Zu Beginn seiner im Jahre 1524 verfassten und seinem Landsmann Francesco Maria Sforza, dem Herzog von Mailand, gewidmeten »Siebten Dekade« zog Pietro Martire d'Anghiera eine »kurze historische Bilanz« der zurückliegenden Jahrzehnte europäischer Expansion. Vor allem betonte er dabei die außergewöhnliche Fruchtbarkeit und den Reichtum der dem Ozean entstiegenen Weltgegenden; denn Jahr für Jahr entdecke man »neue Länder, neue Völker und einen Berg an unermesslichen Reichtümern«.
Was hier der in der spanischsprachigen Welt unter dem Namen Pedro Mártir de Anglería berühmt gewordene erste Geschichtsschreiber der Neuen Welt zusammenfasst, ist die europäische Vision eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf dem Schoße des Meeres aus der Perspektive der Alten Welt immer neue Inseln und Festländer mit ihren fremdartigen Bewohnern zu entsteigen schienen. »Jeder Tag«, so schrieb er voller Freude an anderer Stelle, »bringt uns neue Wunder aus jener Neuen Welt, von jenen Antipoden des Westens, die ein gewisser Genuese [Christophorus quidam, vir Ligur] aufgefunden hat«. Das Gefühl einer ungeheuren Beschleunigung in einer neuen Zeit ist jeder Zeile des italienischen Chronisten, der all seine Informationen direkt an den jeweiligen Papst nach Rom übermittelte, anzumerken.
Nicht nur für Pietro Martire d'Anghiera, der nahezu alle entscheidenden Protagonisten der europäischen Entdeckungsfahrten persönlich kannte und als getreuer Geschichtsschreiber von Beginn an alles festhielt, was ihm seit 1493, also der Rückkehr des Kolumbus, am spanischen Hof oder im Consejo de Indias zu Ohren kam, standen die neu entdeckten Länder der Tropen im Zeichen einer wunderbaren Fruchtbarkeit und eines unermesslichen Reichtums. All dies blieb im kollektiven Langzeitgedächtnis Europas haften: Bis ins 19. Jahrhundert glaubte man, Gold und Edelsteine nur in tropisch heißen Ländern finden zu können; und noch im 20. Jahrhundert gab es selbst unter den Forschern viele, die von der unerschöpflichen Fruchtbarkeit tropischer Landwirtschaft überzeugt waren. Die Tropen - also die bildhaft-rhetorischen Figuren - der Tropen verbreiteten sich von Europa aus weltweit mit Langzeitwirkung.
Nicht erst bei der Nachricht von Magellans bzw. Elcanos Umsegelung der Welt, sondern schon zu Beginn dessen, was wir heute als die erste Phase beschleunigter Globalisierung bezeichnen dürfen, wurde Martire d'Anghiera klar, dass die Kunde von der Existenz zuvor im Abendland unbekannter Völker zwischen den Wendekreisen den Horizont des nicht nur geografischen Wissens der Antike ein für allemal gesprengt hatte. Die Vorstellung von der Unbewohnbarkeit der heißen Erdregionen tauchte zwar noch eine Zeit lang immer wieder auf, wich im neuen kartografischen Bild der Erde aber rasch den erwähnten Tropen, denen sich seit Christoph Kolumbus' »Bordbuch« (1492/3) Bilder des Irdischen Paradieses und seit Thomas Morus' »Utopia« (1516) Projektionen anderer Ordnungen gesellschaftlichen Lebens beigesellten. Längst wirkten die Tropen auf die Außertropen zurück.
Das Eigene im Anderen
Bei Martire d'Anghiera lässt sich dabei genau beobachten, wie das Bild der Tropen schon früh auch negative, ja bedrohliche Züge entfaltet. Verantwortlich für die Tropenkrankheiten, unter denen die Europäer litten, seien gewiss die zum Teil so ungewohnten Lebensbedingungen und Lebensmittel; ausschlaggebend aber sei vor allem das »Klima, da Hispaniola und Jamaica weit südlich des Trópico de Cáncer, des Wendekreises des Krebses« und damit in Gegenden lägen, »welche die Philosophen auf Grund der Sonnenglut für unbewohnbar hielten«. Doch noch etwas anderes befalle all jene, die um des Reichtums willen nach den Tropen strebten: Weit von allen Autoritäten und Geboten entfernt, bewirke ihre »blinde Gier nach Gold«, dass »jene, die zahmer als Lämmer« von Europa aufbrächen, sich gleich »nach ihrer Ankunft in wilde Wölfe verwandelten«. Die Tropen treiben das Andere im Eigenen hervor. Diese wundersamen Metamorphosen belegen, wie früh die Tropen im europäischen Bildarchiv zu einer Kippfigur wurden: Der Fülle des Reichtums und der Fruchtbarkeit entspricht die Fülle an Krankheiten und Gefahren, welche die Körper wie die Seelen derer befallen, die sich nach den Tropen begeben. Die Tropen sind Hölle und Paradies zugleich.
