41 quadratmeter Universum

Peter Luthersson

Im Mai 1940 floh Nelly Sachs (Berlin 1891–1970 Stockholm) mit einem der letzten Flüge aus Berlin nach Stockholm. Vor ihr lagen dreißig Jahre Exil, die sie zeitweise in psychiatrischen Kliniken verbrachte, aber auch die späte Anerkennung als Schriftstellerin, unter anderem durch die Verleihung des Literaturnobelpreises 1966. Gefördert von der Kulturstiftung des Bundes zeigt das Jüdische Museum in Berlin seit März 2010 die Ausstellung Flucht und Verwandlung — Nelly Sachs, Schriftstellerin Berlin / Stockholm. In seinem Beitrag ruft der schwedische Autor und Verleger Peter Luthersson Szenen aus dem Leben von Nelly Sachs in Erinnerung, ihre Freundschaften zu Autoren wie Selma Lagerlöf und Paul Celan.

In der Königlichen Bibliothek von Stockholm wird ihre Wohnung verwahrt. Man nimmt den Aufzug und fährt unter die Erde, in die Gewölbe, in denen sich die Schätze der Bibliothek befinden. Dort folgt man einem langen, weißen Flur, der von unbarmherzig grellem elektrischen Licht erfüllt ist. Am Ende steht man vor einer namenlosen Tür. Dahinter befindet sich ihre Wohnung, in der ihre Möbel und anderen Besitztümer so stehen, wie sie sich einmal in Bergsundsstrand 23 in derselben Stadt befanden. Eine stark vergrößerte Fotografie zeigt, was sie durch ihr Fenster sah: Wasser und auf der anderen Seite des Wassers ein anderes Ufer.

Nelly Sachs war in letzter Stunde aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen, gerade noch rechtzeitig, bevor sie in ein Konzentrationslager gebracht werden sollte. Zusammen mit ihrer fast siebzigjährigen Mutter kam sie am 16. Mai 1940 nach Stockholm, mit dem Flugzeug. Eine Freundin hatte sie gewarnt, es sei unsicher, per Bahn nach Schweden zu reisen, auch wenn man die richtigen Papiere dabeihabe. Und es war auch nicht ganz sicher, ob sie bleiben konnte: »Schweden war damals ein wenig gastfreundliches Land für Flüchtlinge«, schrieb der Dichter Olof Lagercrantz, zu jener Zeit Chefredakteur von Dagens Nyheter, der größten Tageszeitung des Landes, im Jahr 1966 in einer Nelly Sachs gewidmeten Studie mit dem Titel Den pågående skapelsen (Die fortlaufende Schöpfung).
Die Wohnung am Bergsundsstrand 23, ein Zimmer mit Schlafnische, wurde ihre Heimstatt im neuen Land. Auf den wenigen Quadratmetern lebte anfangs auch ihre Mutter bis zu ihrem Tod in den frühen fünfziger Jahren. Die Möblierung war sparsam. Ein einfaches Bett. Ein Tisch mit Schreibmaschine. Ein kleines Bücherregal mit schwedischen Werken, fast ausschließlich Lyrik. Ein größeres Regal mit Büchern auf Deutsch, auch meist Lyrik. Eine geradlinige Sitzgruppe mit dunkelblauen Bezügen. Einige Gemälde, kleine Bilder, die an griechische Ikonen aus dem achtzehnten Jahrhundert erinnern, und eine gerahmte Ansichtskarte des heiligen Franziskus. 
Auch einige kleinere persönliche Besitztümer. Wer eine der Schubladen in den Regalen aufzieht, findet eine Schachtel mit ihren Visitenkarten oder eine Brieftasche mit Auszahlungsformularen einer Bank. In einer Ecke steht eine schwarze Handtasche. Auf einem rosa Teller liegt eine bescheidene Sammlung von Steinen und Schneckenhäusern. Neben ihrem Bett ein Album mit Lesezeichen, von einem Mädchen säuberlich eingeklebt, aufbewahrt von einer Frau. In einem Briefumschlag liegen noch ein paar Lesezeichen. Sie hatten wohl im Album keinen Platz mehr gefunden. Und noch ein Souvenir: ein kitschiges Reliefbild eines Gutshofes in Värmland, Mårbacka in Sunne.
Schon bei ihrer Ankunft in Schweden war Nelly Sachs ein Mensch der Literatur gewesen, weniger der Legenden und Erzählungen wegen, jenes Buches, das sie 1921 veröffentlicht hatte, sondern wegen eines Briefwechsels, den sie schon als Teenager begonnen hatte. Ihre Brieffreundin war Selma Lagerlöf gewesen, Nobelpreisträgerin für Literatur des Jahres 1909 und Besitzerin des Gutshofes Mårbacka. Nelly Sachs, im Jahr 1891 geboren, hatte an Selma Lagerlöf, Jahrgang 1858, geschrieben, nachdem sie Gösta Berling gelesen und sich dafür begeistert hatte. Die Korrespondenz wurde beständig und bildete nun eine lebensrettende Verbindung: Es war Selma Lagerlöf zu verdanken, dass ihre Brieffreundin nach Schweden kommen konnte. Die Nobelpreisträgerin hatte sich deswegen an Prinz Eugen, ein Mitglied des Königshauses gewandt, einen herausragenden Maler, der zu einer lose agierenden anti-nationalsozialistischen Gruppe gehörte, dem sogenannten Dienstags - Club . Als Selma Lagerlöf ihn darum bat, veranlasste Prinz Eugen für Nelly Sachs und ihre Mutter eine »königliche Einladung« nach Schweden. In der neuen Heimat wurde Nelly Sachs zur Dichterin. Sie schrieb in ihrer Muttersprache und gab 1947 ihre erste Gedichtsammlung im ostdeutschen Aufbau-Verlag heraus: In den Wohnungen des Todes. In einer Vignette auf dem Vorsatzblatt sind Schornsteine der Krematorienöfen abgebildet, in denen die Leichen von Juden verbrannt wurden, die man zuvor ins Gas geschickt hatte. Das einleitende Gedicht, oft nachgedruckt und rezitiert, handelt von diesen Schornsteinen.

