"Bevor wir noch einem Godfather die Hand küssen können, sind wir bereits verschuldet": Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho beleuchtet den Zusammenhang von existentialer, moralischer und ökonomischer Schuld.
Die Schuldenkrise ist noch lange nicht Schnee von gestern. Im Dezember leitete der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho im Berliner Haus der Kulturen der Welt eine von der Kulturstiftung des Bundes geförderte internationale Konferenz, die den systematischen Zusammenhang von existentialer, moralischer und ökonomischer Schuld thematisierte. Dieser Artikel gibt die Quintessenz von Machos Überlegungen zu „Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten“, so der Titel der Konferenz, wieder.
Vor mehr als hundert Jahren besuchte ein junger russischer Aristokrat namens Sergei Pankejeff die Praxis Sigmund Freuds in der Wiener Berggasse, um eine psychoanalytische Behandlung zu absolvieren. Im Laufe dieser Talking Cure erzählte er einen Traum: Er sei als Kind im Bett gelegen, es war Winter und Nacht; plötzlich ging das Fenster wie von selbst auf, und im Nussbaum vor dem Fenster saßen sechs bis sieben weiße Wölfe. Später assoziierte der junge Mann – der am 24. Dezember 1886 geboren wurde – den Baum mit dem Weihnachtsbaum; und Freud interpretierte die Wölfe als Symbole für die erwarteten Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke: „Es war also schon Weihnacht im Traume, der Inhalt des Traumes zeigte ihm seine Bescherung, am Baume hingen die für ihn bestimmten Geschenke. Aber anstatt der Geschenke waren es – Wölfe geworden“; und die Wölfe schienen ihn auffressen zu wollen.
Wie und wann können Gaben zu Raubtieren mutieren? Es wäre leicht, mit einer weiteren Erinnerung zu antworten. In Vergils Aeneis warnt der trojanische Priester Laokoon vor einem hölzernen Ross, einem Geschenk, das bereits Tiergestalt angenommen hat: „Equo ne credite, Teucri. Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes“, in deutscher Übersetzung: „Traut nicht dem Pferde, Trojaner! Was immer es ist, ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen“ (II, 48—49).
Heute hätten die Nachfahren der Danaer selbst gute Gründe, manchen Gaben zu misstrauen. Denn die meisten Gaben sind eigentlich Anleihen; sie müssen erwidert werden, durch Gegengaben in der Zukunft. „Gabe schielt stets nach Entgelt“, heißt es in einem Vers aus dem Hávamál, einer Spruchdichtung der skandinavischen Edda, der Marcel Mauss das Motto für seinen berühmten Essai sur le don von 1950 entnommen hat. Gaben verlangen Vertrauen; sie erzeugen Bindungen, und sie wirken als temporäre Fesseln, als Verpflichtungen, die rasch in Drohungen verwandelt werden können. „I’m gonna make him an offer he can’t refuse“, erläutert Don Vito Corleone – gespielt von Marlon Brando – seine Techniken der Machtausübung.
Er ist der Godfather, der Pate, der Gönner, der gleich zu Beginn des ersten Teils der Trilogie dem Bittsteller Bonasera das Entgeld für dessen Vergeltungswunsch diktiert: „Some day, and that day may never come, I’ll call upon you to do a service for me. But until that day – accept this justice as a gift on my daughter’s wedding day.“ Gaben werden ausgehandelt; sie fungieren als Zukunftsaussichten, die auf dem Hochzeitsfest der Tochter Don Vitos mit Verbeugung, Handkuss und der Anrede als Pate besiegelt werden. Gaben werden gleichsam in Schulden übersetzt. Begleitet werden diese Übersetzungen von Beschuldigungen, Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen, Rechthaberei und heftigem Streit auf dem Markt der Vorwürfe und Behauptungen. Wer ist schuld? Wer trägt Verantwortung und wird schuldig, beispielsweise durch Gier, Respektlosigkeit, Rachsucht, Dummheit oder Trägheit? Wer erzeugt die Schulden, die sich zu Krisen steigern können?
