Die gläserne Wand

Von Mircea Cartarescu

Meine Generation kann ihren Eltern nicht mehr selbstverständlich gegenübertreten. Nicht mit kindlicher Liebe, auch nicht dezent oder respektvoll. Da ist eine falsche Stimmung zwischen uns, eine schmerzende gläserne Wand, auch wenn wir beschlossen haben, den Schein zu wahren, uns sonntags und an Feiertagen zu besuchen, zu lächeln und einander zu umarmen. Gegenüber denjenigen, die ihnen das Leben geschenkt haben, halten die meisten von uns ihre Verpflichtungen ein. Wir helfen ihnen und beschützen sie vor den schweren Zeiten, in denen wir leben, doch von Liebe kann keine Rede mehr sein. In meinem Land leben die Eltern und ihre Kinder heute wie Paare, die nur noch weitermachen, weil sie sich wünschen, gesellschaftlich respektiert zu werden - die schmerzhafteste aller möglichen Beziehungen. Und dabei geht es nicht um den ewigen Konflikt zwischen den Generationen und die Verständnisschwierigkeiten. Auch die gibt es zur Genüge.

Nicht einmal untereinander sprachen meine Eltern offen über sexuelle Probleme, und ich vermute, sie haben sich stets schuldig gefühlt, wenn sie miteinander schliefen, als wären die Freuden des Körpers etwas Schmutziges oder gar eine Todsünde. In der Wohnung unterhielten sie sich stets im Flüsterton, damit die Nachbarn sie durch die zugegebenermaßen papierdünnen Wände nicht hören und bloß niemand schlecht über sie reden könnte. Als ich ein Halbstarker war, weder besonders exzentrisch noch rebellisch, schickten sie mich einmal in der Woche zum Haare schneiden. Als wären die Fäden, die länger als ihre Finger waren, mit denen sie durch meine Haare fuhren, die Zündschnüre zum Sprengstoff an den Grundfesten der Gesellschaft. All die Vorwürfe, die Kafka in seinem Brief äußert, hätten auch wir unseren Vätern machen können. Doch nicht davon ist hier die Rede.

Es war nicht die peinliche, kleinbürgerliche Seite ihres Alltags, nicht der Geiz, der jeden noch so geringen Geldbetrag zum Drama werden ließ, und es waren auch nicht die idealistischen, wirklichkeitsfernen Klischees in ihren Reden, die dazu führten, dass sich in Rumänien nach der Revolution von 1989 die Söhne von ihren Vätern trennten. Es war vielmehr das erdrückende Gefühl, sie seien, als man ihren eigenen Kindern zynisch die Jugend raubte, Komplizen gewesen. Wenn sie sich freiwillig und sogar mit einigem Enthusiasmus selbst hatten zerstören lassen, dann hatten sie auch die unschuldige Generation nach ihnen in diese Zerstörung geführt. Dass sie eine Gefängniswelt errichtet hatten, in der sie gleichzeitig Geiseln, Opfer und Henker waren. Dass sie, indoktriniert bis zur totalen ideologischen Blindheit, versucht haben, auch ihre Kinder im Geiste ihrer eigenen Verblendung zu erziehen. Dass sie ihnen den Freiheitsinstinkt geraubt hatten, den Mut zur freien Rede, das kritische Denken und nicht zuletzt auch Gott. Ich weiß nicht, wie die Kinder der Nazis in Deutschland und Österreich mit ihren Eltern weitergelebt haben, auch weiß ich nicht, wie die Kinder skrupelloser Geschäftemacher, die Kinder der Mafiosi und Schurken aller Art mit ihren Eltern zusammenleben, aber im Fall meiner Generation, die mehr als die Hälfte ihres Lebens in einem Staat gelebt hat, der den Versuch unternahm, sie zu zerstören, und aus dem man nicht fliehen konnte, ist das Zusammenleben sehr schwer, es ist zu einer der schwersten Lasten geworden, die unsere Seelen zu tragen haben.

