngemäß besagt es: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Geschichtsschreiber haben, wird die Geschichte der Jagd nur von den Jägern erzählt.“ Kunst, Schreiben, Kuratieren usw. repräsentiert die Techniken zur Erschaffung und Entwicklung der „Ausgewogenheit der Geschichten“. So verstehe ich meine Arbeit, als Teil einer afrikanischen Weltläufigkeit. Mein ethischer Kompass in der Welt, das Werkzeug, das mir ermöglicht, der Welt der Anderen (Deutschen, Franzosen, Chinesen, Mexikanern etc.) mit Neugier, Verständnis, Respekt und Empathie zu begegnen, basiert auf meiner afrikanischen, nigerianischen und Weltanschauung als Igbo. Ich denke, man kann sagen, dass afrikanische Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in den letzten dreißig Jahren die globale Sphäre auf wirklich eindrucksvolle Weise betreten haben. Das ist wunderbar und wichtig, denn jedes Mal, wenn wir der Arbeit von Künstlern, Schriftstellern usw. begegnen, setzen wir uns mit den von ihnen aufgeworfenen komplexen ethischen und kulturellen Gesten auseinander.
Reagieren afrikanische Künstler – was auch immer es bedeutet, afrikanisch zu sein und Künstler zu sein – auf das, was von ihnen erwartet wird? „Exotisch“ zu sein, oder politisch? Sich in ihren Ländern politisch zu engagieren?
Das Gleiche könnte man über europäische Künstler sagen. Wenn ich einen europäischen Künstler sehe, sehe ich einen Künstler, der in einer bestimmten Tradition arbeitet. Diese europäische Tradition kann in Afrika sehr exotisch wirken, und sie ist exotisch. Das meine ich mit der Ausgewogenheit der Geschichten. Ein Europäer ist in Afrika genauso exotisch wie ein Afrikaner in Europa. Es ist eine Art Austausch von Exotismen. Ich weiß nicht, ob Afrikaner darauf reagieren, exotisch zu sein – wem gegenüber? Wichtig ist, den Kontext künstlerischer Produktion und die verschiedenen Bedingungen künstlerischer Produktion zu betonen. Sie erzeugen ein unterschiedliches Verständnis von Form und dem, was Michel de Certeau „die Grammatik des Alltags“ nennen würde. Sie erzeugen unterschiedliche Konzepte ästhetischer Sprache. Sie erzeugen unterschiedliche Artikulationen künstlerischer Absichten. Jemand, der einen afrikanischen Künstler sieht und sagt, „Oh, der macht, was von ihm erwartet wird“ oder „Der macht politische Kunst“, kann ich nicht ernst nehmen. Das ist eine reflexartige Reaktion. Anstatt sich mit der Komplexität, die sie vor Augen haben, auseinanderzusetzen, suchen die Menschen Zuflucht in albernen, unproduktiven Klischees. Mein Ziel als Kurator ist es, vorschnelle Urteile und Schlussfolgerungen zu vermeiden. Mich interessiert die Konfrontation mit dem Unbekannten. Ich genieße es, etwas über Künstler zu erfahren, über ihre Intentionen, ihre Entscheidungen, ihre Vorstellungen, und wie sie diesen Form verleihen. Wir gelangen an einen Punkt, an dem die Leute sich nicht länger herausnehmen, Verallgemeinerungen über Afrikaner anzustellen und Schlussfolgerungen zu ziehen, weil die Welt sehr groß und weit ist.
