Der Bestseller der Saison trug die Uniform des Krieges. Im feldgrauen Umschlag erschien im Januar 1929 im Berliner Propyläen-Verlag Erich Maria Remarques Kriegsroman »Im Westen nichts Neues«. Bis Ende des Jahres verkaufte der bis dahin vollkommen unbekannte Literat, der sich zuvor in den »twenties« als Sportreporter mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten durchgeboxt hatte, fast eine Million Exemplare. »Im Westen nichts Neues« - die lakonische Formel, mit der der Heeresbericht den zermürbenden Stellungskampf kommentiert hatte, hielt auch zehn Jahre nach dem Ende des großen Krieges die Köpfe besetzt.
Das Jahr 1929 liegt ziemlich genau zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die friedlichen parlamentarischen Illusionen, die in den mittleren »goldenen« Zwanziger Jahren gedeihen konnten, neigen sich langsam dem Ende zu. Der Börsencrash im Oktober läutet die Weltwirtschaftskrise ein. Noch wird Weimar zwar von einer Großen Koalition regiert; aber die Bürgerkriegsparteien proben auf der Straße schon einmal den Aufstand. »Mit Freude nehme ich wahr«, notiert der Nationalrevolutionär Ernst Jünger genüsslich in seinem Buch »Das Abenteuerliche Herz«, »wie die Städte sich mit Bewaffneten zu füllen beginnen, und wie selbst das ödeste System, die langweiligste Haltung auf kriegerische Vertretung nicht mehr verzichten kann.«
Der Schwellencharakter des Jahres 1929 wird deutlich, wenn wir uns seine großen Toten in Erinnerung rufen. Hugo von Hofmannsthal, der Götterliebling der alten Zeit, stirbt im Juli; Gustav Stresemann, der große Weimarer Staatsmann, im Oktober. Im selben Monat stirbt auch der Kunsthistoriker Aby Warburg, der sich der Erforschung des Nachlebens der Antike als Lebensaufgabe verschrieben hatte. Aber das Jahr verweist nicht nur auf Abschied und die drohende nationalsozialistische Katastrophe. 1929 hat selbst ein wunderbar intellektuelles Nachleben. Es ist die Geburtsstunde des deutschen Nachkriegsgeistes.
Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf, Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas, Walter Kempowski und Peter Szondi - sie alle sind 29er. Wer in der Bundesrepublik prominent reimte, theoretisierte und kritisierte, ist in aller Regel ein 29er. Und beileibe trug dieser ausgezeichnete Jahrgang nicht nur im Westen literarische Früchte, auch Heiner Müller, Christa Wolf und Günter Kunert sind 1929 geboren. Am Vorabend ihres großen 80. Geburtstages schauen wir zurück auf diesen Jahrgang, der den deutschen Nachkriegsgeist nachhaltig geprägt hat - die 29er.
Der Siegeszug der 29er in der Nachkriegsgesellschaft erklärt sich zu einem großen Teil sicher aus einem Startvorteil. Auch wenn sie ihre Jugend im Krieg verbrachten, oft eingezwängt in Bombenkellern, hatten sie ungleich bessere Ausgangsbedingungen als ihre älteren Geschwister. In den Zwanziger Jahren ist jedes Jahr entscheidend, ganze Jahrgänge sind vor Stalingrad ausgeblutet. »Mein Jahrgang war zu jung«, so Hans Magnus Enzensberger im Gespräch, »um in die Vernichtungsmaschinerie hineinzugeraten.«Zwar unterlagen auch die 29er dem Drill der HJ - eine gesunde Skepsis, Eigensinn und eine besondere Pfiffigkeit zeichnete sie aber schon in jungen Jahren aus. In den letzten Kriegsmonaten lief alles auf die 29er zu; als »Führers letzte Helden« mussten sie zum Abwehrkampf an die Flak. Aber die Sinnlosigkeit dieses Unternehmens war schon zu offensichtlich; noch vor der Kapitulation deponierten viele ihre Zivilkleider. Hatte der Krieg die Soldaten an der Front von den Zivilisten an der Heimat-Flak getrennt, so verkehrte sich nach dem Krieg die Front. Nun gaben die Flakhelfer den Ton an. Oft übernahmen sie die Ernährer-Rolle für die im Krieg gebliebenen oder erschöpft zurückgekommenen Väter. Kein anderer Jahrgang weist eine solche Dichte von bekennenden Schwarzmarkthändlern auf.