Unsere Eltern bilden heute die Masse der Rentner, denen es in Rumänien am schlechtesten geht. Ohne die Hilfe ihrer Kinder könnten sie nicht überleben. Gleichzeitig aber bilden sie die treue Wählerschaft der politisch reaktionären, der ganz und gar die Vergangenheit verklärenden Parteien, deren Vertreter zum größten Teil Mitglieder der ehemals kommunistischen Führung und der Geheimpolizei, der gefürchteten "Securitate", waren. Hier könnte man von einer Art Stockholm-Syndrom sprechen: Die früheren Opfer, die ehemaligen Insassen der Konzentrationslager sind weiterhin fasziniert von ihren Bewachern. Als tausende Bergarbeiter Bukarest mehrfach überfielen, die staatlichen Institutionen in Brand steckten und unschuldige Menschen auf der Straße wild verprügelten, haben unsere Eltern ihnen applaudiert und sie angespornt, als wären sie Helden. Unsere Eltern, ansonsten sanftmütige und anständige Menschen, sind diejenigen, die heute einen beängstigenden Hassdiskurs pflegen und gegen jeden richten, der anders ist als sie und ihre politischen Ansichten nicht teilt. Und damit gerät alles zu einer unerträglichen Schizophrenie: Sie sind darauf angewiesen, von ihren Söhnen das Lebensnotwendige zu bekommen, obwohl sie deren Öffnung zur freien Welt und zum liberalen Gedankengut hassen, während die Söhne sie wöchentlich in ihren Wohnungen besuchen, in denen sie allein und von der Welt abgewandt vor sich hin leben. Dabei stellen sie sich taub bei den ressentimentgeladenen Tiraden über alles, was auf dem Fernsehbildschirm geschieht - das Einzige, was sie noch am Leben erhält, und gleichzeitig das, was sie weiter von der Realität wegrückt. In beinahe allen Familien ist man zu grotesken Kompromissen gelangt, hat man ein regelrechtes Protokoll entwickelt, um zu retten, was noch zu retten ist. Über Politik wird nicht mehr gesprochen, man berücksichtigt sämtliche Empfindlichkeiten, die tatsächlichen ebenso wie die möglichen, und von den Erinnerungen werden nur diejenigen aufgerufen, die ideologisch unverfänglich sind Gewisse Wörter sind verboten, als enthielten sie letale Verdünnungsmittel, die auch die engsten Beziehungen zwischen den Menschen zersetzen könnten. Immer noch stößt du beim Schnapstrinken mit deinem Vater an, aber ihr schaut euch nicht mehr in die Augen. Beim Abschied umarmst du immer noch deine Mutter, aber du empfindest keine Nähe mehr, als wäre zwischen dich und sie, die ihr einstmals ein Leib gewesen seid, eine zweite Geburt getreten, eine neue, schmerzliche und nicht hinnehmbare Trennung.

Du weißt, dass du es nicht tun solltest, dass es unnütz und destruktiv ist, aber manchmal lässt es sich nicht vermeiden, und du betrachtest in der Tiefe die Wurzeln des gegenseitigen Misstrauens, der Falschheiten zwischen dir und ihnen, vor allem zwischen dir und Ihm, der dir den warmen Ort auf der Welt bereitet hat. Es lässt sich nicht vermeiden, du musst dich bei der Erinnerung daran, wie sie dir die Feiertage gestohlen haben, aufregen; Ostern und Weihnachten, wie sie selbst den Weihnachtsmann in eine abstoßend lächerliche Karikatur verwandelt haben. Wie man dir hunderte Male wiederholt hat, es gäbe keinen Gott, die Pfarrer seien Parasiten. Und wie man dir mit den Propagandabroschüren für Kinder die "Lustige Bibel" unter die Nase gehalten hat: Es war eine stumpfsinnige Blasphemie und die einzige Bibel, die ich in meiner Kindheit zu sehen bekam. Du kannst die morbide Angst vor der Securitate nicht vergessen, die sie dir in deiner Jugend eingepflanzt haben: "Sag' bloß nie etwas, das sich nicht gehört, kommentiere niemals die Politik der Partei, halte den Mund, wenn jemand eine politische Diskussion beginnt." Auch heute noch bedrückt es dich, dass sie, obwohl es ihnen schlecht ging, jahrelang die Raten für ihre Möbel abzahlten, Abend für Abend mit dem Kopierstift sämtliche Tagesausgaben notierten und zusammenrechneten, in ihrem ganzen Leben nirgends hingereist sind und nie Urlaub machten oder Feiertage hatten, weiterhin die kommunistische Welt lobten. Eine Welt, in der sie die Augen aufgeschlagen hatten, sie, Bauernsöhne, Blätter weißen Papiers, auf das die Aktivisten nach Gutdünken alles schreiben konnten, was sie wollten. In den schrecklichen Jahren des rumänischen Kommunismus verausgabten sie sich beim Schlangestehen, sie ertrugen die sibirische Kälte in ihren ungeheizten Apartments, aber sie schoben alles auf den Wahnsinn von Ceausescu und ignorierten den ideologischen Bankrott, der das Land verwüstete. Nein, der Kommunismus blieb ihnen heilig, und er ist es für sie bis heute geblieben. Die goldene Zukunft der Menschheit. Was spielte es da für eine Rolle, wenn sie und uns, ihre Söhne, eine Zukunft im Dreck erwartete.

