Mythen des Wirtschaftswachstums

Tim Jackson interviewt von Roman Brinzanik und Tobias Hülswitt

Das Interviewbuch des Physikers und Bioinformatikers Roman Brinzanik und des Schriftstellers Tobias Hülswitt „Werden wir die Erde retten? – Gespräche über die Zukunft von Technologie und Planet“ erscheint im Dezember 2011 in der edition unseld bei Suhrkamp. Die Autoren führen darin Gespräche mit Experten aus unterschiedlichen Disziplinen wie dem Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, dem Schriftsteller T.C. Boyle, dem Pionier der Synthetischen Biologie George Church, dem Umwelthistoriker Joachim Radkau oder dem Klimaforscher und Intergovernmental Panel on Climate Change-Leitautor Stefan Rahmstorf. Die Kulturstiftung des Bundes organisiert eine partizipative, multimediale Veranstaltungsreihe in mehreren deutschen Städten, bei der die Autoren mit weiteren führenden Wissenschaftlern, Künstlern und Philosophen Fragen und Thesen des Buches erörtern. Der Filmemacher Gunther Kreis erstellt zu Werden wir die Erde retten? einen interaktiven Film, dessen Clips in den auf die Beteiligung des Publikums abzielenden Veranstaltungen als Diskussionsgrundlage dienen. Im Format einer Korsakow- Show, entwickelt von dem Medienkünstler Florian Thalhofer, kommen neben den Live-Experten in Videoeinspielungen die interviewten Gesprächspartner zu Wort, das Publikum bestimmt den Fortgang des Gesprächs und kann eigene Beiträge liefern. Im Zentrum der Veranstaltungsreihe steht die Frage, wie ein relevanter, partizipativer und interdisziplinärer Austausch über unsere Zukunft angestoßen werden kann. Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus einem Interview, das Roman Brinzanik und Tobias Hülswitt mit Tim Jackson, dem Autor des auch in Deutschland viel gelesenen Buches „Wohlstand ohne Wachstum – Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt“ (Oekom Verlag, München 2011), geführt haben.

Tobias Hülswitt Herr Jackson, in Ihrem Buch Wohlstand ohne Wachstum schreiben Sie, der Mythos des Wachstums habe uns im Stich gelassen. Warum ist das so?

Prof. Tim Jackson Aus den verschiedensten Gründen. Der erste ist, dass von der Explosion materiellen Wohlstands seit der Industrialisierung und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg nur ein Teil der Weltbevölkerung profitiert hat. Dieser Wohlstand wird zwar für immer mehr Menschen real, beispielsweise in China und Indien, aber es gibt immer noch zwei Milliarden Menschen in Afrika und Teilen Südostasiens und Lateinamerikas, die chronisch unterernährt sind und bestenfalls am Existenzminimum leben. Das Wirtschaftswachstum hat die Ärmsten nicht von der Armut befreit und es nicht vermocht, einen gleichmäßig verteilten Wohlstand zu schaffen. Es hat globale Spaltungen, Einkommensunterschiede und Unterschiede im Zugang zu Ressourcen und Lebensqualität erzeugt, die moralisch nicht hinnehmbar sind. Und die Vorstellung vom nach unten durchsickernden Wachstum beziehungsweise von der »Flut, die alle Boote hebt«, wie John F. Kennedy es in den 60er Jahren formulierte, dieser Gedanke des sozialen Fortschritts ist auch gescheitert. Wir haben immer eine Vielzahl von Zukünften vor uns, doch eine mögliche ist die, in der ein zunehmend kleiner Anteil der Weltbevölkerung weiterhin auf einem sehr hohen materiellen Wohlstandsniveau lebt, und eine andere ist eine solche, in der wir eine andere Vorstellung von Wohlstand entwickeln und die materiellen Ressourcen so teilen, dass ein Gemeinwohlstand entsteht.

Roman Brinzanik Warum kann ein globales Wirtschaftswachstum das nicht erreichen, wenn wir ihm einfach mehr Zeit geben?