Ich war neulich in Nigeria. Zwei Wochen des Urlaubs habe ich zusammen mit meiner Tochter meine Mutter besucht. Meine Tochter wurde in New York geboren. Sie ist Nigerianerin, Afrikanerin, Europäerin und Araberin, wegen ihrer Mutter, die polnisch und libysch ist. Aber sie ist auch Amerikanerin. Von sich sagt sie „Ich bin ein Soho-Mädchen“, weil sie dort lebt und dort aufgewachsen ist. Aber es war wunderbar für sie, in diese Welt in Nigeria einzutauchen, dieses Netzwerk von Cousins, Onkeln, Tanten und Großfamilie. Und plötzlich änderte sich ihr Selbstbild ein wenig. Das erste Mal in ihrem Leben konnte sie das Haus verlassen, und Schwarz-Sein war Normalität, Alltag, mit keinerlei Unruhe verbunden. Afrikaner leben in einem kosmopolitischen Kontext, der wohl oder übel viele verschiedene Schnittpunkte mit verschiedenen Kulturen der Welt in sich fasst. Wir möchten diese Schnittpunkte zelebrieren. Wir möchten uns zusammensetzen und über die Enge der Identitäten, die wir kennen, hinausdenken. In Nigeria, wo ich herkomme, gibt es zum Beispiel über 280 Sprachen, und ich meine nicht Dialekte. Es gibt bei uns unglaublich viele Mikro-Gemeinschaften, wir leben in einer Ökologie intensiver Koexistenz.
Nigeria ist mächtig, Nigeria ist groß, Nigeria ist reich, es gibt viele Orte für Kunst, das CCA (Centre for Contemporary Art, Lagos) und so weiter. In kleineren Ländern wird Kultur zumeist vom Institut Français, dem British Council oder dem Goethe-Institut unterstützt. Besteht die Gefahr eines kulturellen Imperialismus?
Kultureller Imperialismus macht mir eigentlich keine Sorgen, denn was mich interessiert, ist die Art und Weise, wie Künstler Beziehungsnetzwerke aufbauen. Ich finde, wir sollten das unterstützen. Die Mitwirkung des Goethe-Instituts, des Institut Français oder irgendeiner anderen Organisation ist für mich nicht wirklich kultureller Imperialismus, solange sie auf gegenseitigem Austausch basiert. Das kann sehr produktiv sein. Diese Institutionen haben wirklich viel zur inter-afrikanischen und transeuropäisch-afrikanischen Zusammenarbeit beigetragen. Für den geringen Einsatz, den das Goethe-Institut und das Institut Français in Afrika zeigen, ist die Wirkung in Bezug auf Glaubwürdigkeit und kulturelles Kapital enorm. Der Austausch geht in beide Richtungen. In Bezug auf Austausch spielen das Goethe-Institut und das Institut Français eine wichtige Rolle in der Welt, und das ist sehr gut so, und ich sage das nicht, weil ich in Deutschland lebe. Ich bewundere das langfristige Engagement des Goethe-Instituts und des DAAD in verschiedenen lokalen kulturellen Szenen. Aber kommen wir auf Ihren Punkt über die verschiedenen Orte in Nigeria zurück. Meiner Ansicht nach sind es nicht genug. Es sollten mehr sein. Für Afrikaner ist es wichtig, institutionelle Systeme in lokalen Kontexten in Afrika aufzubauen. Dies muss unabhängig von der Patronage der Goethe-Institute dieser Welt geschehen. Ich finde das wichtig, obgleich das Goethe-Institut und das Institut Français, wie ich bereits sagte, eine Rolle spielen.
Sollte es mehr Museen, Archive und Kunstgeschichte geben? In afrikanischen Ländern wurde nicht viel über Kunstgeschichte geschrieben. Sollte es eine Kopie des europäischen Modells sein oder sehen Sie da andere Möglichkeiten?