Nach der Revolution bin ich für meinen Vater zu einem Fremden, ja sogar zum Feind geworden. Dass ich im Alter von 34 Jahren zum ersten Mal ins Ausland reisen konnte, hat ihn überzeugt: Ich musste ein Agent des korrupten Westens sein. Eine Pariser Metro-Fahrkarte, die er in meiner Tasche fand, hat ihn in seiner Überzeugung bestärkt, ich sei ein Vaterlandsverräter. Vor allem, weil ich die Liberalen und nicht die Front zur Nationalen Rettung wählte, wie sich die ehemalige kommunistische Partei nun nannte. Nach dieser Folge von Konflikten haben wir uns monatelang nicht mehr gesehen. Ich bin überzeugt, dass er ebenso darunter gelitten hat wie ich selbst. Vater, der Mann mit den sanftmütigsten Augen, die ein Mensch haben kann, dem ich vielleicht mein introvertiertes Wesen verdanke, ein Mensch, der niemandem je etwas Böses angetan hat (zum Glück war er bloß Journalist bei einer bescheidenen Landwirtschaftszeitung und ist damit vor der großen Schuldverstrickung verschont geblieben), wurde vom Leben, von der Welt, der Wirklichkeit und letztlich auch von der guten Seite in sich selbst durch die eisige Klinge einer kriminellen Ideologie getrennt. Die gleiche Klinge schnitt auch in lebendiges Fleisch und trennte ihn letztlich von seinem Sohn. Welch ein schreckliches Schicksal hat seine Generation überschattet, eine Generation, die eine Folge von Diktaturen, faschistische und kommunistische, erlebt hat, und die dann, als sie endlich ins Offene gelangte, in die freie Welt, zernagt wird von nostalgischer Sehnsucht ausgerechnet nach dem, was sie für immer verstümmelt hat.

Mittlerweile sind wir zu einem Modus Vivendi gelangt, der möglicherweise noch schlimmer ist, als der offene Streit von früher. Wir tun so, als gäbe es die gläserne Wand nicht. Mehr noch, als habe es sie nie gegeben. Manchmal denke ich, es wäre besser, wir würden uns gar nicht mehr sehen, statt die Wangen an die glatte und kalte Fläche zu legen, wenn wir uns näherkommen wollen, und zuzuschauen, wie die Tränen daran hinabfließen. Nun spüre ich das ganze Drama des Georg Bendemann, der, bevor er sich ins schwarze Wasser des Flusses wirft, es immerhin noch schafft, leise zu rufen: "Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt." Ich spüre auch die unmenschliche Kälte des Wassers, das ihn verschluckt.

Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner

Über den Autor

Mircea Cartarescu, 1956 in Bukarest geboren, debütierte Ende der siebziger Jahre als Lyriker und wurde in seinem Land zur Leitfigur einer ganzen Dichtergeneration. Sein Prosaband Nostalgia (1993) machte den Autor auch international bekannt. Die Geschichten aus dem heruntergekommenen Bukarest der siebziger Jahre, voller morbider Phantastik und erlesener Manierismen, erscheinen diesen Herbst in einer Neuausgabe bei Suhrkamp. Für seine mehr als tausend Seiten umfassende Romantrilogie Orbitor, ein barockes Epos über das sozialistische Rumänien, erhielt Cartarescu im Mai dieses Jahres den rumänischen Staatspreis für Literatur. Der erste Teil der Trilogie ist unter dem Titel Die Wissenden (2007) im Zsolnay Verlag erschienen. Cartarescus Erzählungsband Warum wir die Frauen lieben (Suhrkamp 2008) wurde in Rumänien ein phänomenaler Bestseller.

Förderschwerpunkt Mittel- und Osteuropa

Nach Büro Kopernikus deutsch-polnische Kulturprojekte (2004–2006) und Bipolar deutsch-ungarische Kulturprojekte (2005–2007) setzt die Stiftung mit dem Programm Zipp – deutsch-tschechische Kulturprojekte in den Jahren 2007–2009 ihre Reihe bilateraler Kulturprogramme mit den Nachbarländern aus Mittel- und Osteuropa fort. Die bilateralen Projekte umfassen alle Sparten von Theater und Tanz über Musik bis zu Film und Medienkunst und widmen sich stets aktuellen europäischen Themen wie die Erinnerung an den Totalitarismus oder Fragen der Migration.

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