Vortrag von Ben Evans
Guten Tag, mein Name ist Ben Evans. Ich bin Head of Arts & Disability in Europe beim British Council. (externer Link, öffnet neues Fenster) Ich bin ein Mann, groß, weiß, Mitte 40, trage kurze braune Haare und habe einen kurzen roten Bart. Ich identifiziere mich als behindert, wenngleich meine Behinderung nicht sichtbar ist. Heute spreche ich Englisch und ich verwende die britische Terminologie beim Thema Behinderung. Ich wurde gebeten, folgende Frage zu kommentieren: „Wie inklusiv kann das Theater sein?“
Einfach gesagt lautet die Antwort auf diese Frage: Das Theater kann sehr inklusiv sein, wie das Festival in seinem bisherigen Programm demonstriert [Ben Evans bezieht sich hier auf das Festival „All Abled Arts“ der Münchner Kammerspiele, das vom 11. bis 14. Januar stattfand].
Doch wir sehen es auch in den Produktionen der Münchner Kammerspiele (externer Link, öffnet neues Fenster), eine der großen Ensembleinstitutionen in Deutschland. Dort stehen behinderte und nichtbehinderte Schauspieler*innen gemeinsam auf der Bühne, und dies nicht nur im Kontext der Disability Arts, wie hier beim Festival, sondern über die gesamte Spielzeit.
Das Theater kann also zugänglich sein. Es ist eine Frage des Willens und der Fantasie.
Danke, Münchner Kammerspiele, für eure Bereitschaft und Kreativität.
Ich vergleiche an dieser Stelle die Arbeit der Münchner Kammerspiele mit einer Podiumsdiskussion, zu der ich vor zwei Jahren an ein anderes bedeutendes Stadttheater in Deutschland eingeladen war. Wo sie stattfand, werde ich nicht sagen. Man stellte uns eine Frage. Es ging nicht um inklusive Ensembles oder die detaillierte Erörterung, wie ein großer Klassiker in Leichter Sprache inszeniert werden könnte, wie wir es gestern Abend hier sahen [Ben Evans erinnert hier an „Anti•gone“, einer Inszenierung der Münchner Kammerspiele in Leichter Sprache]. Nein. Der Intendant sollte nur sagen, ob er für jede Inszenierung dieser Spielzeit Audiodeskription und Übertitel anbieten könnte. Er lächelte den neben ihm sitzenden Stadtrat für Kultur an und antwortete, das könne er nur, wenn er mehr Subventionen bekäme. Das waren seine Worte. Was ich heraushörte, war: Das hat für mich keine Priorität, und mir fehlt es an Vorstellungskraft.
Doch ich komme zurück auf die Frage, wie inklusiv das Theater sein kann. Um sie gemeinsam beantworten zu können, müssen wir zunächst prüfen, ob wir uns einig sind, warum das Theater zugänglich sein sollte. Ich bin sicher, dass wir uns hier einig sind, dass die Künste eine positive soziale und humane Kraft darstellen und für alle immanent gleichermaßen wertvoll sind. Wir sind uns gewiss auch alle einig, dass es moralisch richtig ist, dass behinderte Menschen als Zuschauende wie als Kunstschaffende Zugang zur Kunst haben.
Dieses moralische Argument für Inklusion ist zweifellos wichtig. Doch die Einbeziehung behinderter Menschen im Theater, im Tanz und kulturweit ist ebenso wichtig wegen des radikalen Beitrags, den behinderte Kunstschaffende zu den Künsten leisten. Behinderte Kunstschaffende hinterfragen Genres und Kulturformen und provozieren Disruptionen in Kulturinstitutionen. Ich meine, dass einige der innovativsten, radikalsten und spannendsten Projekte in der Performancekunst Europas von Tauben und behinderten Künstler*innen realisiert wurden.
- Sie sind Kunstschaffende mit einzigartigen Erfahrungen und Perspektiven auf die Welt und produzieren neue und einzigartige Kunst.
- Die Geschichte der radikalen Kunst ist die Geschichte von Kunstschaffenden an der Peripherie, die ihren Weg jenseits des Mainstreams beginnen und sich langsam einen Weg in seine Institutionen und Strukturen bahnen.
- Die Erkundung von Differenz oder ‚dem Anderen‘ hilft uns, die Gesellschaft zu verstehen, in der wir leben.