Innerhalb weniger Jahre waren die frühneuzeitlichen Tropen an die Stelle der gewiss in vielen Mythen fortwirkenden antiken Vorstellungen tropischer »anoekumene« getreten. Die »neuen« Tropen sind Bewegungsfiguren, die - aufs Engste mit der kartografischen Erfassung des Erdballs verbunden - klimatologische wie geologische, ökonomische wie landwirtschaftliche, epidemologische wie epistemologische, soziologische wie mythologische, philosophische wie literarische Aspekte auf dynamische Weise miteinander verquicken. Die Tropen werden zum Paradigma.
Wie sehr sich auch in der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung die historischen Kontexte gewandelt haben mögen und an die Stelle der iberischen Mächte längst Frankreich und England getreten sind: Jene Tropen, die aus europäischer Sicht die Tropen bestimmen, finden sich auch in den Schriften der europäischen Aufklärung. Vergeblich wehrten sich amerikanische Aufklärer wie Clavijero dagegen, in der Nachfolge Buffons von der europäischen Wissenschaft zum inferioren Anderen Europas abgestempelt zu werden. In der seit ihrer Erstausgabe von 1770 berühmt gewordenen Enzyklopädie der kolonialen Expansion Europas, Guillaume-Thomas Raynals »Histoire des deux Indes«, erscheinen Fülle und Fruchtbarkeit der Tropen ebenso wie ihre Bedrohlichkeit und Inferiorität. Dies sind Bilder, die wenige Jahre zuvor, in den ab 1768 in Berlin erschienenen »Recherches philosophiques sur les Américains« des Cornelius de Pauw, im Zeichen der Degenerationsthese eine geradezu apokalyptische Dimension angenommen hatten: Von den Tropen aus breiten sich Krankheiten wie die Syphilis über den gesamten Planeten aus. Gleichzeitig strebte die ökonomische Ausplünderung der Tropen einem neuen Höhepunkt zu, wobei sich Raynal noch immer jener Bilder bediente, die uns seit Beginn des 16. Jahrhunderts vertraut sind. Zweieinhalb Jahrhunderte nach Martire d'Anghiera heißt es in der »Histoire des deux Indes«, alle Europäer - gleichviel ob Spanier oder Portugiesen, Holländer, Engländer oder Franzosen - verwandelten sich in den Tropen nicht nur in Menschen, die »aller Missetaten fähig« seien, sondern in »domestizierte Tiger«, die in den Urwald zurückkehrten und von einem »Durst nach Blut« ergriffen würden, sobald sie ihrem »Durst nach Gold« nachgäben. Traurige Tropen, fürwahr.
Erneut werden die Tropen nicht nur zum Anderen Europas, sondern auch zum Ort, an dem das Andere im Eigenen des Europäers sich Bahn bricht und jener Domestizierung entflieht, die man als den Prozess der Zivilisation bezeichnen könnte. Die weiten Regionen auf beiden Seiten des Äquators, dessen Überschreiten seit der Frühzeit der Entdeckungsreisen und bis in unsere Tage auf europäischen Schiffen in ritualisierter und oft karnevalisierter, also just das Andere im Eigenen hervortreibender Form gefeiert wird, werden so zur Spielfläche eines Zerstörungsprozesses, der in der zweiten Beschleunigungsphase der Globalisierung keineswegs sein Ende fand. Die militärischen und ökonomischen Vorstöße der USA in die tropischen Archipele der Karibik und der Philippinen weisen am Ausgang des 19. Jahrhunderts auf einen neuen Protagonisten, der sich, wie der kubanische Dichter José Martí wohl als erster erkannte, in der dritten Phase - nun aus der Perspektive seines »Manifest Destiny« - alter kolonialer Tropen bediente.
