Am Ende aller Gewissheiten

Carolin Emcke

Was ist an Krieg und Gewalt so schwer zu erzählen? Warum gibt es Erfahrungen, die unsere Fähigkeit, sie in Worte zu fassen, zu unterwandern scheinen? Opfer von Zerstörung und Vertreibung, von Folter und Vergewaltigung, sprechen oft von „unbeschreiblichem“ Leid, sie formulieren das, was sie erlebt haben, nicht allein als Erschütterung ihrer moralischen Erwartungen an andere, sondern auch als Erschütterung ihrer erzählerischen Kompetenz. Warum?

Zunächst bedeutet die Wirklichkeit des Krieges ein kognitives Problem. Krieg und Gewalt irritieren. Sie dringen ein in eine bis dahin intakte Lebenswelt. Sie verändern eine Landschaft und eine soziale Ordnung. Sie zerteilen eine Gesellschaft nach ethnischen Markern, die vorher niemand kannte oder die keine politisch-existenzielle Relevanz hatten. Krieg und Gewalt stellen eine Anomalie dar – sie verunsichern und verwirren diejenigen, die ihnen unterworfen werden. Sie ergeben keinen Sinn, lassen sich nicht mit den herkömmlichen Begriffen erfassen. Die Erlebnisse wirken seltsam entkoppelt von allem, was bisher galt, was bisher die eigene Wahrnehmung, die eigenen Intuitionen bestimmte. So unterwandern die Eindrücke und Erlebnisse im Krieg nicht nur normative, sondern auch psychische und ästhetische Gewissheiten.

Die Wirklichkeit des Krieges erscheint wie ein Zerrbild all dessen, was vorher zutraf. Den Opfern (und auch unbeteiligten Beobachterinnen und Beobachtern) erscheinen die eigenen Eindrücke gleichsam unglaubwürdig. Wie sollte sich das auch begreifen lassen? Wie sollte es einleuchten, dass ganze Straßenzüge über Nacht verwüstet wurden? Wer kann sich noch orientieren, wenn nichts mehr erinnert an die Nachbarschaft, in der man aufgewachsen ist, wenn der richtungsweisende Turm nicht mehr steht oder die beruhigende Moscheekuppel zerschossen ist? Wie sollte sich das verstehen lassen? Wer würde nicht fassungslos auf Hunde starren, die mit menschlichen Gliedmaßen durch die Gegend traben? Wem würden nicht die Sinne schwinden bei dem Lärm des Bombardements, dem Beben der Detonationen, der Hitze der brennenden Gebäude? Wer würde sich nicht verloren fühlen, wenn die Orangenhaine vorm Fenster alle verbrannt, die jahrhundertealten Olivenbäume entwurzelt wurden oder die Bibliothek mit den alten Folianten in Trümmern liegt?

Dem moralischen Entsetzen über Unrecht und Willkür des Krieges geht die kognitive Verstörung über eine Welt, in der alles aus den Fugen scheint, voraus. Manchmal hinkt das Bewusstsein den Ereignissen hinterher. Es ist, als ob sich etwas widersetzt, die irreal grausamen Geschehnisse als reale zu begreifen.

Zudem unterwandern Krieg und Gewalt alle normativen Erwartungen, all das, was wir moralisch für denk- und vorstellbar halten: Wer wären wir auch, wenn wir so einfach glauben und verstehen könnten, dass Menschen einander, mit oder ohne Befehl, demütigen und quälen, einsperren oder aussperren, missbrauchen und missachten, foltern und töten? Wer wären wir auch, wenn wir uns selbst, Täter oder Opfer, in diesen Situationen wiedererkennten? Wer wären wir, wenn wir uns oder den anderen nicht mehr vertrauen könnten ohne darüber verwundert zu sein? Wer wären wir auch, wenn wir so einfach glauben könnten, dass es niemanden schert, dass die Weltgemeinschaft vielleicht weiß, was geschieht, aber sie noch nicht einmal bereit ist, den Krieg „Krieg“ oder den Genozid „Genozid“ zu nennen?