Ich sehe das beim Zeitgenössischen Tanz. Tanzende mit nicht-normativen Körpern bringen ein anderes Bewegungsvokabular auf die Bühne und erkunden auf neue Weise die Beziehung zwischen Körper, Raum und Zeit. Die italienische Tänzerin Chiara Bersani (externer Link, öffnet neues Fenster) berichtet, dass sie wegen ihrer Knochenerkrankung von Kindheit an lernte, sich stets langsam und fokussiert zu bewegen. Die besondere Bewegungsqualität, die sie heute als Tänzerin und Choreografin auf die Bühne bringt, ist ein Beitrag zur Weiterentwicklung des zeitgenössischen Tanzvokabulars.
Ich sehe es auch da, wo Taube Künstler*innen das sogenannte Visual Vernacular entwickelt haben, eine neue Bühnensprache, die weder Gebärdensprache noch Pantomime ist, und auch nicht Choreografie, sondern eine visuelle Ausdrucksform, die Elemente aus den vorgenannten Kommunikationsformen vereint.
Ich entdecke es, wenn die lernbehinderten Kunstschaffenden von Theater Hora (externer Link, öffnet neues Fenster) in der Schweiz, Per.Art (externer Link, öffnet neues Fenster) in Serbien, Meine Damen und Herren (externer Link, öffnet neues Fenster) in Hamburg, Theatre de L’Oiseau Mouche (externer Link, öffnet neues Fenster) in Roubaix oder hier an den Münchner Kammerspielen die bequeme Wahrnehmung des Publikums über die Beziehung zwischen Schauspielenden und der Rolle, die sie spielen, hinterfragen.
Ich sehe es in der Performancekunst, wenn die Psychotherapeutin und behinderte Live-Künstlerin Noëmi Lakmaier (externer Link, öffnet neues Fenster) ihren gelähmten Körper mit 40.000 heliumgefüllten Ballons im Sydney Opera House oder im Berliner Hebbel am Ufer in der Luft hält.
Ich finde es in den Bildenden Künsten, wenn der neurodivergente britische Künstler Aiden Moseby (externer Link, öffnet neues Fenster) in seinen komplexen Werken zur Klimakrise Parallelen zieht zwischen dem stürmischen Wetter seiner eigenen Psyche und den Wetterextremen, die die Welt zunehmend häufig treffen.
Die behinderte, britisch-nigerianische Bildende Künstlerin Yinka Shonibare (externer Link, öffnet neues Fenster) sagt, Disability Arts seien die letzte Avantgarde. Ich liebe diese Zuschreibung, nicht nur, weil sie provoziert und im Gedächtnis bleibt, sondern weil sie uns zum Nachdenken anregt über das, was in der aktuellen Kulturszene wirklich disruptiv ist.
Ich sage „disruptiv“, denn das beschreibt, glaube ich, wie sich der künstlerische Akt der eben genannten Kunstschaffenden in den Institutionen auswirkt.
Manchmal rühren diese radikalen Formen, dieses Innovative aus ihrem spezifischen Blick auf die Gesellschaft. Manchmal sind sie Ausdruck von politischem Aktivismus. Zumindest zum Teil ist diese ganz besondere Kulturpraxis jedoch schlicht Folge der Tatsache, dass behinderten Kunstschaffenden – aus unterschiedlichen Gründen – der Zugang zu Kulturbildung weitgehend verschlossen bleibt. Sie müssen ihre eigene Kunstausbildung kuratieren. Sie lernen nicht an den gleichen Konservatorien, Schauspielschulen, Tanzakademien, sondern suchen Inspiration, Expertise und Wissen an den Orten, die von den anderen Tanz-, Kunst- oder Schauspielstudierenden unbeachtet bleiben.
Diese ästhetische Disruption, dieser Avantgardismus zeigt sich insbesondere da, wo behinderte Kunstschaffende als Autor*innen, Regisseur*inne, Choreograf*innen oder Dramaturg*innen in kreativen Prozessen leitend tätig sind.
Doch neben der Disruption im Innern der etablierten Institutionen rütteln behinderte Künstler*innen künstlerisch auch am Status Quo außerhalb der Institutionen, künstlerisch wie politisch.
Ich denke hier an die Open-Air-Projekte der Choreografin Caroline Bowditch (externer Link, öffnet neues Fenster). Bowditch erinnert daran, dass behinderte Menschen im öffentlichen Raum ständig angeschaut werden – dass wir permanent im Rampenlicht stehen. In einem radikalen Akt holt sie ihre Choreografien daher aus dem Ballettsaal auf die Straße. Sie fordert den Akt der öffentlichen Zurschaustellung für sich zurück. Unerwartete Körper am unerwarteten Ort.