Wir befinden uns ja ewig in diesem Kampf zwischen Authentizität und Mimikry, oder? Und wegen dieser Spannung zwischen Authentizität und Mimikry wird, wenn man eine bestimmte Technik verwendet, sofort angenommen, man kopiere von Europa, anstatt das Ganze als Mitwirkung an der Entwicklung und Kultivierung eines bestimmten disziplinären Modells, einer bestimmten disziplinären Form zu sehen. Kunstgeschichte wurde nicht von Europa erfunden. Die Chinesen hatten schriftliche kunstgeschichtliche Berichte. Ich finde, Europa sollte in seinem Selbstbild ein wenig bescheidener sein. Es nimmt sich selbst zu wichtig. Schriftliche Berichte oder kunstgeschichtliche disziplinäre Methodologien sind kein Fachbereich eines bestimmten Erdteils. Kunstwerke erzählen ihre eigenen Geschichten, und die Menschen, die diese Kunstwerke nutzen, haben ihre Methoden, um die Geschichten weiterzutragen, ob sie sie nun aufschreiben und eine formalistische Analyse haben, oder eine archäologische Analyse erstellen. Eine gute Idee ist eine gute Idee, egal, woher sie kommt. In europäischen Sprachen gibt es so viele aus den unterschiedlichsten Kulturen stammende Wörter, die nichts mit Europa zu tun haben und trotzdem nicht abgelehnt werden. Europäer sind sehr gut darin, andere Einflüsse zu integrieren, zu absorbieren und sich anzueignen. Ich finde, Afrikaner und Asiaten können auch Eigenschaften absorbieren, die in der europäischen Kultur existieren, und sie sich zu eigen machen. Das ist Teil der fundamentalen Form des Austauschs von Ideen. Sollten Algebra und Algorithmen nicht benutzt werden, weil sie von einem arabischen Mathematiker erfunden wurden? Nein! Das ist der Konstruktionsprozess einer Weltkultur. Sicherlich müssen afrikanische Kunsthistoriker methodologische Ansätze finden, um die Dinge zu definieren und zu beschreiben, die dort geschehen sind, aber ich schrecke vor jeder Art von disziplinärem Essenzialismus zurück, der besagt, dies ist sachgemäße afrikanische Kunstgeschichte und dies sachgemäße europäische Kunstgeschichte. Es ist eine Mischung vieler Dinge. Kunstwerke erzählen ihre eigene Geschichte. Aber kunstgeschichtliche Produktion in Afrika wächst, und das kann nur geschehen, wenn wir ein Publikum haben, wenn wir mehr Teilnehmer haben in den Debatten und Diskussionen über die Rolle der Kunst in sich entwickelnden Kontexten und sich wandelnden Gesellschaften.
TURN möchte den Austausch zwischen deutschen Institutionen und Künstlern aus afrikanischen Ländern unterstützen. So wird das Projekt vielleicht auch Künstler in sich entwickelnden Gesellschaften unterstützen, Künstler, die zum Thema Demokratie arbeiten. Obgleich das nicht der Schwerpunkt des Fonds ist, wie die Kulturstiftung des Bundes betont. Wäre das nicht eine Art Einflussnahme oder Selektion?
Wie Sie wissen, lassen sich Künstler nicht durch Förderung einschränken, ihre konzeptionelle Architektur setzt sich nicht nur aus Förderung zusammen. Sie entsprechen den Vorgaben, die ihr Denken voranbringen. Es ist eine Art Spiel. Der Mäzen will die Validierung eines bestimmten ideologischen oder politischen Systems, und der Künstler findet einen Weg, die Schwachstelle dieses Systems auszunutzen, und entspricht den Vorgaben. Aber sein Anliegen beschränkt sich nicht unbedingt auf dieses System. Damit will ich nicht sagen, dass TURN kein gutes Projekt ist. Aber, wie bereits erwähnt, müssen wir uns über die Folgen guter Absichten bewusst sein. Ich habe keine Angst vor dem Projekt. Afrikanische Künstler und Intellektuelle werden die Bücher schreiben, die sie schreiben wollen, sie werden die Kunst produzieren, die sie produzieren wollen, sie werden die Filme drehen, die sie drehen wollen – egal, was TURN macht. Übrigens sind die Gelder für Afrika ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Vergleich zur Größe des Kontinents kann man wirklich nicht behaupten, dass es sich um viel Geld handelt! Wir sprechen hier über 53 oder 54 Länder. TURN kann das nicht abdecken. TURN kann nicht einmal ein Land ordentlich abdecken. Es könnte