Jackson Wenn man sich überlegt, was nötig wäre, um das dazu erforderliche Wachstum zu erzielen, gelangt man zu unrealistischen Ausmaßen des Rohstoffverbrauchs und zu katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt. In unserem gegenwärtigen wirtschaftlichen Modell von Wohlstand und Fortschritt auf globaler Ebene soll theoretisch jeder an diesem wundervollen materiellen Wohlstand teilhaben, aber wenn man nachrechnet, geht es nicht auf. Es gibt kein realistisches Szenario, bei dem wir unsere heutige Form des Wachstums ausgeweitet auf neun Milliarden Menschen, die wir im Jahr 2050 sein werden, aufrechterhalten können, ohne dabei im Widerspruch zu den Limitierungen unserer Umwelt und der globalen materiellen Ressourcen zu stehen. Dieses »Unmöglichkeits- Theorem« ist die Motivation für das, was ich mit meiner Forschungsarbeit zu erreichen versuche. Also, zweitens, um auf die vorherige Frage zurückzukommen, Wachstum ist auch ökologisch gesehen gescheitert.

Hülswitt Warum brauchen wir überhaupt Wachstum?

Jackson Der Bedarf des Systems an Wachstum und unser Bedarf an Wachstum sind zwei eng verknüpfte und häufig als identisch betrachtete Umstände. Wir brauchen Wachstum, weil es uns gute Dinge bringt, es verhilft uns zu mehr Nahrung, einem gesünderen Leben, besseren Technologien und mehr Reizen. Und das Wirtschaftssystem braucht Wachstum, weil in der Art von Ökonomie, die wir haben, soziale Instabilitäten entstehen, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Wachstumsrücknahme ist instabil, zumindest unter den gegenwärtigen Bedingungen.

Hülswitt Warum kommt es zu diesen Instabilitäten?

Jackson Die grundsätzliche Dynamik dreht sich um Wachstum und Beschäftigung. Politiker verkünden immer wieder, dass Wachstum gleichbedeutend ist mit Beschäftigung. Diese Behauptung ist wirklich bizarr, denn Wachstum schafft und vernichtet Arbeitsplätze gleichzeitig. Durch technischen Fortschritt und durch die Struktur einer wachstumsorientierten Gesellschaft gibt es ständig Anreize, die Arbeitsleistung, die jeder Arbeiter in einem Jahr erbringt, zu erhöhen. Das bedeutet, dass man im nächsten Jahr weniger Menschen für die Arbeit benötigt, die in diesem Jahr geleistet wurde, um die gleiche Wirtschaftsleistung zu erzielen. Und wenn die Wirtschaft nicht wächst und keine neuen Arbeitsplätze schafft, werden die Menschen arbeitslos. Der Anreiz, fortwährend der steigenden Arbeitsproduktivität hinterherzulaufen, ist genau der Grund, warum die Wirtschaft wachsen muss, wenn man Beschäftigung sichern will. Wenn die Arbeitsproduktivität nicht steigen würde, bräuchte man auch kein Wirtschaftswachstum, um Arbeitsplätze zu erhalten. Ich würde argumentieren, dass dies die zentrale Langzeit-Dynamik ist, die uns immer abhängiger vom Wachstum macht. Doch es gibt natürlich auch andere. Im Besonderen tendieren schuldenbasierte Finanzsysteme ohne Wachstum zu Instabilität. Ob Regierung, Unternehmen oder Privataushalt – wenn das Einkommen nicht wächst, wirkt sich die Rückzahlung von Schuldzinsen negativ auf die Kaufkraft und womöglich auch auf das Wohlergehen aus.

Neudefinition des Wohlstands

Hülswitt Werden wir uns von einem Teil unseres Reichtums trennen müssen, um zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu kommen?

Jackson Wir müssen Wachstum in den reichen Ländern hinterfragen, und wir müssen damit beginnen, neu zu definieren, was wir unter Reichtum und Wohlstand verstehen. Dann werden wir sehen, dass eines der wichtigsten Dinge, die wir überprüfen müssen, unsere Vorstellung von Fortschritt ist.

Brinzanik Was könnten heutzutage denn echter Wohlstand und echter Fortschritt sein?