Mir fällt Silke Schönfleisch-Backofen ein, die in ihrem Stück „Bondage Duell“ Crip Sexuality für sich reklamiert. Oder das heutige Gastspiel des Teatr 21 (externer Link, öffnet neues Fenster) aus Warschau in den Münchner Kammerspielen [Die Inszenierung „Libido Romantico“ des Teatr 21 war im Rahmen des Festivals „All Abled Arts“ zu sehen]: Sie thematisieren den Kulturkampf gegen politische Zensur und üben sehr direkt Kritik an der tief in der Gesellschaft verwurzelten Diskriminierung und Bevormundung von behinderten Menschen in Polen und anderswo.
Mir kommt „Assisted Suicide – The Musical“ der Autorin und Aktivistin für Behindertenrechte Liz Carr (externer Link, öffnet neues Fenster) in den Sinn. Die witzige, respektlose und zutiefst politische Produktion thematisiert eine der komplexesten Fragen der Behindertenrechtebewegung in Großbritannien.
Disruptiver noch erscheint mir die Griechische Bewegung für Künstler*innen mit Behinderungen, die aktuell ein Theater im Zentrum Athens besetzt hält. Die Initiative fordert Gerechtigkeit und gleichen Zugang zu Kultureinrichtungen für Behinderte.
In einer europäischen Kultur- und Theaterszene, die behauptet, sie fördere das Radikale, das Innovative und das Disruptive, müsste ein Intendant, der nicht darüber nachdenken will, wie mehr Inklusion hergestellt werden kann, als gescheitert gelten. Die Frage, die ich mir jedoch eigentlich stelle, lautet: Wollen wirüberhaupt Inklusion?
Wie stellt sich die Lage denn dar? In der Inklusion „durch“ Theater und Kulturinstitutionen offenbart sich ein Machtverhältnis: „Wir haben beschlossen, euch zu integrieren. Zu unseren Bedingungen.“ Für mich suggeriert das, dass behinderte Menschen nur Gäste sind. Ehrengäste vielleicht, aber eben Gäste. Die Einladung an uns kann jederzeit zurückgenommen werden, falls wir zu streitsüchtig werden, oder weil sich Trends ändern.
Im Übrigen wird selten der oder die Regisseur*in, Dramaturg*in, Autor*in oder Choreograf*in, zur Inklusion eingeladen. Willkommen sind Schauspieler*in oder Tänzer*in, gewünscht werden Gastauftritte. Damit geht der radikale Beitrag zur Kunst verloren.
Ich hoffe, Sie sehen mir nach, wenn ich Ihnen als Außenstehender auch sage, dass Sie in Deutschland offenbar ein weiteres Problem haben: Ihre Kulturförderung fließt in den Mainstream, an die großen städtischen und staatlichen Bühnen. Vergessen Sie nicht: Die Münchner Kammerspiele sind eine Ausnahme.
Soweit ich sehe, entstehen die radikalsten und innovativsten Produktionen behinderter Künstler*innen in Europa aber da, wo auch jenseits des Mainstreams subventioniert wird. Da, wo behinderte Kunstschaffende gefördert werden, um zu eigenen Bedingungen zu inszenieren und den passenden Ort für ihre Arbeiten zu finden. So können sie stark und autonom agieren.
Für Deutschland besteht die große Aufgabe darin, eine Theaterszene zu schaffen, in der behinderte Künstler*innen kreativ und innovativ tätig sein können. Wir müssen nicht nur über Inhalte und Programme reden, und darüber, wer im Theater Hilfe bekommt, sondern über das Finanzierungssystem und die Strukturen insgesamt.
Eine schwierige Aufgabe, gewiss. Doch zugleich eine spannende.
Vielleicht sollten wir die Frage umformulieren, denn:
- Erstens: Die Prämisse lautet, dass das Theater inklusiv sein kann.
- Zweitens: Wir sind uns bewusst, dass die Inklusion in die Prozesse der Kulturinstitutionen für Behinderte das Risiko der Assimilation und als Konsequenz die Reduzierung ihrer künstlerischen Einzigartigkeit birgt.
- Drittens: Sehen wir ein, dass wir jenseits der großen Institutionen arbeiten müssen.
Fragen wir also nicht: „Wie inklusiv kann das Theater sein?“, sondern stellen wir andere Fragen: Wir können behinderte Kunstschaffende Teil der Mainstream-Kultur werden und profitieren, ohne assimiliert zu werden?
Oder betrachten wir die Frage aus der Perspektive der Kulturinstitutionen des Mainstreams: Wie können Mainstream-Institutionen Räume für behinderte Künstler*innen schaffen, ohne disruptive Innovationen zu assimilieren oder den Kunstschaffenden die Kontrolle über ihre Projekte zu nehmen?
Und schließlich: Fragen wir nicht länger, wie wir die an der Peripherie Wirkenden in den Mainstream integrieren können, sondern wie wir die Peripherie besser fördern.
Aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese