Seit Michail Gorbatschows Perestroika-Politik gab es in der Bundesrepublik Deutschland und namentlich in Berlin wiederholt Möglichkeiten, sich mit der Kunst jenes Landes vertraut zu machen, das den Deutschen im 20. Jahrhundert durch historische Katastrophen fremd geworden war. Die Revolution in Russland und der darauf folgende Stalinismus einerseits und der durch die Nationalsozialisten entfesselte Zweite Weltkrieg andererseits sowie der Kalte Krieg hatten nachhaltig dazu beigetragen. Doch auch ins 19. Jahrhundert zurückreichende Stereotypen von Russland als dem ‹Anderen› im Verhältnis zu Westeuropa hatten zu Klischeevorstellungen geführt, die schließlich in Winston Churchills Ausspruch kulminierten: «Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses umgeben von einem Mysterium.» Unbehagen und Faszination schwingen darin gleichermaßen mit.
Es waren zunächst die zahlreichen, seit den 1970er Jahren gezeigten Ausstellungen der russischen Avantgarde, die es dem westlichen Publikum ermöglichten, sich einen Zugang zur russischen Kunst zu verschaffen. Die in ihrer formalen Kühnheit zuweilen atemberaubenden Werke von Chagall, Kandinsky, Malewitsch, Popova und Rodtschenko waren durchaus dazu angetan, sowohl die Zugehörigkeit der russischen Künstler und Künstlerinnen zu den universalen Entwicklungssträngen der Moderne als auch die nationalen Quellen ihrer Kunst zu vergegenwärtigen. Dennoch rekurrieren so manche Ausstellungstitel bis auf den heutigen Tag auf eine scheinbar von anhaltendem Unwissen und diffusen Erwartungen geprägte Haltung Russland und seiner Kultur gegenüber: Man denke an die in Saarbrücken und in Berlin mit Erfolg gezeigte Ausstellung Auf der Suche nach Russland. Der Maler Ilja Repin oder die im Sommer 2007 in der Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gezeigte Schau Russlands Seele. Ikonen, Gemälde, Zeichnungen aus der Tretjakow-Galerie Moskau. 2003 war am selben Ort und anschließend im Martin-Gropius-Bau Berlin die kulturhistorische Ausstellung Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht mit spektakulären Objekten, die Russland nur selten verlassen, zu sehen. Mit der Betonung von Frömmigkeit und Prunkentfaltung im Ausstellungstitel wurden dabei absichtsvoll die kulturellen Parameter benannt, mit denen sich auch das heutige offizielle Russland Wladimir Putins unter Berufung auf einen zeitlosen Byzantinismus nach innen und nach außen darstellt.
Im Abstand von knapp zehn Jahren, 1995/1996 und 2003/2004, war der Martin-Gropius-Bau zweimal Schauplatz von Ausstellungen russischer Kunst, die den Nerv des Publikums insofern trafen, als sie die russische Kunst des 20. Jahrhunderts nicht als ‹Ding an sich› präsentierten, sondern sie parallelen künstlerischen Entwicklungen in Deutschland gegenüberstellten. Gemeint sind die Ausstellungen Berlin- Moskau 1900-1950 und Berlin - Moskau 1950-2000, letztere gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.Während diese den Ausstellungsbesucher mit einem nicht chronologisch konzipierten, dafür von kuratorischen Spitzfindigkeiten bestimmten Parcours irritierte und überforderte, fesselte erstere durch zeitparallel angelegte Gegenüberstellungen der einzelnen Kunstgattungen, einschließlich Literatur, Musik, Fotografie und Film.
Die geplante Ausstellung Macht und Freundschaft. Berlin - St. Petersburg 1800-1860 knüpft mit dem Fokus auf den Zusammenhang von Geschichte und Kunst und der Berücksichtigung der deutschen wie der russischen Seite an die erwähnten Ausstellungen an. Nach der wiederholten Konzentration auf Moskau wird der Blick nun auf jene Stadt gerichtet, die seit ihrer Gründung 1703 als das ‹Fenster nach Europa› galt und von 1712 bis 1917 die Hauptstadt des Russischen Reiches gewesen war.