O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft —
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub —
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war —
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod —

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

Nelly Sachs gehörte zu denen, die vor der Vernichtung gerettet worden waren, und dieser Umstand war Impuls und Gegenstand ihrer Dichtung. Man könnte sagen, dass sie dem Holocaust entrann, aber nicht, dass sie ihm entkam. Auch dem Wahn entkam sie nicht, und es war ein Wahn der Geschichte. Zu Beginn der sechziger Jahre wurde sie über längere Perioden hinweg in der psychiatrischen Klinik Beckomberga wegen eines lebensbedrohlichen Verfolgungswahns behandelt. In einem Brief an Paul Celan schrieb sie am 25. Juli 1960: »Eine Nazi- Spiritist-Liga jagt mich so schrecklich raffiniert mit Radiotelegraph, sie wissen alles, wohin ich den Fuß setzte. Versuchten mit Nervengas als ich reiste. Schon seit Jahren heimlich in meinem Haus, hören durch Mikrophon durch Wände.« 
In einem Gespräch mit dem schwedischen Literaturwissenschaftler Anders Olsson berichtete Inge Waern, eine Freundin von Nelly Sachs, von deren Lebensstimmung im Jahr 1960: »In diesem Sommer wohnte Nelly einige Zeit bei mir in meiner Drei-Zimmer- Wohnung in Gärdet. Die Vorhänge waren heruntergezogen, und das Geräuschniveau war so niedrig wie möglich, um Nelly nicht zu stören. Sie teilte sich mit, indem sie auf Zettel schrieb, aus Angst, abgehört zu werden. Sie fühlte sich von den Nazis verfolgt, die Abhörapparate in den Wänden installiert hatten. Ich konnte die Wohnung kaum verlassen, um Lebensmittel einzukaufen.«
Im Jahr darauf schien das Befinden besser zu sein, aber das bedrohliche Gefühl blieb. In einem Brief an den schwedischen Lyriker Gunnar Ekelöf vom 18. Oktober 1961 schreibt sie: »Lieber Gunnar, nun bin ich vier Wochen in meiner Wohnung gewesen — herrlich war es, die Freiheit zu genießen, überallhin zu gehen, ohne Begleitung, und schlafen zu dürfen — vor ein paar Tagen hat es wieder angefangen, doch ich will den Mut nicht verlieren, es gibt auch gute Kräfte, die mich schützen, doch diese unsichtbare Verfolgung mit der perfekten Radiotechnik ist schlimmer.«