nicht einmal nigerianische Künstler ernsthaft unterstützen. Wenn Sie nach Nigeria reisen, werden Sie sofort bemerken, dass das Land sich momentan in einer sehr dynamischen literarischen Renaissance befindet. Ich würde sagen, die Nigerianer veröffentlichen derzeit mehr global relevante Literatur als die Deutschen. Das lässt sich tatsächlich behaupten. Die Szene junger Schriftsteller von globaler Bedeutung ist sehr lebhaft und dynamisch. Sie sind in ihren Dreißigern oder frühen Vierzigern, es gibt Dutzende von ihnen, ihre Werke werden überall veröffentlicht. Also sollten wir uns nicht als eine Art Hebamme verstehen, als Kindergärtnerin für Afrikaner. Wenn TURN nach Nigeria ginge und sich in einen Diskurs verwickeln ließe, würde man etwas ganz anderes zu hören bekommen. Aber in Berlin sitzt man in einer Art sicherem Bereich, fern aller Komplikationen der Kontaktaufnahme. Das heißt nicht, dass TURN ein schlechtes Projekt ist. Ich finde es wichtig, verschiedene Instrumente für etwas, was ich kulturelle Diplomatie nenne, zu entwickeln. Und darum geht es hier im Grunde. Wie bei der Zeitschrift zeitgenössischer afrikanischer Kunst, die das IFA veröffentlicht. Ich weiß nicht, wie das IFA dazu kam, eine Zeitschrift über afrikanische Kunst zu publizieren. Manchmal lese ich die Hypothesen und großen Behauptungen, die die Leute in dieser Zeitschrift aufstellen, und bin unglaublich überrascht über das Ausmaß ihres Engagements. Aber es ist ein interessanter Versuch. Vielleicht gehe ich zu weit, bin zu kritisch.
Der Begriff „kulturelle Diplomatie“ gefällt mir. Auf der anderen Seite gibt es den Kunstmarkt. Die Kunstmesse 1:54 in London war beispielsweise ein großer Erfolg.
Die Leute neigen dazu zu vergessen, dass es in Nigeria, Südafrika und anderen Ländern viele Künstler gibt, die von ihrer Kunst leben. Sie arbeiten ausschließlich als Künstler. Und ihre Arbeit hängt nicht vom internationalen Markt ab. Sie haben lokale Mäzene. Wir verstehen langsam, dass es in den afrikanischen Ländern eine wachsende Mittelschicht gibt, mehr Menschen reisen. Nigerianer bilden die fünftgrößte Gruppe von Menschen, die in London Luxusprodukte kaufen. Deshalb wird die britische Regierung ihren Visaanträgen vermehrt stattgeben – sie geben Geld in England aus. Letztes Jahr gab es zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert mehr Handel zwischen Uganda und Kenia als zwischen dem UK und der Region. Wir haben es hier mit einer unglaublichen wirtschaftlichen Mobilität und Transformation zu tun. Der Erfolg der Londoner Kunstmesse ist die Folge einer neuen Geschichte, die gerade geschrieben wird. Afrika ist nicht das Afrika, über das wir so oft hören. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn ich mir Deutschland anschaue, wundere ich mich immer wieder darüber, dass die größte Sorge der Deutschen ihre Rente ist. Es gibt eine Art wirtschaftliche Hysterie, die es den Menschen unmöglich macht, erfinderisch zu sein und Risiken einzugehen. Afrikaner haben aufgrund ihrer Erfahrung der letzten 30 bis 40 Jahre gelernt, wie man mit Risiken und Krisen umgeht, wie man überlebt. Die Diskussion dreht sich immer darum, wie der Westen Afrika wirtschaftlich helfen kann. Nigerianer, die nicht in Nigeria leben, senden jährlich fast fünfzehn Milliarden Dollar nach Nigeria. Das zeigt Ihnen, dass der Hype um westliche Hilfen eine Konstruktion ist. Afrikaner, individuell und kollektiv, helfen ihren Ländern mehr als alle G8-Länder zusammengenommen. Das Geld, das Nigerianer jedes Jahr nach Hause schicken, ist mehr als die gesamte Unterstützung des Westens für alle afrikanischen Länder. In gewisser Hinsicht ist das die Ausgewogenheit der Geschichten. Wenn also TURN dieses Geld gibt, wird das häufig negiert, wie so oft, wenn Künstler Förderung bekommen – und darum sage ich, dass die Londoner Kunstmesse gut war, denn plötzlich waren dort all diese jungen Afrikaner, und westliche Banker zeigten Interesse. Der Markt existiert nur, wenn wir anfangen, seine Möglichkeiten auf holistische Weise zu betrachten.