Neben dieser anfänglichen Verstörung über das Unverständliche des Krieges kommt für die Opfer das Entsetzen über das, was der Krieg aus ihnen macht, hinzu. Nicht nur die Landschaft um sie herum, ist nicht wiederzuerkennen, auch sie selbst ähneln irgendwann nicht mehr der Person, die sie einmal waren. „Welt, Selbst und Stimme gehen verloren“, schreibt die amerikanische Philosophin Elaine Scarry über die Wirkungsmacht von Schmerz und Gewalt.

Die Opfer des Krieges, Menschen, die von einem Tag auf den anderen zu Flüchtlingen wurden, die ihr Land, ihre Arbeit, ihre Familie, alle Dinge und Menschen, die sie geliebt haben, zurücklassen mussten, wissen nicht, wie sie anderen, die sie nur mehr als Flüchtlinge wahrnehmen, erzählen sollen, wer sie früher einmal waren. Die Opfer des Krieges, die von einem Tag auf den anderen zu Gefangenen wurden, denen keine Individualität mehr zugestanden wird, keine Intimität, keine körperliche Unversehrtheit, die vergewaltigt werden, Menschen, die auf einmal eingepfercht werden wie Tiere, die für demütigende Spiele drapiert und gefoltert werden nach Belieben, die aus der Luft oder dem Nachbarhaus heraus beschossen werden, Menschen, deren ganze Existenz sich aufs Überleben reduziert, wissen nicht wie sie anderen diese Erfahrung mit sich selbst vermitteln sollen.

Denjenigen, denen wochen-, monate-, jahrelang jede Subjektivität abgesprochen wurde, die als Individuen negiert wurden, zu denen niemand sprach außer in Befehlsform, erscheint das Sprechen seltsam fremd. Was früher selbstverständlich gelang: sich jemand anderem in einem Gespräch zuzuwenden – erscheint keineswegs mehr selbstverständlich. Diejenigen, die jahrelang auf Angst und Hunger reduziert wurden, können kaum glauben, dass auf einmal wirklich jemand hören will, was sie zu erzählen haben.

Und so klingen die Erzählungen der Opfer von Krieg und Gewalt auch oft gleichermaßen verstörend wie verstört: Manche erzählen stockend nur, manche erzählen hastig, sie verhaspeln und verlieren sich, manchmal haben sie die lineare Form verloren, sie erzählen bis zu ein und derselben narrativen oder psychischen Schwelle, dann erzählen sie rückwärts, es gibt Brüche, Lücken, manche versinken in Schweigen, für einige Wochen oder Jahre.

Für diejenigen, die der Krieg zu Tätern macht, gibt es das auch: das Entsetzen darüber, wie der Krieg die eigene Person, die eigene Psyche verformt hat. Gewalt wirkt nicht nur auf die zurück, die ihr unterworfen werden, sondern auch auf die, die sie ausüben. Diejenigen, die von sich selbst nicht wussten, dass sie andere quälen und töten könnten, wissen nicht zu erzählen, was der Krieg aus ihnen gemacht hat, weil sie kaum wissen, als wer oder zu wem sie davon erzählen sollten.

Es können ganz unterschiedliche Motive sein, die die Erzählung vom Krieg ermöglichen oder begrenzen: Manche Menschen erzählen, um an die zu erinnern, die nicht überlebt haben, aus Pflicht, aus Schuldgefühl vielleicht auch. Manche Menschen erzählen, um sich aus der erzwungenen Intimität mit denen, die sie gequält und misshandelt haben, zu lösen, weil sie das Wissen, das sie aneinander bindet, teilen und öffnen wollen. Manche erzählen, weil das Unrecht, einmal beim Namen genannt, weniger mächtig scheint. Manche erzählen, weil sie sich aus der Vereinzelung befreien wollen, weil sie ihre Geschichte anknüpfen wollen an die anderer, weil sie sich so weniger einsam, weniger wehrlos, weniger beschämt fühlen.