Inge Waern — Tochter eines schwedischen Vaters und einer deutsch-jüdischen Mutter, geboren in Stockholm, doch aufgewachsen in Berlin, bei Max Reinhardt zur Schauspielerin ausgebildet, später mit dem schwedischen Theaterregisseur Sandro Malmquist verheiratet — war eine Freundin, mit der sich Nelly Sachs traf. Darüber hinaus waren die schützenden Kräfte vor allem Brieffreunde, wie Selma Lagerlöf, Paul Celan und Gunnar Ekelöf. Selma Lagerlöf war Nelly Sachs nie begegnet, obwohl sie über Jahrzehnte hinweg Briefe gewechselt hatten. Als das Flugzeug aus Berlin in jenem Tag im Mai 1940 in Stockholm landete, war Selma Lagerlöf gerade gestorben. Der Briefwechsel mit Gunnar Ekelöf begann 1959. Und obwohl er nicht weit von Stockholm wohnte, trafen sie sich nur ein Mal — am Ostersamstag des Jahres 1962, als beide zu einem privaten Fest geladen waren, das für Hans Magnus Enzensberger ausgerichtet wurde, der in diesen Tagen Stockholm besuchte. Mit Paul Celan stand Nelly Sachs seit 1954 in brieflichem Kontakt. Sie trafen einander zum ersten Mal in Zürich, im Mai 1960, dann noch einige Male. Sie besuchte ihn in Paris, er sie in Stockholm. Zur Erinnerung an die erste Begegnung widmete Paul Celan ihr das Gedicht Zürich. Zum Storchen.
In der Ein-Zimmer-Wohnung mit 41 m2 am Bergsundsstrand 23 wohnte Nelly Sachs dreißig Jahre, bis sie am 12. Mai 1970 an Krebs starb. Hier schrieb sie ihre Gedichte, Schauspiele und Briefe. Das Gefühl einer von Angst durchsetzten Einsamkeit drang mir in jede Pore, als ich an einem bitterkalten Tag im Januar 2010 eine Weile in dieser Wohnung zubrachte, die in der Königlichen Bibliothek in Stockholm verwahrt wird. Ich flüsterte, als ich mit der Bibliothekarin sprach, die mich führte. Sie richtete meine Aufmerksamkeit auf die Umgebung: »Es ist merkwürdig. Wenn man hier drinnen ist, kann man nicht laut sprechen.«