Jackson Welche sind die Bereiche, die wir in unserer Vision von Fortschritt bewahren möchten? Ich beschreibe Wohlstand als unsere Befähigung, ein würdiges Leben zu führen. Dabei beziehe ich mich auf Amartya Sens und Martha Nussbaums Konzept der »Befähigungen zum Gedeihen« und konzentriere mich darauf zu definieren, was »gedeihen« bedeutet. Ich habe den Eindruck, es gibt einige materielle Werte, die wir absichern möchten. Zum Beispiel die Möglichkeit, ein gesundes Leben zu führen, sicherlich ausreichend und gesunde Ernährung, menschenwürdige Lebensbedingungen und Obdach. Es ist unsinnig, über Wohlstand zu reden, ohne diese materiellen Größen in den Mittelpunkt zu stellen. Doch darüber hinaus geht es um sozialen und psychologischen Fortschritt. Sogar die Allgegenwärtigkeit und Anziehungskraft beispielsweise des iPhones als Konsumgut ist größtenteils psychologischer und sozialer Natur. Bei seinem Nutzen geht es um Kommunikation und Reize; darum, soziale Verbindungen und Bindungen herzustellen. Diese Vision des Fortschritts existiert mindestens schon seit Aristoteles. Die Bedingungen für ein gutes Leben sind die Gestaltung und Erhaltung unserer Identität, ein sinn- und zielbewusstes Leben, unser Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, unserer Familie und Freunden, und ein Gefühl der generationenübergreifenden Kontinuität der Menschheit. Kurzum, die Befähigung, frei am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Diese Voraussetzungen bilden den Stoff, der dem Fortschritt zugrundeliegt.

In Richtung einer nachhaltigen Wirtschaft

Brinzanik Was sind die Konsequenzen dieser Vision von Wohlstand für unsere reichen Gesellschaften mit unserem hohen materiellen Lebensstandard? Was müssen wir verändern?

Jackson Wir müssen die gesellschaftliche Logik ändern. Und dazu müssen wir uns damit auseinandersetzen, was wir wollen, wie wir es erreichen und wie wir es gerecht verteilen. Dies erfordert einen öffentlichen Raum, in dem wir uns darüber austauschen können, welche Dinge von Bedeutung sind und wo sie das sind. Das ist die erste Stufe: zu sagen, ja, durch Wirtschaftswachstum wird unser Leben gesünder, wir bekommen eine bessere Bildung und bessere und attraktivere Technologien – doch es geht einher mit diesem schnellen materiellen Durchfluss in einem überfrachteten Leben, von dem wir uns befreien möchten. Können wir diese beiden Aspekte voneinander trennen? Denn genau genommen traf es nie zu, dass mehr immer gleichbedeutend mit besser ist. Wir erleben eine Art Übersättigung an Dingen, und die Menschen beginnen allmählich zu denken: »Ich will weniger Krempel in meinem Leben, ich will entrümpeln. Meine Lebensqualität wird zu sehr von Materiellem beeinträchtigt. Und vielleicht kann ich sie verbessern, indem ich mehr Zeit mit meinen Freunden, meiner Familie und anderen Menschen verbringe anstatt so hart zu arbeiten, damit ich diese Dinge kaufen kann, die mir so viel versprechen, dies aber irgendwie nie einlösen und am Ende nur mein Haus vollstopfen und meine Zeit rauben.« Wir haben genau deshalb eine Logik des Konsums entwickelt, weil sie es ist, die das System funktionieren lässt. Politiker wehren sich mehr als gegen alles andere dagegen, dass es ihre Aufgabe ist, die soziale Logik zu ändern. Realität ist, sie haben es getan. Indem sie institutionelle Rahmenbedingungen für eine wachstumsorientierte Wirtschaft geschaffen haben, haben sie systematisch eine bestimmte soziale Logik gefördert, nämlich die des Konsums. Schauen Sie sich nur die Nachrichten während der Krise von 2008 an. Ein Politiker nach dem anderen erscheint auf dem Bildschirm und animiert die Leute dazu, Geld auszugeben, und stellt es sogar als moralische Pflicht dar, shoppen zu gehen, denn das sei es, was uns die wirtschaftliche Stabilität zurückgeben werde. Es macht keinen Sinn, diese soziale Logik zu ändern, während man noch ein Wirtschaftssystem betreibt, das auf Konsumsteigerung basiert. Doch wenn man eine Ökonomie schaffen kann, die sich nicht mehr auf dieses untragbare Wachstum gründet, dann kann man auch eine soziale Logik entwickeln, die widerspiegelt, was wir Menschen wirklich sind. Wie ist das zu bewerkstelligen? Zum einen müssen wir systematisch nachvollziehen, wie wir diese gesellschaftliche Logik des Konsums geschaffen haben, und sie demontieren. Und der andere Weg ist, solche Ziele zu identifizieren und in sie zu investieren, die uns befähigen, auf weniger materialistische und dafür sinnvollere Art zu gedeihen. Das ist also meine erste Empfehlung: Verändert die gesellschaftliche Logik .