Im Zeichen der Apokalypse
In seinem 1955 erschienenen Band »Tristes Tropiques«, der auf Brasilienaufenthalte zwischen 1934 und 1939 zurückgeht, ging der französische Mythenforscher Claude Lévi-Strauss daher nicht umsonst den rhetorischen Figuren der Tropen nach. Traurig werden diese Tropen in einem ästhetisch durchdachten Spiel von Spiegelungen entworfen, in dem die (rhetorische) Figur des europäischen Entdeckers in einem rousseauistisch eingefärbten Ethnologen und Tropenforscher reflektiert wird, der sich als letztes Glied einer langen Kette der Zerstörung zu begreifen beginnt. Die reiche Fülle der Tropen blitzt in ihrer Diversität an Völkern und Kulturen just in jenem Augenblick auf, in dem die von den Europäern ausgehende Destruktion ihr Werk zu vollenden scheint: Alles ist dem Untergang geweiht. Im Verschwinden der Tupi-Kawahib zeigt sich das Desaster eines europäischen Dursts nach Wissen, der nicht auf ein Wissen vom Zusammenleben mit dem Anderen gerichtet ist und dessen globales Triumphieren mit allen zu Gebote stehenden literarischen Mitteln als globales Scheitern vorgeführt wird. Denn längst sind auch die polynesischen Inseln »zubetoniert und in Flugzeugträger verwandelt« worden, während Asien und Afrika einer immer schneller um sich greifenden dégradation ausgesetzt werden: Nicht mehr die Karavellen, wohl aber die Flugzeuge skizzieren Kartographien, aus denen die Regenwälder und Urwälder dieses Planeten Stück für Stück verschwinden. Es liege in der Logik dieser »großen abendländischen Zivilisation«, dass nicht nur ihre Schöpfungen und Konstruktionen, sondern auch ihr Unrat und ihre Destruktionen das Gesicht der Welt entstellen. Die Tropen des Diskurses signalisieren planetarische Räume, die weniger im Zeichen der Utopie als der Apokalypse stehen.
Die Erzählerfigur in Lévi-Strauss' »Tristes Tropiques« zeigt auf, wie vor dem Hintergrund der Zerstörung der Tropen Amerikas, Asiens und Afrikas die Entwicklungen in den Amazonasgebieten nur aus der weltumspannenden Dimension der Tropen heraus verstanden werden können. Keineswegs ein neues Phänomen: Bereits im 16. Jahrhundert bauten die iberischen Mächte jene weltweiten Infrastrukturen auf, die Mexiko über den Hafen von Veracruz und die Karibik nicht nur transatlantisch mit Europa verbanden, sondern über den Hafen von Acapulco und die Philippinen transpazifisch mit dem Handel in Asien verknüpften. Es wird folglich Zeit, nicht nur im Bereich der Klimatologie die Tropen transtropisch zu sehen.
Bislang tauchten - um die Metaphorik Pietro Martire d'Anghieras zu verwenden - in sukzessiven Globalisierungsschüben aus dem Schoße des Meeres Inseln, Archipele und Kontinente auf, die eine Welt der Tropen konfigurierten, welche Europa nach seinen eigenen Bedürfnissen und Interessen umzugestalten suchte und als koloniale Ergänzungsräume konzipierte. Die ausschließliche Beleuchtung dieser einseitigen Orientierung an Europa aber verdeckt die Tatsache, dass sich zwischen diesen Inseln, Archipelen und Kontinenten längst vielfältige Beziehungen hergestellt haben, die auf der ökonomischen wie der sozialen, der kulturellen wie der politischen Ebene zukunftsweisende Phänomene hervorgebracht haben. Jenseits einer gewiss auch fortbestehenden Dialektik von Fülle und Zerstörung wurden die Tropen zu einem Raum, der sich nicht so sehr durch seine territorialen oder klimatischen Grenzen definiert, als vielmehr durch immer neue Bewegungsmuster, die dank ihrer ständigen Querungen und Kreuzungen diesen Bewegungs-Raum erst erzeugen.
Transareale Tropen
Das Beispiel der Karibik zeigt diese dynamische Generierung von Raum deutlich auf. Denn es genügt nicht, den Archipel der Karibik allein aus seiner Beziehung zu Europa zu begreifen. Es gilt vielmehr, neben der internen Relationalität des vielkulturellen Archipels und den hemisphärischen Verknüpfungen mit dem gesamten amerikanischen Kontinent die transatlantischen wie die transpazifischen Bezugssysteme mit einzubeziehen. Dabei spielen die »AfricAmericas« mit ihren Wegen über den »Black Atlantic« ebenso eine wichtige Rolle wie die »ArabAmericas« (die Migrationen und Beziehungen zur arabischen Welt) oder die »AsiAmericas«: Migrationen von Menschen wie von Anbauprodukten, von Wissen wie von Erzeugnissen unterspülen eine Sichtweise, die eine bestimmte Region der Tropen aus ihrer jeweils privilegierten Beziehung zu und mit Europa zu verstehen sucht. Es geht um eine Vervielfachung der Perspektiven, strukturiert von einem »Forschen mit« anstelle eines »Forschens über«. Die herkömmliche Form der Area Studies ist nicht länger in der Lage, jene dynamischen Netzwerke zu untersuchen, die es nicht gestatten, eine Region allein aus ihren statisch-territorialen Grenzen und Gegebenheiten zu erfassen. Ziel sollte es vielmehr sein, bestimmte Areas wie etwa Lateinamerika, Südostasien oder Nordafrika mit Hilfe von »Trans Area Studies« neu zu konfigurieren und aus ihren weltweiten Vernetzungen heraus zu begreifen.