Die Menschen, die Nelly Sachs zu Lebzeiten besuchten, sind leicht gezählt. Ein Besucher, der sich gut erinnern kann, ist Ragnar Thoursie, ein ungewöhnlicher Mann. Als er in den vierziger Jahren als Lyriker debütierte, zog er die Aufmerksamkeit der schwedischen Kritik und des Publikums auf sich. Dann gab er die Dichtkunst auf, um als Angestellter im öffentlichen Dienst dem Sozialstaat in dessen ständig wachsender Bürokratie zu dienen, für lange Zeit, aus politischer Überzeugung. Im Alter kehrte Ragnar Thoursie zur Literatur zurück, hatte wieder Erfolg als Lyriker und mit Elefantsjukan (Die Elefantenkrankheit, 2001). Die experimentell verfasste Autobiografie zeichnet ein Porträt des Dichters als Bürovorsteher und rechnet mit einer Sozialdemokratie ab, die ihre Ideale verraten hatte. In der Lebensgeschichte findet sich, ohne dass ein Grund dafür angegeben wird, auch eine Augenblicksaufnahme vom Bergsundsstrand.
Ragnar Thoursie erzählt, wie er im Anschluss an eine Dienstreise nach Deutschland einige Exemplare von In den Wohnungen de s Tode s von Ost-Berlin nach Schweden brachte, ein Buch, »dem es noch nicht gelungen war, die Grenzen zu überwinden und Schweden zu erreichen«. Der Komponist Moses Pergament hatte Ragnar Thoursie um diesen Gefallen gebeten. Die beiden kannten einander durch ihre Tätigkeit für die Zeitung Aftontidningen (Das sind schwedische Namen, die deutsche Leser nicht kennen werden. Doch sie haben alle eine Bedeutung und trugen dazu bei, dass Nelly Sachs tatsächlich Nelly Sachs werden konnte. Vor allem Moses Pergament hatte sich sehr darum bemüht, sie im schwedischen Kulturbetrieb bekannt zu machen. Er hatte eine ganze Reihe ihrer Gedichte übersetzt und eine noch nicht aufgeführte Oper auf der Grundlage von Nelly Sachs’ Schauspiel Eli geschrieben. Während der Gespräche darüber, was mit dieser Oper geschehen solle, überwarfen sich Moses Pergament und Nelly Sachs, aber das ist eine andere Geschichte). So kam es, dass sich Ragnar Thoursie bei Nelly Sachs einfand, mit ein paar Büchern, die in grobes Zeitungspapier eingeschlagen waren. Er erinnert sich:
»Sie war so allein, dass die Zeit in ihrer kleinen Wohnung stillzustehen schien, und wirkte so zerbrechlich, dass man sich fragte, ob sie noch lebte, wenn der nächste Besucher kam. Doch ihre innere Uhr war keineswegs stehengeblieben, sie bewegte sich mit seltsamer Sicherheit: Neue Gedichte schlugen immer wieder aufs Neue aus wie frische weiße Blumen unter ihren vorzeitig gealterten Händen, zeitgenössische schwedische Lyrik verwandelte sich in wunderbare Übersetzungen, und es entwickelte sich ein stetig wachsender Briefwechsel mit Schriftstellern und Kritikern […] Auf diesen ersten Besuch folgten viele gemeinsame Jahre mit dieser an Freundschaften so reichen Dame.«
Nelly Sachs fand als Schriftstellerin nicht sofort Anerkennung. Ihre vier ersten Gedichtbände erschienen in vier verschiedenen Verlagen. Erst als der Suhrkamp Verlag sich ihres Werks annahm, stabilisierten sich die Verhältnisse. Eine neue Generation von Intellektuellen und Kritikern, zu denen eben jener Hans Magnus Enzensberger gehörte, den sie am Ostersamstag 1962 kennengelernt hatte, interessierte sich für ihre Dichtkunst, deren Bedeutung und sprachliche Meisterschaft. Damals konnte sie sich, so knapp es eben ging, als Übersetzerin versorgen. Schwedische Dichter wie Gunnar Ekelöf, Johannes Edfelt und Erik Lindegren sahen ihre eigenen Gedichte ins Deutsche übertragen. Sie revanchierten sich, indem sie Nelly Sachs’ Gedichte ins Schwedische übersetzten und trugen auf diese Weise dazu bei, sie in ihrem neuen Heimatland bekannt und anerkannt werden zu lassen. Im Jahr 1952 hatte Nelly Sachs die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen.
Mehr als jeder andere schwedische Literaturkritiker setzte sich Bengt Holmqvist für Nelly Sachs ein. Er war ein gelehrter und umtriebiger Vertreter des New Criticism, der zu jener Zeit angesagten Form von Literaturkritik. Über Jahrzehnte beherrschte Holmqvist als Rezensent von Dagens Nyheter die schwedische Kritik. Und als Nelly Sachs ihr Testament aufsetzte, bestimmte sie ihn zusammen mit seiner Frau, der Übersetzerin Margaretha Holmqvist, zu Erben ihres Hausstandes, den diese der Königlichen Bibliothek übereigneten. In einem großen Essay mit dem Titel Längtanssprå k (Die Sprache der Sehnsucht ) richtete Bengt Holmqvist die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen dem Milieu, in dem die Dichterin aufgewachsen war — jener großbürgerlichen, im wilhelminischen Stil gehaltenen Wohnung in Tiergarten —, und dem kargen Zimmer am Bergsundsstrand mit seiner von Angst verfolgten Bewohnerin. Darüber hinaus beschäftigte sich Holmqvist hauptsächlich mit dem, was die ängstliche Dame in ihrem kargen Zimmer tat: lesen — Jakob Böhme, die Mystiker der jüdischen Tradition.
Als sie im Jahr 1960 und in den folgenden Jahren zwischen ihrer Wohnung und der psychiatrischen Klinik Beckomberga pendelte, war Nelly Sachs’ lyrischer Stil ein anderer als jener des Jahres 1947. In der frühen Lyrik hatte sie starke Bilder gesucht und Symbole, die ihre Visionen und Gefühle deutlich vermittelten. Sie bevorzugte erzählende Elemente und einen leicht deklamierenden Ton. Danach wurden die Gedichte immer sparsamer, wortkarg und gleichsam verdorrt. Ihre späten Gedichte erscheinen wie die Fragmente eines verschwundenen Ganzen, wie die Reste einer Nachricht, die ihren Adressaten nie erreichen wird. Das oben zitierte erste Gedicht aus I n d e n Wo h n u n g e n des T o d e s ist vergleichbar mit einem verwandten Gedicht aus Noch feiert der Tod das Leben (1961). Es heißt Szene aus dem Spiel ›Nachwache ‹ :

Die Augen zu
und dann —
Die Wunde geht auf
und dann —
Man angelt mit Blitzen
[ ]
die Geheimnisse des Blutes
[ ]
für die Fische
Alles im Grab der Luft
Opfer
Henker
Finger
Finger

Das Kind malt im Sarg mit Staub
den Nabel der Welt —
und im Geheg der Zähne hält
der Henker den letzten Fluch —
Was nun?