Manche erzählen, um der Erzählung, die über sie verbreitet wurde, eine Gegen-Erzählung entgegenzusetzen, eine, die sich dem Stigma widersetzt, sie erzählen, um den Blick umzukehren, den Blick, der sie zu Objekten der anderen machte, zu kleinen beweglichen Punkten auf einem Monitor, zu Zahlen in einem Planspiel, zu Wärme induzierenden Lichtfeldern auf einem Bildschirm, zu einem bloßen Mitglied eines Kollektivs, zu Geiseln einer Ideologie, zu kalkulierbaren, entschuldbaren Kollateralschäden eines ansonsten angeblich legitimen Krieges.

Manche erzählen aus Zorn über das, was sie durchlitten haben, manche erzählen aus Zuneigung für die, die untergegangen sind, manche schweigen aus Scham über das, was ihnen angetan wurde und gegen das sie sich nicht wehren konnten, manche erzählen, um die Verbrechen gesühnt zu sehen, manche schweigen, um die eigene Entblößung nicht zu wiederholen, um die zu schonen, die ihnen nah stehen.

Es sind soziale Konventionen und religiöse Überzeugungen, politische oder kulturelle Werte und Tabus, die die Erzählung vom Krieg leiten und begrenzen. In einer Gesellschaft, die ihre eigene Armee lediglich als Entwicklungshelfer begreift, fällt es Soldaten schwer, eine Geschichte von Tod und Zerstörung, von Ambivalenz und Verwirrung zu erzählen. In einer Kultur, in der das Sprechen über Sexualität tabuisiert ist, fällt es Frauen besonders schwer, eine Geschichte von sexueller Gewalt zu erzählen, der sie zum Opfer fielen, in einer Gesellschaft, in der Homosexualität kriminalisiert wird, fällt es männlichen Opfern sexueller Gewalt besonders schwer, ihr Leid zu artikulieren.

Soziale Normen und kulturelle Bilder definieren und markieren die Schwellen des Erzählbaren, Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Rang und Befehlsordnung, von Status und Klasse gehören ebenso dazu, wie die daran gekoppelten zutreffenden oder unzutreffenden Assoziationen und Erwartungen.

Wie vom Krieg zu erzählen ist, hängt nicht nur davon ab, wer spricht, sondern auch davon, wem etwas erzählt wird. Denen, die verschont wurden? Denen, die weggeschaut haben? Denen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens, ihrer echten oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv geschützt waren oder denen, die ebenfalls vertrieben oder bekämpft wurden? Denen, die profitiert haben vom Krieg, die den fremden Hof übernommen, denen, die in das eigene Haus eingezogen sind? Oder denen, die sich auf der anderen Seite der Grenze, der Mauer, der Checkpoints wieder fanden? Wird denen erzählt, die Zeit haben und Geduld, denen, die sich vorstellen wollen, was geschehen ist oder denen, die eilig sind und ungeduldig?

Ist es in einem privaten Kontext, in dem vom Krieg erzählt wird, bei einem Abendessen, das seine harmlose Geselligkeit verlöre, wenn das Grauen des Krieges vergegenwärtigt würde? Sind es Kinder, die zuhören, denen man die eigenen Albträume nicht vererben möchte? Oder ist es eine öffentliche Anhörung, vor einem Gericht, in einer fremden Sprache, im Angesicht derer, denen man vorher ausgeliefert war? Ist es eine militärische Kommission, die einem den eigenen Rang aberkennen könnte? Wen gilt es zu belasten durch eine solche Erzählung, wen zu schützen? Wem dient die präzise, wem die unpräzise Erzählung vom Krieg?

Eine Erzählung vom Krieg ist nicht zuletzt eben auch genau das: eine Erzählung. Eine Erzählung muss bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllen, damit sie verständlich ist. Damit eine Erzählung gelingen kann, damit sie angehört und nachvollzogen wird, muss aus der Fülle der Ereignisse, der Wahrnehmungen etwas ausgewählt und verdichtet werden. Es gibt „Plot“-Erfordernisse, die erfüllt werden müssen, und dieses Plots müssen ästhetisch und kulturell anschlussfähig sein an die Seh- und Denkgewohnheiten derer, die zuhören. Wer nicht geübt darin ist, in jedem einzeln herumliegenden Paket auf der Straße eine potenzielle Autobombe zu sehen, dem oder der muss man ausführlicher erzählen, wer nie einen Verbandswechsel bei Brandwunden-Opfern gesehen hat, dem oder der muss man erläutern wie die Haut in Fetzen abfällt, wer jahrelang in Käfigen oder Zellen eingesperrt war, wer mit Licht und Lärm um den Schlaf gebracht wurde, dem ist die Konzentration für lange Erzählungen abhanden gekommen,