Der Publizist Günter Gaus, auch er ein 29er, hat das unwahrscheinliche Glück seines Jahrganges auf eine prägnante Formel gebracht - die »Gnade der späten Geburt«. Anders als die Vorgänger-Jugend des Ersten Weltkrieges, jener durch Ernst Glaesers zeitgenössischen Bestseller berühmt gewordenen »Jahrgang 1902«, der im Trubel der Zwischenkriegszeit verloren ging, hat der Jahrgang 1929 die Chance, die im Zusammenbruch lag, beherzt ergriffen. Ende der Fünfziger betraten sie öffentlichkeitswirksam das Feld - und haben es bis heute nicht geräumt. »Meine Generation, die nach dem Krieg alle Chancen bekam und nutzte«, schreibt Jürgen Habermas rückblickend, »hat die intellektuelle Szene ungewöhnlich lange beherrscht.« Die 29er verband der pragmatische Wille zum politischen und moralischen Wiederaufbau des Landes. Wie tatendurstig und innerlich unverkrampft sie dabei zu Werke gingen, fällt sofort auf, wenn man sie mit den jüngeren Jahrgängen, den späteren 68ern vergleicht, die immer unter der schweren geschichtspolitischen Last ächzten, stellvertretend die Schuld ihrer Eltern abarbeiten zu müssen. Der lange Schatten der 29er hat zu vielen kleineren ödipalen Revolten Anlass gegeben. Aber so ganz haben sich die 68er von den 29ern nie emanzipieren können. Selbst in der Revolte lieferten die 29er die entscheidenden Stichworte. Mit Enzensberger im Rucksack ging es auf die Demo.
Ralf Dahrendorfs autobiographische Prämisse - »Über Grenzen« - war das 29er-Lebensmotto. Früh öffnete sich für sie die ganze Welt, sofort nach dem Kriege begannen sie zu reisen und im Ausland zu studieren. Aus Pariser Hinterzimmern kam Enzensberger in den Fünfzigern mit den neuesten angesagten modernen Dichtern nach Deutschland zurück, Dahrendorf exportierte aus Amerika zeitgleich die Konfliktsoziologen. Die 29er waren die Musterschüler der Verwestlichung. Der Philosoph Jürgen Habermas schreibt seinen Jahrgängen auf der geistespolitischen Habenseite zu: die »vorbehaltlose Öffnung« der Republik »zur Kultur des Westens«. Die 29er haben den Richtungssinn von Remarques Bestseller »Im Westen nichts Neues« aus ihrem Geburtsjahr gedreht. Für sie kam alles Neue nach dem Krieg aus dem Westen.
Auch wenn sich viele Animositäten und Fehden quer durch den Jahrgang ziehen, verband die 29er doch ein Vorverständnis. »Und überhaupt und unter sich ist der Jahrgang 29 immer irgendwie Kamerad« (Peter Rühmkorf). Naturgemäß lassen sich die ganz unterschiedlichen Temperamente jenes Jahrgangs nicht auf die eine intellektuelle Physiognomie reduzieren. Und schon gar nicht geht der Jahrgang 1929 auf in jenem Höhendiskurs der suhrkamp culture, den der Literaturwissenschaftler George Steiner, auch er Jahrgang 1929, zuerst auf den Begriff gebracht hat. Fraglos gibt es auch Köpfe wie das berühmte Zweigestirn Günter Grass und Martin Walser, die unser heroisches Jahr knapp verfehlten. Ganz bewusst greift hier unser Versuch, den deutschen Nachkriegsgeist verdichtet im Spiegel eines Jahrgangs zu erfassen, zurück auf ein Stilprinzip, das 1929 mit dem Erscheinen von Döblins »Alexanderplatz« seinen ersten großen literarischen Auftritt hatte - die Montage.
Vor fast zwanzig Jahren fand das westdeutsche Provisorium mit der Wiedervereinigung ihr glückliches Ende. Wir schauen heute zurück auf die alte Bundesrepublik mit ihren Obsessionen und Neurosen wie auf einen versunkenen Kontinent. Die Erinnerung an die 29er bewahrt das besondere Aroma der Nachkriegszeit auf. Die Reihen dieses Jahrganges, der den Krieg in großer Zahl an der Heimatfront glücklich überlebte, haben sich mit den Jahren stark gelichtet. Zu den großen Toten des Jahrgangs 1929 zählen der Literaturwissenschaftler Peter Szondi und der Dramatiker Heiner Müller, aber auch der Entertainer Harald Juhnke und die Kirchentagsikone Dorothee Sölle - zuletzt starb mit Walter Kempowski der Archivar dieser Generation. Die von heute aus so seltsam ferne, eigentümliche Melange aus intellektueller Askese und historischem Pathos, protestantischer Bußpredigt und großer Samstagsabendunterhaltung - das war die alte Republik.