Sich erinnern. An das, was zu wenig erinnert wird. Oder woran man lieber nicht erinnert werden will. Aufgegebene Orte zum Leben erwecken. Von Randexistenzen erzählen, von Illegalen etwa und Langzeitarbeitslosen. Solange solche Themen abstrakt bleiben, funktionieren sie ganz gut im Theater. Aber was, wenn man sich den konkreten Geschichten vor Ort zuwendet? Etwa, wenn man über die Stasi-Geschichte in der eigenen Stadt verhandelt? Oder eine Oper an einer U-Bahnstation inszeniert, die von den Anwohnern gemieden wird, weil sich dort eine Serie von Vergewaltigungen ereignet hat? Oder wenn man den versunkenen DDR-Alltag in lebendige Erinnerung verwandelt?
HEIMSPIEL-Theaterprojekte können das: Ernst machen mit dem Theater als öffentlichem Ort, an dem die Gesellschaft sich selbst einen Spiegel vorhält, an dem sie sich über sich selbst verständigt. Heimspiele können sich einmischen, Geschichten umschreiben, Orten etwas Neues hinzufügen. Sie können das, weil sie die Bevölkerung in der eigenen Stadt mobilisieren wollen. Sie greifen vielleicht auch auf Erzählmuster der großen dramatischen Literatur zurück, ihre Stoffe aber finden sie zunächst einmal woanders. Nämlich draußen, direkt vor der eigenen Tür. In Bautzen oder Greifswald, in Essen oder Oberhausen.
Eigentlich dürfte es so etwas wie den HEIMSPIEL-Fonds der Kulturstiftung des Bundes gar nicht geben. So sagt es Lutz Hillmann, der Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen. Denn eigentlich sollte das, was dieser Fonds fördert, für jedes Theater selbstverständlich sein. Es ist nämlich die regionale Verwurzelung, durch die die Theater heute mehr denn je ihre Existenz und ihre Finanzierung aus öffentlicher Hand legitimieren. Theater kann dem Sog der Globalisierung das Eigene entgegensetzen, es kann zu einem Ort werden, an dem und durch den sich lokale Identität bildet. Darin liegen die größte Chance und auch eine der wesentlichsten Aufgaben für das Theater der Gegenwart. Das sagt einem so oder so ähnlich fast jeder Intendant, mit dem man spricht. Nur stellt sich jeder darunter etwas anderes vor — und allzu gut bestellt ist es um die viel gepriesene regionale Verwurzelung dann meist nicht. An vielen Theatern, in Nürnberg, in Oberhausen oder Greifswald etwa, kommt man bei der regionalen Verwurzelung über Theater-AGs mit Schülern oder Senioren, mit Gefängnisinsassen oder sonstigen Bewohnern der Stadt kaum hinaus.
Ein Heimspiel ist so etwas nicht. Ein HEIMSPIEL-Theaterprojekt arbeitet auch mit Laien, aber es ist nicht Laienspiel, sondern: Theaterkunst mit unendlich vielen Formen, Zugängen, Möglichkeiten, die einen flexiblen Umgang mit den Strukturen des eingespielten Theaterbetriebs herausfordert. Das allein wäre schon ein hinreichender Grund, dass solche Projekte nicht selbstverständlich sein können. Der wichtigste dürfte wohl aber der sein, dass man nur an wenigen Theatern überhaupt Erfahrung damit hat, wie das geht: Wie man die entsprechenden Themen findet, wie man sie bearbeitet, auf welche Weise man sie in Theaterkunst verwandeln kann. Welche Fragen man wem überhaupt stellen oder wen man für deren Ausarbeitung engagieren könnte. Man lebt zu abgeschottet in seiner bildungsbürgerlichen Theaterburg, und oft hält man die Dinge vor Ort für zu banal und für nicht ausreichend theaterwürdig. Oder man glaubt, die Theatergänger würden sich dafür nicht interessieren oder man würde sie gar überstrapazieren. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Menschen lieben es — wenn es gelingt. Nur ist das natürlich vorab nie sicher.
