Kulturen des Wirtschaftens. Unterschiedliche Formen des Wirtschaftens und die Möglichkeiten einer globalen Kultur

Von Tatjana Schönwälder-Kuntze

Zur Jahrtausendwende im Herbst 2000 hat Helmut Schmidt in seiner Rede "Selbstbehauptung Europas im neuen Jahrhundert Europa" als einen Raum identifiziert, der eine gemeinsame europäische Kultur des Rechts und des Wirtschaftens habe, die durch Aufklärung und die Revolutionen in Europa geprägt sei. Europas Selbstbehauptung stehe vor einigen Herausforderungen, wovon hier zwei genannt werden sollen: die Klimaerwärmung und die zügige Globalisierung der Finanzmärkte. Letztere - so scheint es - hat nun Europa nicht nur eingeholt, sondern an einen noch nicht überschaubaren Abgrund geführt, an dessen Rändern die Selbstbehauptung zur Frage der Überlebensfähigkeit ganzer Wirtschaftszweige und damit unserer Volkswirtschaften überhaupt mutieren könnte. Dabei wird derzeit fast vergessen, dass die Klimaerwärmung auch für das Wirtschaften die weitaus größere Herausforderung darstellen könnte mit sogar drastischeren Folgen. Wie gehen wir mit diesen keineswegs zufälligen Herausforderungen um? Welche Lehren lassen sich daraus ziehen, dass wir derzeit den Eindruck haben, nicht selbst die Entwicklung zu steuern, sondern die Entwicklung uns zu überholen scheint? Dazu lassen sich viele Überlegungen unterschiedlicher Art anstellen, wovon die Folgenden nur eine kleine Auswahl darstellen können.

Der Befund scheint derzeit eindeutig: Von verschiedenen Seiten wird ein klarer Zusammenhang konstatiert zwischen einer 'Kultur' und der Art und Weise, in der in dieser Kultur 'gewirtschaftet' wird. 'Wirtschaft', so lehrt uns der Blick in ein beliebiges Lexikon, ist "der Inbegriff aller Opfer, Bemühungen, Institutionen und Maßnahmen, die der Überwindung der Spannung zwischen Bedarf und Deckung dienen. Subjektiv äußert sie sich als das Wirtschaften der Menschen (ihre wirtschaftl. Handlungen und Tätigkeiten) mit dem Ziel, auf der Grundlage des Vergleichs von Kosten und Nutzen, von Aufwand und Ertrag, die naturgegebene Knappheit an Gütern zu verringern."(1) - und hier scheint es erhebliche kulturelle Differenzen in der konkreten Ausführung zu geben. Ein erstes Problem, das bei einer genaueren Betrachtung virulent werden könnte, ist beispielsweise die Frage, was genau mit der von Helmut Schmidt identifizierten 'europäischen' Kultur des Wirtschaftens gemeint sein kann, wenn auf der anderen Seite angesichts der weltweiten Turbulenzen auf den Finanzmärkten Wolfgang Kaden in seinem Artikel "Warum die Finanzmärkte zivilisiert werden müssen" vom September 2008 scharf zwischen einer kontinental-europäischen und einer angelsächsischen Kultur in Bezug auf das Gebaren an den Finanzmärkten unterscheidet?

Nehmen wir an, das Abgrenzungs- oder Identitätsproblem der Europäer - und aller Nicht- Europäer - sei gelöst, so ergibt sich als weiteres Problem eines solchen empirischen Zugriffs der Nachweis, dass es sich nicht nur um eine zufällige Korrelation zwischen Kultur und Wirtschaftsweise handelt. Von Interesse ist das in Bezug auf die Frage, ob und inwiefern kulturelle Bedingungen das wirtschaftliche Verhalten positiv oder negativ zu beeinflussen vermögen - ganz abgesehen von der grundsätzlichen Frage danach, was wir unter Kultur in diesem Zusammenhang überhaupt verstehen. Man stößt also unmittelbar auf allerlei theoretische Klärungsprobleme, ohne auch nur die Frage danach, was Ursache und was Folge intendierter und nichtintendierter Ereignisse im wirtschaftlichen Bereich sind, angetastet zu haben. Umso aufschlussreicher können Überlegungen dieser Art für zahlreiche empirisch-soziologische Untersuchungen sein, die den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formen des Wirtschaftens und den ihnen zugrundeliegenden Kulturen, Nationen oder auch Religionen, im Sinne eines gemeinsamen Wertekodexes, zu analysieren suchen. Das zeigen beispielsweise die Untersuchungen, die eine Korrelation zwischen Nepotismus und Korruption feststellen.