Sie erwähnten Chinua Achebe. Ich habe seinen Essay über Joseph Conrad gelesen. Der ist ja sehr vielschichtig…
Der berüchtigte Essay! Ein sehr wichtiger Text. Achebe wollte nur zeigen, dass Afrikaner – zumindest in der Erzählung „Herz der Finsternis“ – auf Objekte vor dem Hintergrund des Verfalls eines, wie er es ausdrückt, „belanglosen europäischen Verstandes“ reduziert werden. Selbst der Titel verschleiert die Unmenschlichkeit, den Völkermord, den die Belgier im Kongo begingen. Wenn also die Menschen, gegen die sich ein Völkermord richtet, auf Objekte, die keine Sprache haben, reduziert werden, empfinden wir keinerlei moralische Verantwortung für diese Menschen. Das stellt Achebe in Frage. Afrikaner sind keine Wilden. Afrikaner sind Menschen. Afrikaner haben ein Recht auf die Wahrnehmung der Brutalität, die von einem imperialistischen Piraten gegen sie losgelassen wurde. Hannah Arendt hat in „Elemente und Ursprünge Totaler Herrschaft“ darüber geschrieben. Wie eine Bevölkerung von fast fünfzehn Millionen innerhalb einer Generation auf acht Millionen reduziert werden konnte. Das ist unfassbar! Es ist nicht nur eine Kritik an „Herz der Finsternis“, sondern eine Kritik an der unfassbaren Gewalt der Belgier im Kongo. Ich weiß nicht, ob wir uns zu weit von der Kunst entfernen, aber man arbeitet ja immer mit dem historischen Verständnis, dass der heutige Afrika-Hype auch ein Versuch ist, den Teil der Geschichte zu überdecken, über den Achebe in seiner Besprechung und Kritik an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ spricht. Aber das Potenzial junger aufstrebender Afrikaner macht mich sehr glücklich, denn in fast allen afrikanischen Ländern gibt es nun unglaublich viele junge Menschen – und sie wollen sich nicht auf einem Werbeplakat am Münchener Flughafen barfuß hinter einer Coca Cola-Flasche herlaufen sehen. Das soll nicht heißen, dass die Menschen nicht zu kämpfen haben, dass es ihnen nicht an vielem fehlt, dass nicht viele Kinder Hunger leiden. Aber wir müssen unsere Beziehung zu diesem Bild ändern, denn so etwas können wir nirgendwo auf der Welt für Kinder hinnehmen.
Neulich habe ich in Bezug auf die große Menge junger Menschen gelesen, dass Kenyan Airways eine Lieferung Boeing 787, dem neuen Dreamliner, entgegennimmt. Luftverkehr ist in Afrika noch jung. Stellen Sie sich vor, wenn das wirklich abhebt! Auf dem Kontinent leben über eine Milliarde Menschen. Es ist ein riesiges Territorium. Das Potenzial ist gewaltig.
Es ist ein Markt für Bildende Kunst, die Energie so vieler junger Menschen, Schriftsteller, Performance-Künstler, Tanz, Theater …
Kino! In Nigeria gibt es einen vierundzwanzig-Stunden-Sender für Nollywood. Die Leute sind nicht so sehr an Hollywood interessiert, aber dieses neue Kino interessiert sie, denn die Geschichten, der Kontext und die Charaktere passen zu ihrer sozio-kulturellen und politischen Weltanschauung. Die Nigerianer haben diese Industrie innerhalb der letzten dreißig Jahre aufgebaut, und jedes Jahr werden mehr nigerianische Filme für dieses Publikum gemacht. Sie würden das vielleicht nicht als Kino bezeichnen, aber das transnationale Publikum in der Karibik, dem Westen und Afrika ist gewaltig. Es gibt so viele verschiedene Versionen, eine nigerianische, eine kenianische usw. Es gibt auch eine französische Version und Versionen in den verschiedenen Regionalsprachen, wirklich unglaublich. Sie entwickeln dieses Kino immer weiter, es wächst und wird besser. Es wird unglaublich viel produziert. Wir müssen die Komplexität der Dinge, die die Menschen in verschiedenen afrikanischen Kontexten aufzubauen versuchen, verstehen. Natürlich ist das alles nichts im Gegensatz zu dem institutionellen Rahmen von Kunst im Westen. Aber es passieren viele spannende Dinge in Afrika. Ich finde den Afrika-Hype gut. Und ich hoffe, dass er eine nuanciertere Perspektive auf Afrika mit sich bringt. Wir betrachten Inhalte nun auf interessante Weise. Kein Tag geht vorbei, ohne dass ein neuer Roman veröffentlicht wird. Es gibt eine robuste und dynamische Musikszene, viele junge Produzenten und Musiker aller denkbaren Genres. Sie wohnen nicht in New York oder London. Sie leben in Lagos, Nairobi, Dakar, Johannesburg, Maputo, Kinshasa, Enugu usw. Also müssen wir die Kunst im Blick behalten, nicht nur die Bildende Kunst. Ich möchte nicht, dass man im Rahmen dieses Afrika-Hypes in eine zu enge Vorstellung von afrikanischer Kunst gerät.
Der Grund für TURN waren die vielen Antragstellungen auf Zusammenarbeit zwischen deutschen und afrikanischen Künstlern. Suchen sie nach neuer Energie und neuem Input?
Wie jeder andere auch haben deutsche Künstler ein Recht darauf, mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten. In Berlin wird nun das Humboldt-Forum entwickelt. Deutschland muss mit dem Rest der Welt in Kontakt stehen. Es gibt zu viele ähnliche Museen. Man muss mit der Tradition brechen, dem Komfort der Einheitlichkeit entfliehen, die weiße Monokultur zurückweisen.
Vielleicht ist dieser Afrika-Hype auch zu sehr auf eine mono-geografische Perspektive Afrikas konzentriert. Sie haben hier ein globales Programm. Sie haben kein Afrikaprogramm.
Im Haus der Kunst ist ein Afrikaprogramm nicht möglich. Wir haben ein globales Programm. Meine Arbeit hat sich nie auf Afrika beschränkt, obwohl ich immer sehr deutlich gemacht habe, dass ich Engagement und langjähriges disziplinäres und intellektuelles Interesse an Afrika als Forschungsgebiet habe. Das leugne ich nicht. Ich bin der Direktor des Hauses der Kunst, das ist meine Position. Mein Tätigkeitsfeld ist ein wenig anders. Ich arbeite als Kurator, und da kann ich mich eher auf eine Sache konzentrieren. Aber als Direktor des Hauses der Kunst habe ich die Verantwortung, ein weitgefächertes Ausstellungs- und Kunstprogramm aufzubauen, das sich mit der Vielschichtigkeit zeitgenössischer Kunst beschäftigt – auf historischer Basis und anderweitig. Eines der Dinge, wofür wir von der Kulturstiftung des Bundes unglaubliche Unterstützung bekommen, ist unser Projekt „Nachkriegszeit“, „Postkolonialismus“ und „Postkommunismus“ – drei Ausstellungen, die wir mit unseren institutionellen Partnern, wie Tate Modern, über die nächsten Jahre entwickeln. Die erste wichtige Konferenz „Nachkriegskunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965“ läuft vier Tage, vom 21. bis 24. Mai 2014. Wir sind sehr dankbar, dass die Kulturstiftung des Bundes dieses Projekt mit einem bedeutenden, beispiellosen Zuschuss fördert. Es ist eine Gelegenheit, Experten aus aller Welt zusammenzubringen, um die Geografie moderner und zeitgenössischer Kunst in dieser Zeit zu überdenken, denn bisher war unser Bild vom Modernismus auf die Geschehnisse in Europa und den Vereinigten Staaten begrenzt, mit dem Rest der Welt irgendwie am Rand. Nun haben wir Gelegenheit, das uns vererbte kunstgeschichtliche Modell – die NATO-Version der Kunstgeschichte – zu überdenken. Es ist ein Versuch, die NATO-Version der Kunstgeschichte zu überprüfen, zu zeigen, dass es hier ein großes Analysefeld gibt, von dem wir profitieren können, wenn wir nur genauer hinsehen. Für diese Art von Programmen steht das Haus der Kunst. Unser größtes Engagement gilt den individuellen Künstlern, ihren Ideen und Visionen, aber es gibt auch Engagement für individuelle Künstler auf einer weitgefassteren, globalen Ebene von Netzwerken. Das ist etwas, was wir hier in München tun müssen, finde ich. Es ist wichtig, etwas über die historischen Bedingungen, in denen Kunstgeschichte entsteht, zu lernen, in Kontakt zu stehen mit Forschern in Indien, den Philippinen, China, Thailand, Japan, Kroatien, Kanada, Rumänien, Nigeria, dem Libanon, Katar usw.