Brinzanik Was braucht es noch, um eine nachhaltige Wirtschaft zu schaffen?

Jackson Als Zweites müssen wir die ökologischen Grenzen, die materiellen und umweltbedingten Beschränkungen des Systems identifizieren. Hier geht es um eine belastbare Bilanzierung von Ressourcen und darum herauszufinden, welche wirtschaftliche Aktivität wir uns mit unterschiedlichen Ressourcenabhängigkeiten leisten können und welche nicht. Und wie eine gerechte Verteilung dieser Ressourcen in einer wachsenden Welt aussehen könnte, in der jeder das gleiche Recht auf eine angemessene Lebensqualität hat. Das ist also Nummer zwei: Definiert die Grenzen.

Hülswitt Was ist mit der Ökonomie selbst?

Jackson Es ist offensichtlich, dass die existierende ökonomische Struktur ernsthaft beschädigt ist, sogar gemessen an ihren eigenen Ansprüchen. Es gibt in ihr keinen Stabilitätsmechanismus außer der kontinuierlichen Steigerung des Konsums. Die Bestrebungen, dies zu erreichen, haben eine Krisenanfälligkeit erzeugt, die das gesamte System beinahe zu Fall gebracht hat. Meine dritte Empfehlung ist also: Bringt die Wirtschaft in Ordnung. Ich spreche hier von Wirtschaft sowohl als akademischer Disziplin als auch als gesellschaftlicher Institution. Der ökologische Ökonom Herman Daly hat für eine stationäre Wirtschaft im Rahmen der Belastbarkeit der Ökosysteme plädiert. Diese Pionierarbeit bietet ein tragfähiges Fundament, um die Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Tatsächlich haben sogar Ökonomen wie John Stuart Mill und John Maynard Keynes über genau diesen Wandel geschrieben, über den Übergang von einer Ökonomie, die sich auf die Schaffung der materiellen Voraussetzungen für ein gutes Leben gründet, hin zu einer Ökonomie, in der diese Aufgabe erfüllt ist und in der wir uns nicht mehr über Wirtschaftswachstum Gedanken machen müssen. Gegenwärtig besitzen wir keine Makroökonomie, deren Stabilität nicht von einer kontinuierlichen Steigerung des Konsums abhängt. Natürlich könnte ich hier auch erwähnen, dass die Mainstream-Ökonomie – fälschlicherweise, wie ich meine – auf der Wirkung miteinander konkurrierender Kräfte beharrt, die rational individuelle Eigeninteressen verfolgen. Die psychologische Realität sieht jedoch anders aus, denn die individuelle Identität wird durch unsere Beziehungen zu anderen Menschen konstruiert. Deswegen funktionieren die Modelle der Mainstream-Ökonomie nicht richtig, die Maximierung des Gemeinwohls stimmt im Ergebnis nicht, die externen gesellschaftlichen und die Umwelt betreffenden Effekte werden nicht richtig eingerechnet. Einige Menschen haben den Gedanken eines ökologischen Ichs angeregt, ein Ich, das Schaden nimmt, wenn die Ökologie Schaden nimmt. Doch selbst, wenn man so weit nicht gehen will, bleibt es eine Tatsache, dass die Ökonomie eine Art gesellschaftliche Falle hervorgebracht hat, in der individuelles Eigeninteresse zur Zerstörung des sozialen Wohls führt und unsere Fähigkeit schwächt, uns in einem sozialeren Sinne zu definieren. Selbstverständlich sollten mit der Reparatur der Wirtschaft auch einige grundlegende Dinge wie das Ausbessern der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einhergehen. Es ist mittlerweile wohl bekannt, dass das Bruttoinlandsprodukt einfach kein gutes wirtschaftliches Maß dafür ist, was Wohlbefinden ausmacht und was Fortschritt bedeutet. Dies sind also meine Empfehlungen: Verändert die gesellschaftliche Logik, definiert die Grenzen, bringt die Wirtschaft in Ordnung.