Ein methodologisch anderer Zugriff, um "Kulturen des Wirtschaftens" zu identifizieren, besteht darin, nach deren historischem Wandel innerhalb eines (Kultur-)Raumes zu fragen, um so Genese, historische Bedingungen, aber auch grundlegende Denkmuster bewusst zu machen, in denen gewirtschaftet und Wirtschaft gedacht wird. Damit meine ich keine ideengeschichtliche Analyse unterschiedlicher ökonomischer Theorien, sondern eine archäologische Analyse im Sinne Michel Foucaults. Für Foucault ist jede Theoretisierung von Sachverhalten einem bestimmten Zweck geschuldet und damit immer schon eine Interpretation des Gegebenen zu Gunsten bestimmter Intentionen. Aber auch wenn sich die Zwecke, die mit den unterschiedlichen Theorien verfolgt werden, unterscheiden, so unterliegen sie nach Foucault doch alle einer gemeinsamen Machart, einer ihnen Geltung verschaffenden Form, durch die sie überhaupt nur als Theorien, d.h. als relevantes Wissen anerkannt werden. 
So zeigt Foucault u.a. in "Die Ordnung der Dinge" (1966), dass antagonistische Wirtschaftstheorien einer Epoche/eines Zeitraums nur an der Oberfläche Unterschiede aufweisen, weil sie ein und derselben Denkweise bzw. Weltauffassung entspringen, die für ihn den Charakter einer Epoche ausmachen.(2) Hat man so die unterschiedlichen grundlegenden Prämissen und Kategorien - Foucault stellt für den europäischen Raum zwei gravierende Umwälzungen seit dem 16. Jahrhundert fest (3) -, in denen das Wirtschaften in der Moderne gedacht wird, offen gelegt, lässt sich im Anschluss an die Untersuchungen Foucaults und anderer nach dem theorie- und erkenntnissteuernden Charakter unserer Epoche suchen, der nach Foucault nicht nur in unserer Kultur des Wirtschaftens zum Ausdruck kommt, sondern allen Produkten des Denkens und unseren allgemeinen Praktiken deren grundlegende Form zuweist. Daraus folgt unmittelbar, dass unser jeweiliges Verständnis von Ethik, Ökonomie und Ökologie bzw. Klimaschutz weder unabhängig voneinander entstehen, noch separat betrachtet werden dürfen. Auf diese Weise ließe sich die Verbindung zwischen Kultur und Wirtschaftsweise genealogisch rekonstruieren und so nicht nur deren gegenseitige Abhängigkeit, sondern auch deren gemeinsame Existenzform nachweisen. Für den Bereich der Ökonomie selbst bedeutet das zudem, dass die scheinbar so großen Differenzen in den einzelnen theoretischen Modellen - wie beispielsweise die zwischen dem sog. Neo-Liberalismus und Keynesianismus oder auch die zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft - sich als sehr oberflächlich erweisen könnten.

Foucault ging davon aus, dass sich der Charakter unserer Epoche grundlegend auf die von Kant formulierte "Form der Selbst-Repräsentation" reduzieren lässt. Damit ist sowohl die erkennende Repräsentationsleistung der Welt durch das Bewusstsein und seine Kategorien gemeint, als auch das konstruktive Selbstverhältnis, in dem sich der Mensch selbst repräsentiert, sich auf sich selbst denkend bezieht und für sich Zukunftspläne schmiedet. Mit diesem (theoretisch-philosophischen) Konzept des modernen Menschen wäre nicht nur das Bild des ehrlichen Kaufmanns, sondern auch das Bild des raffgierigen Investmentbankers vereinbar. Beide, so könnte man sagen, handeln in einem nachhaltigen Selbstbezug: Beim einen fällt dabei etwas für die anderen ab, beim anderen nicht. Es gälte also - erstens - für die Gemeinschaft bestimmte Weisen von nachhaltigem Handeln - nämlich Bereicherungen, die bis ans Lebensende und sogar bis in die übernächste Generation reichen oder ebensolche Zerstörungen - per Gesetz auszuschließen. Die Grenze zwischen beiden Handlungsweisen ließe sich klassisch daran ablesen, ob der Selbstbezug zum Schaden anderer erfolgt, oder eben nicht. Und man könnte - zweitens - fragen, ob nicht verschiedene Qualitäten von Nachhaltigkeit zu unterscheiden sind, etwa die des Selbsterhaltes und die des Wachstums. Mit Niklas Luhmann, einem gänzlich anders denkenden Theoretiker der Moderne, formuliert, hieße das, die Moderne - ebenso wie bereits die Antike - als eine Epoche zu beschreiben, die vom reinen (Selbst-) Erhalt auf Zugewinn, vom Tausch des Gegebenen auf die Produktion von Mehr umgestellt hat. Vor diesem Hintergrund interpretieren Foucault wie Luhmann die Idee der Knappheit, der eine Schlüsselstellung in unseren modernen ökonomischen Theorien zukommt, als Resultat moderner Wirtschaftsweise und nicht etwa als ihr Ausgangsproblem!