In Greifswald ist es gelungen. Dort hat der Regisseur Tobias Rausch, ein Experte für Katastrophen, sich auf Spurensuche in der Stadt begeben. So ist SCHICHT C entstanden, ein Stück, das vom Katastrophenwinter 1978/79 erzählt — als das Kernkraftwerk Greifswald-Lubmin, das größte der DDR, durch heftige Schneestürme von der Außenwelt abgeschnitten war. SCHICHT C ist dabei alles andere als hochdramatisch. Es ist im Gegenteil ein Stück, das eine vergangene alltägliche Lebenswelt lebendig macht, so wie es sonst meist nur der Literatur gelingt.
»Menschen nehmen Ausnahmesituationen im eigenen Leben nicht nach den Mustern des Dramas wahr«, sagt Tobias Rausch, »sondern als eine Aneinanderreihung von Nebensächlichkeiten.« Für SCHICHT C haben Rausch und sein Team Mitarbeiter des Kernkraftwerks interviewt, die damals eingeschlossen waren und mit einem Minimum an Schlaf das Kernkraftwerk betrieben; mit Arbeitern, die die Gleise des eingeschneiten Zuges freizuschaufeln versuchten und dabei selbst beinahe umgekommen wären; mit Angehörigen zu Hause, die nicht wussten, was mit der SCHICHT C im Kernkraftwerk geschah; mit Angestellten des örtlichen Konsum-Ladens, die sich gegen Hamsterkäufe wehrten.
Das Team hat all diese Aussagen in kleinste Fragmente gesplittet und diese ineinandergeschoben. Was durch eine solche Geschichtssplitterung entsteht, ist im Ergebnis eine verdichtete, ganz und gar lebendige Erinnerung an den Alltag der DDR. Daran, wie die Menschen gewesen, wie sie miteinander umgegangen sind. »Wenn man versucht, das Große nachzuerzählen, trifft man es nicht«, sagt Rausch. Wie bei Marcel Prousts berühmten Madeleines sind es auch hier, bei den Interviews, die kleinen, marginalen Dinge, in denen die Nuancen, in denen das Eigentliche geborgen ist. Um sie herauszuarbeiten, muss man die Recherche ernst nehmen. Man muss sammeln und darf nicht gezielt nach etwas suchen. »Man muss die Desorientierung zulassen«, sagt Rausch. Das Extrem, die Ausnahmesituation ist nur die Matrix, die die Erinnerung schärfer und damit die Dinge deutlicher macht. Mit dem Gesammelten haben Rausch und die Schauspieler des Theaters Vorpommern improvisiert und ausprobiert, was davon miteinander Beziehungen eingeht, wo Dynamiken entstehen, sich etwas übereinanderschiebt.
So ist SCHICHT C entstanden, ein ebenso witziges wie poetisches, ständig ausverkauftes Stück. Es ist ein Zugang, eine Möglichkeit unter vielen. Eine Weise, den Menschen von ihrer Stadt, von ihrem eigenen, vergangenen Leben zu erzählen. Davon, wie sie einmal gewesen sind. Anton Nekovar, der Intendant des Theaters Vorpommern, hat dieses Stück als Arbeit am Lokalen verbucht. »Dass es nun auch noch Kunst geworden ist«, sagt er, »das freut mich ungemein.« Es ist ein Satz, der bei allem Engagement zu Missverständnissen einlädt: Als wäre die Arbeit mit und an den Geschichten der Stadtbewohner zunächst einmal nicht viel mehr als eine pädagogische Maßnahme zur Bindung des Publikums. Und nicht eine großartige Spielart dessen, was man auf der Bühne tun kann: sich mittels Schauspiel über sich selbst verständigen. Ein Wissen darüber, dass dies eine andere, aufregende, die üblichen Pfade verlassende Methode ist, Kunst zu produzieren, eine, die ganz nah dran ist an der Wirklichkeit.
In Bautzen verhält sich das anders. Da hat der Intendant Lutz Hillmann sein erstes Heimspiel gestartet, lange bevor der HEIMSPIEL-Fonds der Kulturstiftung des Bundes 2006 überhaupt aufgelegt wurde. 2003 hat Hillmann zum ersten Mal mit der Leiterin der Gedenkstätte Bautzen kooperiert. So ist im ehemaligen Stasi-Gefängnis Romeo und Julia als Stasi-Geschichte, als Drama aus der eigenen Mitte entstanden. Es wurde ein Abend, der der in der Stadt ungeliebten Gedenkstätte zu einem anderen Ansehen verholfen hat. Wichtig wurde die Gedenkstätte in den letzten Jahren immer mehr als Tourismusfaktor. In den Informationsblättern des Tourismusbüros findet sie sich inzwischen auf den ersten Seiten. Aber wie geht man in Bautzen und in der Region, jenseits von solchen Marketingstrategien, mit der Stasi-Vergangenheit um?
Es war Zeit für eine fremde Wahrnehmung, für einen Blick von außen, sagt Intendant Hillmann. Deswegen hat er zwei Westler, den Regisseur Martin Kreidt und den Dramaturgen Christoph Twickel, engagiert. Die haben sich für das HEIMSPIEL-Projekt in der Stadt auf Spurensuche begeben, Menschen in den Einkaufszentren befragt, Buchläden durchforstet, sind auf Ämtern vorstellig geworden. Eindrucksvoll war für sie, wie Menschen die DDR-Vergangenheit verherrlichten, ohne deren negative Seiten im Geringsten zu berücksichtigen. Die Stasigeschichte etwa, die gar nicht geleugnet, sondern schlicht abgespalten wird von dem, was dem Einzelnen »seine DDR« bedeutet.
Auf Grundlage ihrer Recherchen haben sich Kreidt und Twickel für den ANTIGONE-Stoff als dramaturgische Vorlage entschieden, weil er auf grundsätzlicherer Ebene Widerstand, Tyrannei und vermeintliche Staatsräson verhandelt. Sie haben ihn kurzgeschlossen mit Video-Einspielungen von zwei DDR-Dissidenten, dem Historiker Thomas Klein und dem ehemaligen Punk-Musiker Bernd Stracke, die beide nicht die DDR verlassen, sondern sie verändern wollten und deswegen in Bautzen inhaftiert waren. Zwei also, die die DDR nicht »verraten« hatten und deswegen die DDR-Verklärer anders, glaubhafter, mit ihren schrecklichen Geschichten über die Haft und die Infiltration ihrer gesamten Lebenswelt durch Stasi-Mitarbeiter konfrontieren konnten, als jene ehemaligen Häftlinge, die »rübermachen« wollten.
Durch das Stück geistert die freundliche, junge und ziemlich naive Chinesin Ling. Sie begrüßt die Zuschauer zu Beginn, erklärt ihnen, dass sie Studentin sei und hier ein Praktikum mache und wirkt dabei so echt, dass man zunächst nicht auf die Idee kommt, es könne sich um eine Schauspielerin handeln. Die Fremde im Stück mit ihren absurden Ansichten und Fragen zeigt, was für komische Seiten es haben kann, wenn Geschichten ganz unvermittelt nebeneinanderstehen. Diese Figur bringt fertig, was auch die Leiterin Silke Klewin über die Gedenkstätte sagt: Dass es ein Ort sei, an dem man auch lachen können müsse, sonst öffne man sich nicht. Sonst stehe man stramm vor der Geschichte oder lasse sich überwältigen.
ANTIGONE IN BAUTZEN, das ist Theater, das auf vielerlei Weise eingreift in das Selbstverständnis der Stadt. Es ist Theater, das genau dies auch als seine Aufgabe begreift. Hillmann hat schon einiges bewegt in der Stadt. Aber ein Stück, das auf Recherchen vor Ort basiert, das hat er hier auch noch nie inszeniert.
Dabei können gerade solche Arbeiten eine enorme Wirkung entfalten. Denn das Theater kann lokalen Themen zu einer anderen Bedeutung verhelfen, sie in einem anderen Licht erscheinen lassen, andere Prozesse in Gang bringen, als es durch Medienberichterstattung oder Universitätsvorträge möglich ist. Theater kann etwas bewegen, manchmal sogar verändern. Es kann etwa einer verpönten Stasi-Gedenkstätte Anerkennung verschaffen, oder den Blick auf den viel zu wenig beachteten Zusammenhang lenken zwischen Stasi-Vergangenheit und heutigen Hooligans im ehemaligen Stasi- und heutigen Neo-Nazi-Bezirk Berlin-Lichtenberg, wie beispielsweise im Stück DYNAMOLAND am Theater an der Parkaue. HEIMSPIELE geben dem Theater die Chance zu politischer Wirksamkeit. Die Chance, das Leben in einer Stadt mitzugestalten, Themen zu setzen, das Selbstverständnis einer Stadt in Frage zu stellen, zu verändern. Ein Theater in der eigenen Stadt zu verwurzeln, heißt genau das.
Jemand, der das in Oberhausen ganz genau weiß, kommt gar nicht vom Theater, sondern vom Jugendamt. Eberhard Wickum arbeitet mit migrantischen Jugendlichen, nicht in der Fürsorge, sondern, wie er selber sagt, im »prophylaktischen Bereich«. Gemeinsam mit der Dramaturgin Simone Kranz hat Wickum am Theater Oberhausen ein interessantes theaterpädagogisches Projekt entwickelt. Seit drei Jahren arbeitet das Theater in jeder Spielzeit mit einer anderen ethnischen Gruppe von Jugendlichen. Nicht, um sie zu segregieren, sondern weil die jeweiligen Communities jeweils spezifische Problematiken haben. Im vergangenen Jahr, bei der Arbeit mit fünf tamilischen Mädchen, die alle das Gymnasium besuchen und bestens integriert zu sein schienen, stellte sich heraus, dass jede von ihnen damit rechnet, durch die Eltern verheiratet zu werden.
»Indem über ihr Leben auf dem Theater verhandelt wird«, sagt Eberhard Wickum, »gibt man den migrantischen Communities öffentlichen Raum.« Man gibt ihnen damit Platz in der Gesellschaft, an einem Ort, der sonst von anderen genutzt wird. Und selbst wenn die Betreffenden nicht den Weg ins Theater finden — allein dass sie wissen, dass sich das Theater kümmert, sagt Wickum fest überzeugt, das hat schon Wirkung. Die türkischen Communities, so der Jugendamtsmitarbeiter, sind inzwischen im Migrationsrat der Stadt Oberhausen vertreten. Auch die Moscheevereine gehen mehr in die Öffentlichkeit, engagieren sich in den Arbeitskreisen ihrer Stadtteile. Nicht, dass da nicht noch viel zu tun wäre, aber der Prozess ist in Gang gekommen, man ist auf dem Weg. Bei den afrikanischen Communities ist das anders. Die meisten afrikanischen Migranten sind stark mit den Kirchengemeinden identifiziert, denen sie angehören. Einen Weg zu einem offenen Austausch hat bislang noch keine von ihnen gefunden. Theater kann da sehr viel. Es kann eine Brücke schlagen zwischen einander unbekannten Welten. Es kann Fremdheit abbauen, auf beiden Seiten. Es kann Geschichten erzählen, über die vielleicht die eine wie die andere Seite staunt.
In diesem Jahr ist mit der Inszenierung KLIMA TALK. OBERHAUSEN davon allerdings herzlich wenig gelungen. Denn der Regisseur Neco Çelik konnte mit der Vorarbeit des Theaters wenig anfangen. Er hat nach eigenen Themen gesucht. Sie führten ihn nicht in die Stadt hinaus, nicht in die afrikanischen Communities, sondern in das Theater hinein. Schade. Das sollten beide Seiten schon bei den Vorgesprächen merken: Ob jemand Feuer fängt, ob ihn das vorgegebene Thema interessiert, seine eigene Erfindungs- und Recherchelust reizt. Im Theater Oberhausen sind sie wegen des Fehlschlags nicht entmutigt. Sie wissen, sie sind trotzdem auf einem spannenden Weg. Hier zeigte sich, wie sorgsam die Zusammenarbeit mit den Regisseuren, in deren Hände man am Ende das ganze Projekt legt, austariert werden muss. Denn ob das Theater nun ein Thema vorgibt oder nicht: Am Ende sind die Regisseure die Spurensucher, die jenseits des Naheliegenden fündig werden oder zumindest fündig werden sollten. Die manchmal, wie etwa in Greifswald, überhaupt erst die Themen vor Ort entdecken.
Bei HEIMSPIELEN müssen die Regisseure die Kunst der Recherche beherrschen. Denn ohne eine gute und intensive Recherche geht es nicht. Und, das ist sicher die größte Erschwernis für ein HEIMSPIEL: Eine gute Recherche dauert lange und ist teuer. Und ein Risiko bleibt immer. Denn es mag erfahrene Rechercheure und Stück-Entwickler geben, aber nach einem Schema F funktionieren HEIMSPIELE nicht. Nie weiß man, worauf man treffen wird bei den Recherchen, auf welche Personen, auf welche Geschichten.