Technologische Entkopplung

Brinzanik Viele Menschen glauben, dass es möglich sein wird, die Wirtschaftsleistung von den negativen Umwelteinflüssen und der Erschöpfung der materiellen Ressourcen mithilfe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu entkoppeln, beispielsweise durch ständig zunehmende Effizienz.

Jackson Es ist wahr, wir werden immer effizienter, aber wir machen auch immer mehr. Das ist der Skaleneffekt des Wachstums, der immer dazu tendiert, die Effizienzsteigerungen zu überwiegen. Die Kohlenstoffintensität, also die Kohlendioxidemission pro Dollar, ist beispielsweise seit 1990 durchschnittlich pro Jahr um 0,7 Prozent gesunken, und gleichzeitig ist der weltweite Kohlendioxidausstoß um etwa 40 Prozent gestiegen. Indem also die Wirtschaft expandiert, geht dies letztlich mit einer größeren Einwirkung auf die Umwelt einher, und wenn man sich vorstellt, dass im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen einen westlichen Lebensstil anstreben, kommt man zu recht heroischen, völlig unrealistischen Annahmen, welchen technischen Fortschritt man erzielen und wie viel Effizienz man erreichen müsste. Lassen Sie uns ein Szenario entwerfen, in dem die voraussichtlich neun Milliarden Menschen Mitte dieses Jahrhunderts westliche Einkommen anstreben. Nehmen wir an, dass alle diese Einkommen um zwei Prozent pro Jahr steigen, es also auch in den Industrienationen weiterhin Wachstum gibt. Und nehmen wir weiter an, dass wir dennoch unsere CO2-Emissionsziele einhalten wollen – also eine Reduzierung der weltweiten Emissionen um etwa 80 Prozent bis zum Jahr 2050, um das Stabilisierungsziel des IPCC von 450 ppm [Teilen pro Million] zu erreichen und die globale Erwärmung unter 2°C zu halten. Durch dieses einfache Gedankenexperiment wird deutlich, dass die Dekarbonisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten eine riesige Aufgabe darstellt. Man benötigt eine 130-fache Reduktion der Kohlenstoffintensität innerhalb der nächsten 40 Jahre! Und auch danach muss man diese Dekarbonisierung natürlich immer schneller vorantreiben, denn die Wirtschaft wächst ja weiter.

Brinzanik Sind Sie also der Meinung, dass wir einen Fehler machen, wenn wir uns auf technologische Lösungen wie ein umfassendes Erdsystem-Management, eine drastische Effizienzsteigerung, eine Hinwendung zu nachwachsenden Rohstoffen oder die Schaffung geschlossener Ressourcenkreisläufe verlassen?

Jackson Im Gegenteil, erneuerbare Energien, Ressourceneffizienz, Reduktion der Materialflüsse und möglicherweise ökologisches Enhancement und CO2-Abscheidung und -speicherung sind unerlässlich – mit oder ohne Wachstum. Wir brauchen einen massiven technologischen Wandel. Aber ich denke, wir fordern technischen Fortschritt in einem Umfang, der unrealistisch ist, zumindest in einem Wirtschaftssystem, in dem wir nicht die zugrunde liegende Architektur geändert haben. Ich glaube nicht, dass die von Ihnen angesprochene Entkopplung technisch völlig unmöglich ist. Sie ist jedoch unmöglich in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem. Mein beruflicher Werdegang begann genau da, bei dem Gedanken, dass es all diese regenerativen Energietechnologien bereits gab, und sie in naher Zukunft zur Anwendung kommen konnten – was sich aber nicht einstellte. Denn was dem im Wege steht, sind die institutionellen Strukturen, die wirtschaftlichen Anreize und in gewisser Weise auch die Organisation unseres Lebens, die gesellschaftliche Architektur. Der Mythos der technologischen Entkopplung ist die Behauptung, dass sie zwangsläufig ökologische Ziele verwirklichen wird. Das ist märchenhaftes Wunschdenken.