Einer geläufigen Vorstellung zufolge ist Nelly Sachs’ späte Lyrik von größerer Suggestivität als die frühe. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Wertung zutrifft. Ganz offenbar entspricht ihr später Stil weitaus mehr den Idealvorstellungen der modernistischen schwedischen Lyriker, die ihre stärksten Befürworter waren. Diese Wandlung, die auf innere Beweggründe zurückgeführt werden kann, ließe sich vielleicht auch als eine Anpassung an die Umgebung beschreiben. 
Mitte der sechziger Jahre hatte Nelly Sachs all den Erfolg, den ein Dichter überhaupt nur erreichen kann. Im Jahr 1965 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, im Jahr darauf mit dem Nobelpreis für Literatur (zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Agnon). In ihrer Dankesrede auf dem Bankett zu Ehren der Nobelpreisträger huldigte Nelly Sachs ihren Rettern: Selma Lagerlöf und Prinz Eugen. Sie sprach auch von der Erfahrung, in ein Land zu kommen, dessen Sprache man nicht spricht und in dem man nicht einen Menschen kennt, in dem sie jedoch die »Luft der Freiheit« atmen konnte. In Interviews, die sie anlässlich des Nobelpreises gab, beschrieb Nelly Sachs sich selbst als »Vertreterin für die Tragödie des jüdischen Volkes«. Einfühlung und Identifikation waren ihre Mittel, mit denen sie den Erfahrungen der Juden Ausdruck zu
verleihen suchte, sowohl in der Diaspora als auch während des Holocausts.
Für die individuelle Lebensgeschichte von Nelly Sachs ist die Zusammengehörigkeit mit dem Judentum von großer Bedeutung, was insofern bemerkenswert ist, als sie ja zu dieser Gemeinsamkeit gezwungen wurde. Sie war in einer säkularisierten Familie aufgewachsen, ohne Verbindung zum jüdischen Glauben. Erst der Nationalsozialismus ließ sie erkennen, welche Bande sie mit diesem geschichtsträchtigen Kollektiv verknüpften. Ein späterer Nobelpreisträger, Imre Kertész, schilderte ein ähnliches Verhältnis aus entgegengesetzter Perspektive, und auch bei ihm spielte die persönliche Erfahrung eine große Rolle. 
Nelly Sachs gehört heute zwei Ländern an. Auf der Internetseite der Nobel-Stiftung ist von »Nelly Sachs, Sweden« die Rede. Schlägt man die Encyclopedia Britannica auf, wird sie »German writer« genannt. Mit solchen Zuschreibungen sollte man hier vorsichtig sein und die Geschichte so erzählen, dass auf der einen Seite die deutsche Sprache und auf der anderen eine Wohnung am Bergsundsstrand in Stockholm zu erkennen ist. Und außerdem die Gemeinschaft mit dem jüdischen Volk und der Schrecken angesichts der Kräfte, die diese Gemeinschaft zerstören und dieses Volk vernichten wollten.

Die Übersetzung aus dem Schwedischen stammt von Thomas Steinfeld.

Über den Autor

Peter Luthersson ist Verleger und Geschäftsführer des schwedischen Buchverlages Atlantis. Er arbeitete zunächst als Universitätslektor und Studienrektor, später als Dozent am Literaturwissenschaftlichen Institut der Universität Lund. Bis 2001 war Luthersson Universitätslektor und Bereichspräfekt für Kunst, Kultur und Kommunikation an der Universität Malmö. Luthersson schreibt für nationale und internationale Zeitungen wie das schwedische Hufvudstadsbladet und die Süddeutsche Zeitung.

Flucht und Verwandlung — Nelly Sachs, Schriftstellerin Berlin/Stockholm

Die Wanderausstellung erschließt anhand von bislang unveröffentlichtem Material das Leben und Werk der Künstlerin. Initiiert, kuratiert und gestaltet wurde die Ausstellung vom Schriftsteller Aris Fioretos und dem Gestaltungsbüro gewerk design. Kooperationspartner sind das Jüdische Museum Berlin, das Jüdische Theater Stockholm, die Königliche Bibliothek Stockholm, die Schwedische Botschaft und der Suhrkamp Verlag.

Termine: 
Jüdisches Museum Berlin: 25.3.–27.6.2010 

Jüdisches Theater Stockholm: 
2.10.  – 1.12.2010 

Strauhof Zürich: 15.12.2010–27.2.2011 

Jüdisches Museum Frankfurt am Main: 7.3.2011 – August 2011

Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund: 15.10.–18.12.2011 (anlässlich der 50. Verleihung des Nelly-Sachs-Preises)

 

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