Wie das Beispiel der Karibik - in der sich die unterschiedlichsten Wege des Wissens aus Afrika und Europa, aus Süd-, Mittel- und Nordamerika, aus Indien und China überkreuzten - als Teil der Welt der Tropen bereits zeigt, dürfte es keinen anderen Großraum des Planeten geben, der stärker als die Tropen in den unterschiedlichsten Richtungen extern vernetzt ist und zugleich eine so hochgradig diskontinuierliche und vielfältige interne Relationalität aufweist wie die Tropen. Es wäre geradezu absurd, sie in ihrer Pluralität allein anhand von Ekliptik und Sonnenhöhen, Klima und Vegetation, Windund Meeresströmungen, der Land-Wasser-Verteilung oder bestimmter ökonomischer, sozialer oder politischer Indikatoren zu bestimmen. Denn jede Migration hat im Verbund mit den unterschiedlichen Phasen beschleunigter Globalisierung eigene Logiken auf die Tropen projiziert und in die Tropen exportiert. So wie Victor Klemperer in einem auf den 12. August 1935 datierten Fragment unter dem Titel »Café Europe« jüdischen Auswanderern, die sich auf deWeg ins peruanische Exil gemacht hatten, hinterherrief: »Habt ihr Sehnsucht nach Europen? / Vor euch liegt es in den Tropen; / denn Europa ist Begriff!« Nicht nur für Europa waren die Tropen stets ein Reflexionsraum eigener Hoffnungen und Ängste, eigener Schöpfungen, Störungen und Zerstörungen. In gewisser Weise lassen sich Anfang und Ende jener Kurztexte, die der Kubaner Guillermo Cabrera Infante 1974 in seinem Band »Vista del amanecer en el Trópico« vereinigte, wie die Geschichte jener europäischen Tropen der Tropen, jener Expansion und Apokalypse lesen, die uns bei unseren Überlegungen von Martire d'Anghiera zu Lévi-Strauss führten. Denn wenn im ersten Text dieser »Vista« die »Inseln aus dem Ozean auftauchen« und sich Insel um Insel zu einem (kubanischen) Archipel formieren, so zeigt sich am Ende eine »traurige, unglückliche und lange Insel«, die sich - aber erst, nachdem sie der letzte Indianer, der letzte Spanier, der letzte Afrikaner, der letzte Amerikaner und schließlich auch der letzte Kubaner verlassen haben - endlich ihrer Lage im tropischen Golfstrom erfreuen darf: »schön und grün, unvergänglich,ewig«. Aber gibt es Tropen ohne Menschen? Sind die Tropen seit ihrer Erfindung in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung immer wieder vom scheiternden Experiment des Zusammenlebens verschiedener Kulturen und Herkünfte geprägt, so ist es heute an der Zeit, sie transareal zu verstehen und gleichsam neu zu erfinden. Jenseits der aus der europäischen Perspektive stets privilegierten Abhängigkeitsbeziehungen von Europa eröffnet sich das bislang sträflich vernachlässigte Feld eines vielgestaltigen und diskontinuierlichen Raumes, der durch komplexe globale Bewegungen, die diesen weltumspannenden zentralen Gürtel des Planeten queren, immer wieder neu geschaffen wird. Blicken wir heute nach den Tropen, so gilt es gewiss, die über Jahrhunderte tradierten Tropen dieses Bewegungsraumes nicht zu vergessen. Ein adäquates Verständnis der Tropen aber wird man aus den unterschiedlichsten Perspektiven nur entwickeln, wenn mit einer transarealen Logik die Tropen nach den Tropen ins Blickfeld rücken. Die Tropen sind die »TransArea« par excellence.
Wir danken dem Goethe-Institut für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des Artikels von Ottmar Ette, der in der Sonderausgabe »Die Tropen in uns« des Humboldt-Magazins Anfang Juli 2008 erscheint. Das Humboldt-Magazin wird seit 50 Jahren für Leser/innen in Lateinamerika auf Spanisch und Portugiesisch herausgegeben.