Brinzanik Wie sollte unsere technologische Strategie also ausgerichtet sein, abgesehen davon, dass sie grün ist?

Jackson Technik existiert seit der Steinzeit, und breit gefasst ist sie nichts anderes als menschliche Anpassung der materiellen Umwelt zum Zwecke des Wohlergehens. Selbstverständlich brauchen wir Technik. Und ebenso sehr Innovation. Wir haben mithilfe von Technologie, insbesondere durch die Verbesserung des Gesundheitswesens, Großes erreicht. Wissen Sie, für mich hat das tatsächlich sehr viel mit meinem eigenen Leben zu tun, denn mein Sohn wurde mit einem Loch im Herzen geboren, und vor 50 Jahren wäre die Medizintechnik wohl nicht so weit gewesen, dies rechtzeitig festzustellen. So aber hatte er eine kleine Operation, in der ein Stück Gore-Tex an sein Herz angenäht wurde, und nun hat er ein im Großen und Ganzen normales Herz und eine normale Lebenserwartung. Was immer Sie mir also von den Vorteilen all dieser Fortschritte erzählen mögen, ich bin d’accord. Aber letztlich unterstreicht diese Erfahrung für mich unsere enorme Fähigkeit, diejenigen Dinge zu bewahren, die wirklich von Bedeutung für uns sind. Nur ist das Verhältnis zwischen Innovation und Bewahrung und Tradition aus dem Gleichgewicht geraten. Wir haben aus verschiedenen Gründen dazu tendiert, technologische Innovation zu fördern. Zum einen, weil sie aufregend und sexy ist, zum anderen, weil sie es ermöglichte, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Doch wie ich bereits erwähnte, birgt dies Probleme. Eines ist das Tempo, mit dem der Rohstoffdurchsatz erhöht wird, ein weiteres unsere Abhängigkeit von den Technologien selbst und der daraus entstehende Mangel an Resilienz oder Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft. Beispielsweise sind Schulen in ihrem Unterricht zunehmend auf Informationstechnologien angewiesen. Es gibt keine Wandtafeln mehr, sondern Touchboards und das dazugehörige Equipment. Wir sind mit der Zeit abhängig geworden von Technologien, die unter allen Umständen, die von den optimalen Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum abweichen, Fragilität mit sich bringen werden. Wenn Investitionen einzubrechen beginnen, sind dies die Systeme, die nicht mehr funktionieren werden. Die Schranken an Bahnstationen, die Computer in Klassenzimmern, die Abhängigkeit der Haushalte von der allgegenwärtigen Technologie, die immer in Betrieb ist. All diese Dinge erzeugen einen Mangel an Resilienz. Brauchen wir also Technologie? Ja. Brauchen wir eine Strategie, die uns vor einem blinden Vertrauen auf anfällige Technologien bewahrt, die wir uns nicht leisten können? Absolut. Wir müssen uns in einer Weise über die Entwicklung unserer Bildungssysteme, unserer Gesundheitssysteme, unseres Transportsystems, unseres Energiesystems und unserer innerstaatlichen Systeme Gedanken machen, die die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit angesichts verschiedener Zukünfte berücksichtigt.