Lässt man sich auf das Ergebnis dieser Analysen ein, dann stellt sich die Frage, ob wir uns anderes, ähnlich erfolgreiches und produktives Wirtschaften vorstellen können, das ebenfalls auf diesem epochalen 'Charakterzug' beruht, aber auf Erhalt statt auf Zugewinn abzielt. Dann könnten wir an ihm festhalten und setzten nicht andere kulturelle Errungenschaften der Moderne, die auf ihm gründen, leichtfertig aufs Spiel - ich denke hier etwa an Konzeptionen wie die individuelle Freiheit als Selbstbestimmung und damit an die daran gekoppelte Würde des Menschen. Oder darf es denkbar sein, auch und vor allem im Zusammenspiel mit möglichen 'Charakterzügen' anderer, synchron existierender Kulturen noch bessere (!) Konzepte zu entwerfen, die ebenfalls dem Erhalt unseres Lebens und Lebensraumes, aber eben nicht unbedingt unseres Lebensstils dienen könnten, aber auf anderen Voraussetzungen fußen? Eine Chance hätten freilich solche Konzeptionen nur, wenn sie sich bereits in der Praxis entwickelten, wenn sie bereits realisiert werden, wenn sie also gesehen und entdeckt werden (dürfen), um dann intentional theoretisiert und vor allem praktisch und politisch handlungsleitend zu werden. Deshalb gilt es, die Augen offenzu halten, alte Denkmuster gegebenenfalls zu verlassen und sowohl im historischen Rückblick als auch im gegenwärtigen Weitblick andere Kulturen des Wirtschaftens zu entdecken und neue zu erfinden. Solange wir nämlich glauben, wir könnten nur zwischen scheinbar gegebenen Alternativen wählen, weil wir nicht sehen, inwieweit und inwiefern wir dem seit wenigstens 200 Jahren währenden Denk-'Charakter' unserer Epoche verhaftet sind, bleiben alle anderen Alternativen außen vor. G.W.F. Hegel nennt solches Verhaftetsein in scheinbar unumgänglichen Dichotomien übrigens "verstandesmäßiges Denken", dem es das vernünftige, die überkommenen Verkrustungen aufhebende, Denken entgegenzustellen gelte. Das hieße nicht, die "gemeinsame europäische Kultur des Rechts und des Wirtschaftens" ad acta zu legen, sondern sie auf der Suche nach einer möglichen gemeinsamen globalen Kultur des Rechts und des Wirtschaftens weiterhin im besten Sinne aufzuklären.


(1) dtv-Lexikon, Bd. 20, S. 114, Lemma Wirtschaft (1989). Auch aktuelle Lemmata weichen von dieser Definition nicht ab, vgl. etwa: Meyers Lexikon online, 29.12.08. oder den Eintrag bei wikipedia.de. 
(2) Foucaults Begriff für das, was ich hier sehr vereinfacht und daher vielleicht unerlaubter Weise Charakter nenne, ist das altgriechische Wort für Erkenntnis(έπιστήμη): "In einer Kultur, oder in einem bestimmten Augenblick gibt es immer nur eine 'episteme', die die Bedingungen definiert, unter denen jegliches Wissen möglich ist." (OdD: 213)
(3) In der Renaissance (ca. 1400-1600) seien Erkenntnisse durch Ähnlichkeiten bestimmt worden; während der (franz.) Klassik (ca. 1600-1780) durch eine vollständige Identität zwischen der Bezeichnung von etwas und dem Etwas selbst.

Über die Autorin

Tatjana Schönwälder-Kuntze, Jahrgang 1966, ist Wissenschaftliche Assistentin und seit 2007 Privatdozentin für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie interessiert sich insbesondere für Theoriebildung in der praktischen Philosophie und Ökonomie sowie für deren Einfluss auf die Wahrnehmung und Gestaltung unserer Welt. Ihre Habilitationsschrift "Freiheit als Norm?" ist 2010 im transcript Verlag erschienen.

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