Accattone

Eröffnung der Ruhrtriennale 2015

Ehemalige Zeche Lohberg in Dinslaken © Ruhrtriennale

Der niederländische Theaterintendant Johan Simons trat 2015 seine auf drei Jahre befristete künstlerische Leitung der Ruhrtriennale mit einer eigenen Regiearbeit an. Mit der Uraufführung des Bühnenwerks „Accattone“ nach dem gleichnamigen Film von Pier Paoli Pasolini in einer Musikbearbeitung des Bach-Spezialisten Philippe Herreweghe setzte Simons als Intendant und Regisseur gleich zu Beginn einen starken Akzent im Sinne seines Leitmotivs: „Seid umschlungen“. Simons möchte die Ruhrtriennale noch stärker einem Publikum aus allen Gesellschaftsschichten öffnen.

Die Aufführung von „Accattone“ fand unter dem monumentalen Tonnengewölbe der Kohlenmischhalle Lohberg in Dinslaken statt. Das Gebäude liegt in direkter Nachbarschaft ehemaliger Bergarbeitersiedlungen, die zu einem modernen ökologischen Stadtquartier umgewandelt werden sollen. Die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg wurde mit „Accattone“ erstmals zum Spielort der Ruhrtriennale.

Damit stand bereits die Eröffnungsproduktion 2015 in der kulturpolitisch weitsichtigen Tradition der Ruhrtriennale, in einer von De-Industrialisierung und sozialen Gegensätzen geprägten Region die vorhandenen historischen Liegenschaften der Montanindustrie mit international herausragenden zeitgenössischen Bühnenwerken zu bespielen, sie hiermit zum Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung zu machen und auf diese Weise den Austausch über die Entwicklungschancen der Region zu befördern.

Pasolinis erster Film „Accattone“ thematisiert die prekäre Verfassung eines an die Randgebiete Roms verdrängten Subproletariats, das fernab von Bildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen täglich ums Überleben kämpft. Die Perspektive des gesellschaftlichen Standes wird sichtbar gemacht an der Passionsgeschichte des Protagonisten: Accattone trinkt, stiehlt, lügt und zwingt seine Freundin in die Prostitution. Pasolini verortet seinen Protagonisten in einer gesellschaftlichen Realität, die einem Dante‘schen Inferno gleicht. Als eine Art Anti-Messias bildet seine Figur das Negativ bürgerlicher Wert- und Moralvorstellungen und reflektiert zudem einen stetig wuchernden Kapitalismus, der Identität ausschließlich über Arbeit und Funktion konstituiert und alle dysfunktionalen Elemente der Gesellschaft durch sein Raster fallen lässt.

Die Inszenierung von Johan Simons setzte an diesem Punkt an: An die Stelle einer Moral, welche Arbeit im Sinne eines kapitalistischen Wertesystems als höchstes Gut untermauert, rückt die Revolte des Einzelnen. Entgegen der späteren pessimistischen Erkenntnis Pasolinis von der egalisierenden Kraft des Kapitalismus stehen hier der Kampf Accattones und seine Weigerung, Arbeit als identitätsstiftende Größe anzuerkennen. Accattone reißt durch seine eigene Sprache – die Sprache der Straße – und seine Aversion gegen die Notwendigkeit von Tätigkeit das System bürgerlicher Werte ein. Der heutige Accattone ist der Häretiker schlechthin: Seine Kampfansage gilt jeder Ordnung, sei sie nun bürgerlich, ökonomisch, staatlich oder religiös. Als anarchistischer Anti-Messias wendet er die transzendierende Kraft der „Industriekathedralen“ in ihr materialistisches Gegenteil: Materie ohne Geist, Gegenwart ohne Zukunft. An die Stelle des Versprechens einer himmelwärts gerichteten Erlösung tritt hier die Bejahung des Irdischen im Hier und Jetzt.

Herreweghe und Simons wählten für die Musik nicht nur Arien und Chöre aus Bachs Matthäus- und Johannes-Passion, sondern vor allem aus einigen seiner beliebtesten Kantaten, wie „Ich hatte viel Bekümmernis“, „Ich habe genug“ und „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“. Erst Bachs Musik nobilitiert das Tonnengewölbe der Kohlemischanlage in Dinslaken zu einem sakralen Raum, zu einer Industriekathedrale, in der Bachs Musik mit dem ihr eigenen Spannungsverhältnis von Himmel und Erde einen adäquaten Raum findet.

Die Ruhrtriennale kooperierte für „Accattone“ mit den Münchner Kammerspielen, mit Künstlern des renommierten belgischen Stadttheaters NTGent sowie dem Collegium Vocale Gent.

 

Die einzelnen Aufführungstermine im Überblick:

14.,15.,19.,20.,22. und 23. August 2015, jeweils 20 Uhr

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