Brinzanik Brauchen wir nicht ein gewisses Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, nicht nur aufgrund des Geldsystems und um die bereits bestehenden Schulden zu begleichen, sondern auch für notwendige Investitionen in die kostspielige Entwicklung und Umstellung auf umweltfreundliche und andere Technologien? J a c k s o n Wie ich bereits erwähnt habe, ist es in dem bestehenden System schwierig, Schulden zu tilgen, wenn das Einkommen nicht steigt. Zumindest drohen sie dann das Wohlstandsniveau zu unterminieren. Und zurzeit haben wir ein Geldsystem, das sich extensiv auf Schulden gründet und in dem mehr als 90 Prozent des innerhalb des Systems geschaffenen Geldes direkt aus Schulden generiert ist. Es gibt überzeugende Argumente dafür, das Geldsystem umzugestalten und dem öffentlichen Sektor, der Regierung ein Maß an Kontrolle der Geldmenge zurückzugeben. Und ja, es ist auch wichtig zu berücksichtigen, wie Investitionen funktionieren. Natürlich sind Investitionen nötig, um Erträge für Investoren zu generieren. Doch ist es legitim, dass diese Investoren Erträge von 25 oder 30 Prozent beanspruchen in Wirtschaftssystemen, die bestenfalls um zwei oder drei Prozent wachsen? Ich glaube nicht. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Konzept für ökologische Investitionen, das langfristiger ausgerichtet ist, das niedrigere Renditen, die möglicherweise sogar gegen null tendieren, in Kauf nimmt, im Austausch für das Erreichen längerfristiger ökologischer und gesellschaftlicher Ziele. Würden wir die Zukunft ebenso oder mehr wertschätzen als die Gegenwart, könnten wir sogar negative Ertragsraten akzeptieren. Viele normale Menschen treffen täglich diese Art von Entscheidung. Im konventionellen Sinn ist es beispielsweise unwirtschaftlich, dass Eltern Zeit und Geld in ihre Kinder investieren. Sie tun es, weil sie die Zukunft ihrer Kinder wertschätzen, manchmal sogar mehr als ihre eigene.

Visionen der Zukunft

Brinzanik Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt, dass eine der Auswirkungen der gegenwärtigen Umwelt- und Klimakrise ein neues Zeitalter des materiellen Minimalismus sein könnte, das er »ökologischen Puritanismus« nennt. Denken Sie, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts könnte ein hedonistisches Intermezzo gewesen sein, nach dem wir wieder zur Bescheidenheit zurückkehren?

Jackson Meine Forschungsgruppe hier an der Universität Surrey hat sich eingehend mit Menschen beschäftigt, die sich bewusst in dieser materiellen Bescheidenheit üben. Selbstauferlegte Einfachheit, nachhaltige Lebensentwürfe und diese Art von Initiativen auf privater oder lokaler Ebene sind äußerst interessant, denn sie entwerfen eine Gegenkultur. Es gibt einige faszinierende Hinweise darauf, dass Menschen, die so leben, ein nachweislich größeres Wohlbefinden zeigen. Doch sind die Verhältnisse derart, dass dieser Lebensstil sich auf breiter Ebene von alleine entwickelt? Mein Gefühl sagt mir, eher nicht, denn die Umstände sind momentan zu schwierig. Wenn man sich diese Initiativen anschaut, sieht man, dass die Menschen, die sich auf diese Gegenkultur einzulassen versuchen, kontinuierlich gegen den institutionellen Rahmen und die strukturellen Bedingungen ankämpfen, die man ihnen auferlegt. Könnte dieser Lebensstil aber die Zeit überdauern und in Erscheinung treten, sobald sich die Gegebenheiten ändern, entweder zwangsweise oder durch gesellschaftlichen Wandel? Ich denke, ja.

Hülswitt Halten Sie es für möglich, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt so etwas wie eine von Ungeduld angetriebene Öko-Rebellion geben wird?

Jackson Von Menschen, von Ungeduld, ja. Ich denke, es gibt Bedingungen, unter denen das tatsächlich geschehen könnte. Als Konsequenz dessen, was in Japan geschehen ist, werden wir ein ausgesprochenes Unbehagen an der Nukleartechnik erleben, und somit fällt sie als Ausweichtechnologie für fossile Energiequellen weg. Dies vollzieht sich auf der Basis sehr schwer kontrollierbarer öffentlicher Wahrnehmungen und Reaktionen. Hier haben wir also Umstände, die ein Gefühl der Öko- Rebellion schüren könnten. Sie müssten einhergehen mit einem weiteren Ölschock, den wir vielleicht momentan durch die Geschehnisse in der arabischen Welt und anderswo hervorrufen. Und eine Unsicherheit rund um die Gasversorgung aus Osteuropa, und möglicherweise etwas Umweltbedingtes – obwohl ich denke, dies wäre hier das schwächste Element – könnten die Bedingungen für eine Art Öko-Rebellion schaffen. Es gibt immer Gegenreaktionen und Gegenreaktionen auf die Gegenreaktionen, daher ist es schwierig vorherzusehen, wie es sich gestalten wird. Aber es wäre eine sehr interessante Entwicklung.