Sie wurden nun zum Kurator der Biennale von Venedig 2015 ernannt. Sollen wir in Venedig also nicht mit einem Afrika-Hype rechnen?
Nicht unbedingt. Ich will Afrika nicht leugnen oder davor weglaufen. Wenn Sie sich die documenta 11 anschauen, sehen Sie, dass ich dort versucht habe, afrikanische Künstler auf natürliche Weise einzubringen, nicht als Hype. Es muss innerhalb des Projektkonzeptes Sinn ergeben. Es gibt viele afrikanische Künstler, die ich bewundere und deren Tätigkeiten ich sehr genau verfolge, aber es gibt genauso viele europäische Künstler, für die das Gleiche gilt. Ich habe enge Beziehungen zu europäischen und amerikanischen Künstlern, ebenso wie zu Künstlern aus anderen Ländern in Afrika, Südamerika, Asien. Das ist für mich das Privileg meiner Arbeit. Ich trage nicht die afrikanische Flagge. Als ich künstlerischer Direktor der Gwangju Biennale in Südkorea war, hatten sie mich eingeladen, weil sie der Meinung waren, dass ich zur Entwicklung ihres Diskurses beitragen könnte. Sie hatten wohl aufgrund meiner Arbeit erkannt, dass ich einen Beitrag würde leisten können. Wenn ich Einladungen bekomme, Meeting Points in Beirut, Amman, Jordanien, Damaskus, Kairo und Tunesien zu veranstalten, ist das eine Anerkennung meiner Arbeit als Teil eines weitgefassten Austauschs. Ich fühle mich sehr privilegiert, in allen Regionen dieser Welt arbeiten zu können, ohne Restriktionen oder Einschränkungen. Aber ich wollte sagen, dass ich mich sehr auf „Die Göttliche Komödie“ in Frankfurt freue. Ich denke, das wird ein wichtiger Beitrag. Deutschland hat allen Grund, stolz darauf zu sein, einige dieser Projekte ins Leben gerufen zu haben, wie zum Beispiel „The Short Century: Das kurze Jahrhundert der Befreiung und Unabhängigkeit in Afrika (1945–1994)”. Das wurde hier in München in der Villa Stuck (1998–2001) entwickelt und „Africa Remix” im Kunstpalast in Düsseldorf usw. Was ich sagen möchte, ist, dass das wichtige Initiativen Deutschlands sind, die Geschichte seiner Verbindung zu Afrika zu verstehen, denn wir können nicht immer wieder von vorne anfangen. Verschiedene Institutionen und Individuen sind seit einiger Zeit mit diesen Projekten beschäftigt. In Deutschland gibt es all diese Völkerkunde-Museen, aber sie bleiben irgendwie verborgen, das wundert mich. Wir müssen diese Sammlungen auf aktive und dynamische Weise aufarbeiten und überdenken.
Aus dem Englischen von Anna Petersdorf