Im Mittelpunkt der Ausstellung Macht und Freundschaft. Berlin - St. Petersburg 1800-1860 stehen die gleichermaßen von politischem Kalkül wie von kulturellen Aktivitäten geprägten Beziehungen zwischen Preußen und Russland. Die Napoleonischen Kriege und die in ihrem Ergebnis geschlossene ‹Heilige Allianz› zwischen Russland, Preußen und Österreich, aber auch die revolutionären Ereignisse von 1830 und 1848 verliehen ihnen eine gesamteuropäische Dimension. Zwischen den Bündnispartnern im Kampf gegen Napoleon, Zar Alexander I., König Friedrich Wilhem III. und Königin Luise entwickelte sich eine persönliche Freundschaft durch die 1817 erfolgte Eheschließung des russischen Großfürsten Nikolai Pawlowitsch und nachmaligen Zaren Nikolaus I. mit Prinzessin Charlotte von Preußen. Nach ihrem Übertritt zum orthodoxen Glauben (fortan hieß sie Alexandra Feodorowna) gewann die Beziehung zwischen Preußen und Russland zusätzlich einen persönlichen, von Zuneigung und Sympathie getragenen Charakter. Beide Ebenen, so wird in der Ausstellung zu erleben sein, bestimmten das kulturelle Klima in Berlin und St. Petersburg.
Besonderes Augenmerk gilt dem regen beidseitigen Austausch, in den Architekten wie Wassily Stassow und Karl-Friedrich Schinkel, Intellektuelle wie Alexander von Humboldt und Wassily Shukowski, Maler wie Franz Krüger, Eduard Gaertner und Grigori Tschernetzow sowie Bildhauer wie Christian Daniel Rauch, Carl Friedrich Wichmann und Baron Peter (Pjotr) Clodt von Jürgensburg involviert waren. Der Ausbau der Kulturlandschaften von Berlin und Potsdam, Petersburg und Umgebung weist viele Parallelen und gelegentliche Souvenirs auf, wie zum Beispiel das sorgfältig restaurierte russische Dorf Alexandrowka in Potsdam. Bildnerische Zeugnisse auf Leinwand, Papier und Porzellan sowie Requisiten von höfischen Ereignissen wie dem Fest Lalla Rookh 1821 und dem Fest der weißen Rose 1829 in Potsdam und der Parade von Kalisch 1835. Aber auch die Reisezeichnungen von Friedrich Wilhelm IV. lassen eine Epoche lebendig werden, die politisch konservativ und dennoch von Vorboten der Moderne berührt war. Dazu gehört die einsetzende Trennung von ‹öffentlich› und ‹privat›. Sie manifestiert sich im Kontrast zwischen spätklassizistisch geprägten städtebaulichen Großprojekten einerseits und der biedermeierlich anmutenden Gestaltung der Wohnbereiche sowohl der Zaren- als auch der Königsfamilie, denen jeweils eigene
Ausstellungsräume mit Architekturzeichnungen und Interieurdarstellungen gewidmet sein werden.
In Deutschland wie in Russland setzte sich allmählich eine versachlichte Sicht auf die Wirklichkeit durch, womit auch neue Bevölkerungsschichten Bildwürdigkeit erlangten, doch behielt die der Adelskultur eigene Prachtentfaltung ihren Stellenwert, wie repräsentative Bildnisse der Monarchen, monumentale Prunkvasen und erlesene Malachitarbeiten zeigen werden. Im Kontrast dazu werden unter anderem Fotografien aus dem Krimkrieg zu sehen sein, die nicht nur den Beginn einer neuen medialen Epoche, sondern auch eines neuen politischen Zeitalters ankündigen, in dem das Klima der deutsch-russischen Beziehungen rauer wurde.
Für ein halbes Jahrhundert aber, so dürfte aus der Ausstellung zu lernen sein, waren das an Naturressourcen reiche Russland und das diesbezüglich eher bescheiden ausgestattete Preußen in einem vielgestaltigen Dialog damit beschäftigt, die Herausforderungen der sich ankündigenden Modernisierung in allen Lebensbereichen zu bewältigen. In romantischen Träumereien mit arkadischen wie national konnotierten Motiven wurden hier wie dort Zeugnisse des industriellen Fortschrittes und damit menschlicher Erfinderkraft heimisch. In dem erweiterten Europa der Gegenwart und einem sich wandelnden Russland wird das kulturelle Klima von anderen Parametern bestimmt als von Hochzeitspolitik oder kriegerischen Auseinandersetzungen, und auch persönliche Freundschaften oder Sympathien zwischen Staatenlenkern haben keinen nennenswerten Einfluss auf die Kulturbeziehungen. Möge die gegenwärtige kulturelle Zusammenarbeit zu einer
Klimaerwärmung beitragen und mehr sein als romantisches Wunschdenken oder politisches Kalkül.