Imagination

Brinzanik Welche Rolle spielen utopisches und dystopisches Denken bei der Gestaltung unserer Zukunft?

Jackson Ich denke, beide sind recht wichtig. Aber keines von ihnen ist unproblematisch. Sie sind keine Ziele um ihrer selbst willen. Man sollte sich und seine Imagination nicht zu sehr darin verlieren, sie sind nur Leitsterne, um eine Route durch weitgehend unbekanntes Terrain aufzuzeigen und unterschiedliche mögliche Zukünfte ansteuern zu können. Ich denke, das ist ihre Aufgabe.

Hülswitt Ich habe kürzlich Lady Chatterley gelesen. Es ist eine Liebesgeschichte, aber auch eine Geschichte über die Liebe zur Natur und eine fundamentale Gesellschaftskritik. Und es gibt eine Szene, in der Lady Chatterley in die nächste Bergarbeiterstadt fährt, sie schaut aus dem Wagenfenster und sieht: »Der Schlamm schwarz von Kohlenstaub, die Bürgersteige feucht und schwarz. Es war, als hätte die Düsternis alles durchtränkt.« Es war eine Ahnung, die der Autor, D. H. Lawrence, offensichtlich hatte, als er eine Landschaft und Städte betrachtete, die durch die Industrialisierung entstellt waren, dass diese Entstellung völlig unrecht war. Könnte eine solche Intuition ein vertrauensvoller Leitfaden sein, oder eher nicht?

Jackson Hätten wir es anders tun können, hätten wir einige der Vorteile der damaligen Technologien ohne die enormen Nachteile und großen Risiken erreichen können? Ich vermute, in gewisser Hinsicht ist Lawrences Reaktion auf die Bergbaustädte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, diese intuitive Reaktion, nützlich als Orientierungshilfe. Es ist eine Erkenntnis, dass wir unseren Nutzen mit enormen Kosten vermischen. Und es gibt Unmengen von Literatur zu diesem Thema, Menschen, die den Gang der Entwicklung seit der Industriellen Revolution kritisch betrachtet und auf einer anderen Vorstellung dessen beharrt haben, was es bedeutet, Mensch zu sein. Und das ist für mich, was Literatur vermag. Sie speichert diese Möglichkeiten, auf andere Art Mensch zu sein. Sie erforscht, was durch den sogenannten gesellschaftlichen Fortschritt geschieht. Und sie stellt sehr legitime Fragen darüber, ob es sich tatsächlich um Fortschritt handelt und was die Entwicklung des menschlichen Herzens sein sollte. Einigen Elementen dieser kulturellen, künstlerischen Antworten sollten wir als Einblick in unser Befinden trauen.

Nachhaltigkeitstransformation

Brinzanik Befinden wir uns heute, historisch betrachtet, nach der Neolithischen und der Industriellen Revolution in einem Übergang in eine neue Ära der Nachhaltigkeit?

Jackson Wenn wir den sozialen Wandel hin zu einer robusteren Gesellschaft mit einem ökologischen Gewissen vollziehen wollen, ist dies das Ausmaß an Revolution, das wir brauchen. Können wir bereits eine Transformation in auch nur annähernder Größenordnung beobachten? Ich fürchte nein. 

Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Christine Rennert, Roman Brinzanik und Tobias Hülswitt. 

Tim Jackson

Tim Jackson ist Professor für Nachhaltige Entwicklung im Zentrum für Umweltstrategien an der Universität Surrey.

Publikation

Roman Brinzanik, Tobias Hülswitt: Werden wir die Erde retten? – Gespräche über die Zukunft von Technologie und Planet, ca. 300 Seiten, ISBN: 978- 3-518-26040-1 / edition unseld / Suhrkamp Verlag Berlin / Erscheinungstermin: 12.12.2011 / Medienpartner der Veranstaltungsreihe: DRadio Wissen, Deutschlandradio Kultur und der Freitag

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