Dabei sind es keineswegs nur die leidvollen, grausamen Szenen, die das Erzählen vom Krieg erschweren, sondern auch die lustigen, die absurden, die surrealen. Wie sollte davon zu erzählen sein, ohne die Erwartungen derer, die nie einen Krieg erlebt haben, zu verstören? Wie lässt sich ermitteln, dass in einem Krieg alles gleichzeitig statt hat: das alltägliche Leben mit seinen banalen Routinen bleibt bestehen, es werden Hochzeiten gefeiert und Beerdigungen, im Wendekreis des Elends wird auch gelacht und geliebt, es werden Kinder geboren und großgezogen, Bienen gezüchtet und Brot gebacken, inmitten und am Rande der Topografie der Gewalt suchen Menschen nach einer Normalität, nach Heiterkeit und Glück. Nicht, weil sie zynisch wären, nicht, weil sie gleichgültig wären oder furchtlos, sondern weil sich nicht anders überleben lässt.

Von diesen kuriosen Momenten des Krieges, dem Grotesken, Albernen, lässt sich schwer erzählen. Sie werden gern ebenso verborgen oder verdrängt, vernachlässigt oder verformt wie die verzweifelten und brutalen Momente. Sie belasten die Erzählung, weil sie die geläufigen Vorstellungen vom Krieg konterkarieren, sie wirken zu leicht, zu heiter, sie scheinen das Leid und den Schmerz, der auch gegenwärtig ist, zu relativieren, sie wirken – auf Außenstehende – womöglich zynisch oder unglaubwürdig. Wer also die eigene Sprechposition nicht gefährden, wer nicht Zuhörer verlieren möchte, wer will, dass sich andere einfühlen und identifizieren können mit den Opfern des Krieges, der oder die bereinigt die Erzählung vom Krieg von allem, was allzu befremdlich erscheinen mag.

So wird schließlich deutlich, wie eng vom Krieg erzählen verbunden ist mit den Hör- und Denkgewohnheiten der Öffentlichkeit, in die hinein erzählt wird: uns. Es liegt auch an uns, die Bedingungen als Gesellschaft zu schaffen, damit diejenigen, die vom Krieg erzählen könnten, es auch wollen. Es liegt an uns zu signalisieren, dass wir nicht geschont werden wollen, dass wir alle moralischen, psychischen, ästhetischen Zumutungen des Krieges verstehen wollen. Es liegt an uns auszuhalten, dass die Erzählungen vom Krieg absurd klingen mögen, lückenhaft, brüchig, verwirrend, unfertig, witzig, trostlos, grauenhaft und verstörend. Aber nur so lässt sich vom Krieg erzählen.

Carolin Emcke

Carolin Emcke, geboren 1967, promovierte in Philosophie und bereist seit 1998 weltweit Krisengebiete, u.a. im Kosovo, Afghanistan, Gaza und Irak. Seit 2007 arbeitet sie als freie Publizistin vor allem für die ZEIT. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, den Deutschen Reporterpreis, den Journalistenpreis für Kinderrechte sowie die Auszeichnung „Journalistin des Jahres“. Bei S. Fischer erschienen von ihr „Von den Kriegen. Briefe an Freunde“ (2004), „Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF“ (2008) und „Wie wir begehren“ (2012). Ihr neues Buch „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ erscheint dieser Tage im S. Fischer Verlag.

Krieg erzählen

Wie kann man vom Krieg erzählen? Warum ist das so schwer? Das Projekt im Haus der Kulturen des Welt in Berlin widmet sich der außerordentlichen Erfahrung von Krieg und Gewalt mit dem Anspruch, unseren Blick auf die Wirklichkeit des Krieges zu schärfen und zu verändern.

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