In deutschen Wörterbüchern – vom Grimm bis zum Duden – finden wir zumeist drei Schuldbegriffe. Der erste Schuldbegriff bezieht sich auf Kausalität, auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung: Ich bin schuld; ich habe etwas ausgelöst und verursacht. Ein zweiter Schuldbegriff bezieht sich auf die Moral: Ich bin schuldig; ich habe falsch oder schlecht gehandelt, mein Handeln kann nicht gerechtfertigt werden. Ein dritter Schuldbegriff bezieht sich auf Geld und Finanzen: Ich schulde, ich bin ein Schuldner; ich habe geliehen, was ich zurückgeben muss (und womöglich nicht zurückgeben kann). Ursache und Wirkung, Gut und Böse, Geben und Nehmen, Soll und Haben: Sind diese Beziehungen nicht zu verschieden, um aufeinander abgebildet werden zu können? Gelegentlich wird argumentiert, die deutsche Sprache könne nicht wie das Englische oder Französische zwischen guilt / faute und debt / dette differenzieren; daher seien die Deutschen geneigt, ökonomische Krisen rasch zu moralisieren und etwa einen Konkurs von vornherein als Schande und Verbrechen wahrzunehmen.
Fesseln der Zeit
Freilich verfehlt dieser Einwand die simple Evidenz verbreiteter Transformationspraktiken, die auch in angelsächsischen oder romanischen Ländern ausgeübt werden: Manche Straftaten können durch Geldzahlungen gesühnt werden, also durch Verwandlung einer moralischen in eine finanzielle Schuld. Und umgekehrt: Versäumte Geldzahlungen – zum Beispiel Steuerhinterziehungen – können moralisch bewertet und durch Haftstrafen geahndet werden; die finanzielle Schuld wird dann in eine moralische Schuld verwandelt. Nicht umsonst behauptet Tomáš Sedláček in seinem Buch Die Ökonomie von Gut und Böse: „Letztlich geht es bei der gesamten Ökonomie um das Gute und das Böse“; wirtschaftliche Entscheidungen sind viel öfter, als uns lieb ist, moralische Entscheidungen. Und diese moralischen Entscheidungen werden ebenfalls viel öfter, als uns lieb ist, auf Pflichten bezogen, die wir selbst von Anfang an einem Anderen schulden oder schuldig zu sein glauben: den Eltern, Göttern oder Nationen, den Regeln einer Verwandtschaftsordnung, den Geboten einer Religion, den staatlichen Gesetzen und Verfassungen.
Bevor wir noch einem Godfather die Hand küssen können, sind wir bereits verschuldet. Im Sinne des ersten Schuldbegriffs schulden wir das eigene Leben einer Instanz, die uns gleichsam „verursacht“ hat. Schuld verweist – nicht nur in Freuds Erzählungen vom Wolfsmann – auf eine „Urszene“. Die ursprüngliche Schuld, die „primordial debts“, hat David Graeber in seiner fünftausend Jahre umfassenden Geschichte der Schulden als Wurzel der Ökonomie und des Tauschs, aber auch der Sklaverei bezeichnet, als eine Wurzel, die älter ist als Edelmetalle und geprägte Münzen. Sie kann als genealogische, soziale oder existentiale Schuld verstanden werden, als eine Schuld, die nach Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Clan, einer sprachlich, religiös oder politisch definierten Gemeinschaft verhandelt werden kann. Graeber zitiert in seinem Buch aus den Veden: „Durch die Geburt wird jedes Wesen als eine Schuld gegenüber den Göttern, den Heiligen, den Vätern und den Menschen geboren. Wenn man ein Opfer bringt, dann weil man den Göttern von Geburt an etwas schuldet“.
Das Opfer ist die Gabe, die eine vorausliegende Gabe – die Gabe des eigenen Lebens: „dass es uns überhaupt gibt“ – erwidert. Graeber hätte auch manchen Satz aus den prophetischen Büchern Israels, aus den griechischen Tragödien oder schlicht den berühmten Spruch Anaximanders anführen können: „Das Vergehen der seienden Dinge erfolge in die Elemente, aus denen sie entstanden seien, gemäß der Notwendigkeit: Denn sie zahlten einander Strafe und Buße für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“
Dieser Satz ist übrigens rund tausend Jahre älter als die Theologie der „Erbschuld“, die der Bischof und Kirchenvater Augustinus im Streit mit dem britischen Mönch Pelagius entwickelte; der griechische Naturphilosoph artikulierte bereits sechs Jahrhunderte vor dem Christentum die Fesseln der Zeit, die – als Ordnungen der Genealogie, Moral und Ökonomie – den Lebenden unter dem Titel ihrer ursprünglichen „Schuldigkeit“ angelegt werden. Die heillose Dreifaltigkeit der Schuldbegriffe – der existentialen, moralischen und ökonomischen Schuld – bildet in gewisser Hinsicht den Ausgangspunkt für die erneute Öffnung und Begehung diskursiver Räume, in denen nicht nur verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch die Medien, Religionen, Therapien oder Künste beheimatet sind. In diesen Räumen sollten freilich nicht allein die komplexen Bedeutungen von Schuld und Schulden verfolgt werden, sondern auch und vor allem die Bedeutungsverschiebungen, die Transformationsprozesse der Schuld, die sich etwa aus der Analyse von sozialen Zugehörigkeitsordnungen, religiösen, rechtlichen oder ökonomischen Praktiken ableiten lassen. Gefragt werden müsste – noch einmal unter Bezug auf Max Webers Studie über die Geschichte der protestantischen Ethik –, wie es zur folgenreichen Verschränkung von Zeit, Geld und Moral gekommen ist; erfragt werden müsste der Zusammenhang zwischen genealogischer und ökonomischer Schuld, der schon in der Antike zum Verlust der Bürgerrechte und zu generationenübergreifender Sklaverei führen konnte. Wie können überhaupt historische Schuldtransformationsprozesse beschrieben werden: beispielsweise die Entfaltung des – abermals bereits von Max Weber vermuteten – Zusammenhangs zwischen Erfahrungen der Schuldsklaverei und nahöstlicher Erlösungsreligiosität, oder die Plausibilität der These Nietzsches aus der Abhandlung Zur Genealogie der Moral (1887), das Gefühl der Schuld habe seine Wurzeln im „ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis“, im Verhältnis nämlich „zwischen Gläubiger und Schuldner“.
Wer aber repräsentiert den ersten Gläubiger? Und mit welchen Mitteln können dessen Forderungen erhoben und entgolten werden? Die Ersetzung der Kinderopfer durch Tieropfer, wie sie exemplarisch in den mythischen Erzählungen von Abraham und Isaak oder Agamemnon und Iphigenie erzählt wird, lässt sich als Substitution genealogischer Schuld durch moralische Schuld deuten. An die Stelle der eigenen Nachkommen treten „Sündenböcke“ oder Stiere, die bei den athenischen „Buphonien“ vom verbotenen Opfergetreide auf dem Altar gefressen hatten; später werden die Tieropfer durch Geldspenden – als Transformation der Sünden in finanzielle Schulden – abgelöst. Andere Beispiele könnten der Rechts- und Verfassungsgeschichte entnommen werden, gewiss auch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.
Die Freiheit der Sklaven
Allerdings darf eine sequenzielle Historisierung der Schuldbegriffe – von der genealogischen zur moralischen und zur ökonomischen Schuld – nicht als Fortschrittsgeschichte gelesen werden; die genealogische Schuld verschwindet ebenso wenig wie die moralische Schuld, auch wenn sie durch ökonomische Verpflichtungen wie Alimente oder Reparationszahlungen für Kriegsverbrechen kompensiert wird. Gefährlicher noch als die vorschnelle Hoffnung auf progressive Transformation und Befreiung von Schuld ist wohl deren regressive Transformation: Die Möglichkeit einer regressiven Schuldtransformation lässt sich nicht nur am Erbrecht studieren, in dem genealogische und ökonomische Zwänge zumeist eng verschränkt werden, sondern auch an den aktuellen Debatten um die Schuldenkrise. Die ökonomische Schuldenkrise wurde in den vergangenen Jahren häufig moralisch analysiert und kommentiert: Einerseits wurde gegen die Entscheidungsschwäche der Politik oder die Geldgier der Banken und Finanzmärkte polemisiert, andererseits gegen Korruption, Steuerflucht und mangelnde Arbeitsmoral. Danach standen Fragen nach Zugehörigkeit und Identität auf der Tagesordnung: In welchen Traditionen wurzelt Europa? Wer soll künftig zu uns gehören, zur Währungsunion, zum gemeinsamen Markt? Mit wem sind wir verwandt, wer ist uns fremd? Wem darf vertraut werden, wem nicht? Mit wem müssen wir uns solidarisch zeigen, mit wem nicht? Kurzum, erst geht es um Geld (um ökonomische Schuld), danach um Korruption und Gier (um moralische Schuld), danach um Zugehörigkeit und – oft genug – um die schlichte Existenz (also um genealogische, existentiale Schuld).
Die Analyse progressiver und regressiver Schuldtransformationsprozesse impliziert im Zentrum auch die schwierige Frage nach deren möglicher Unterbrechung und Aufhebung. Worin könnte wirkliche Emanzipation bestehen, im Sinne des lateinischen Verbs emancipare, das die Entlassung eines Sklaven oder eines erwachsenen Sohns aus dem manicipium, dem feierlichen Eigentumserwerb durch Handauflegung, bezeichnete? Worin Verzeihung? Oder die Erlassung ökonomischer Schulden? Schon nach Maßgabe der Etymologie hängen ›verzeihen‹ und ›verzichten‹ aufs engste zusammen: Ich zeihe dich keiner Schuldigkeit mehr, ich bezichtige dich nicht. Also verzeihe ich dir, ich verzichte auf Vorwurf und Anklageerhebung. Jede Verzeihung ist ursprünglich ein Verzicht: als Unterlassung der Vergeltung und jenes Schuldausgleichs, den die Rachsucht – die bösartige justice, die Bonasera erwirken will – anstrebt. Verzeihung heißt die Handlung, die einen Verzicht auf Handlungen zum Ausdruck bringt.
Wenige Monate vor ihrem frühen Tod am 24. August 1943 schrieb Simone Weil in den Betrachtungen über das Vaterunser: „Wir glauben Schuldforderungen an alle Dinge zu haben. Und bei all diesen Schuldforderungen, die wir zu besitzen glauben, handelt es sich immer um eine imaginäre Schuldforderung der Vergangenheit an die Zukunft. Und auf diese sollen wir Verzicht leisten. Seinen Schuldigern erlassen haben, heißt auf die ganze Vergangenheit insgesamt verzichtet haben. Heißt hinnehmen, dass die Zukunft noch rein und unberührt sei, streng gebunden an die Vergangenheit durch Bande, die wir nicht kennen, aber gänzlich frei von den Banden, die unsere Einbildungskraft ihr aufzuerlegen glaubt.“ Ich weiß nicht, ob und wie diese Hoffnung eines Verzichts auf die Vergangenheit, zugunsten einer wirklich offenen und freien Zukunft, erfüllt werden kann; aber ich weiß, dass wir unbeirrt fragen müssen: Wie können die Fesseln der Zeit tatsächlich gesprengt werden? Wie können Bindungen so aufgehoben werden, dass sie zu Entbindungen führen, pathetisch gesagt: zu Erneuerungen, zu einer Wiedergeburt, zu einer Renaissance?