Gruppen wie RIMINI PROTOKOLL, aber auch Regisseure wie Tobias Rausch oder Martin Kreidt haben längst ihre eigenen Methoden und Zugänge entwickelt. Es sind Künstler, die süchtig sind nach Wirklichkeit. Matthias Rick ist auch so jemand. Kommen Sie auf keinen Fall mit dem Auto, kommen Sie mit der U-Bahn, sagt er schon am Telefon. Matthias Rick arbeitet an der Essener U-Bahnstation Eichbaum. Er ist Architekt und Mitglied der Künstlergruppe raumlaborberlin und als solcher Experte für gescheiterte stadtplanerische Utopien — und die Station Eichbaum ist geradezu ein Paradebeispiel für eine gescheiterte stadtplanerische Utopie: Eine U-Bahnstation, schwer einzusehen, an der sich in den 1980er Jahren eine Serie von Vergewaltigungen ereignete. Die seitdem, obwohl die Kriminalstatistik dem schon lange widerspricht, als gefährlichste U-Bahnstation Essens gilt und von vielen Anwohner gemieden wird. Viele nehmen lieber Umwege in Kauf, als dass sie die Betonpfade des Eichbaums passieren würden. Jedenfalls war das so, bis das raumlaborberlin kam.
Denn gemeinsam mit dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, dem Ringlokschuppen Mühlheim und dem Schauspiel Essen hat raumlaborberlin hier an der U-Bahnstation Eichbaum ein verrücktes, ein gewaltiges Projekt gestartet: DIE EICHBAUMOPER. EIN HEIMSPIEL-Projekt, das sehr viel mehr ist als nur eine Oper, sondern auch eine Kunstinstallation.
Zwei Jahre haben raumlaborberlin und die Partner an dem Projekt gearbeitet. Im vergangenen Jahr ist direkt an der Station Eichbaum die Opernbauhütte entstanden, nach Vorbild der mittelalterlichen Dombauhütten. Hier haben sie gesessen und gearbeitet, hier wurden mit den Dramaturgen und Komponisten die Libretti und die Kompositionen und mit der Regisseurin Cordula Däuper die Inszenierungen für die drei Opern entwickelt. Es wurde aber auch gegrillt, es wurden gemeinsam mit den Anwohnern Partys und Konzerte, Ausstellungen und Workshops veranstaltet. Wenn man am Nachmittag im Schatten der futuristischen, ein wenig wie ein Ufo anmutenden Opernbauhütte sitzt, sieht man nicht nur Passanten, sondern auch Besucher, die eigens hierherkommen, weil sie von dieser unglaublichen Operngeschichte gehört haben.
Ein älteres Ehepaar auf Fahrrädern etwa. Sie sind wie viele andere hier, um sich diesen Eichbaum einmal selbst anzusehen. Diesen Eichbaum, der jetzt berühmt ist als Ort der Hochkultur und der so lange bloß ein Unort war, an den sich nur Jugendliche wagten, die hier unbehelligt sprayen, rauchen, trinken, knutschen und ihre Kämpfe austragen konnten. Die Verkehrsbetriebe hatten die Überwachung und Gestaltung des Ortes schon lange aufgegeben.
Aber man kann einen solchen öffentlichen Raum damit nicht zum Verschwinden bringen. Das Team um die raumlaborberlin-Aktivisten Matthias Rick und Jan Liesegang hat versucht, dem Ort durch ein radikales Kontrastprogramm eine neue Geschichte zu geben. Sie haben gedacht, wenn sie an diesem unwirtlichen Platz eine Oper entstehen lassen, die den Ort selbst zum Thema nimmt, dann setzen sie dem technokratischen Wahnsinn eine andere Form der Verrücktheit entgegen. »Wir haben nach einem Wahnsinn gesucht, wie ihn Klaus Kinski als Fitzcarraldo in Werner Herzogs Film verkörpert. Denn das ist es, was man hier machen muss, ein Schiff über einen Berg tragen«, sagt Matthias Rick. Am Anfang hielten die Anwohner, hielt man überhaupt in der Stadt das Projekt für einen großen Unsinn. HipHop? Ja, so etwas könne man an einem Ort wie dem Eichbaum sicher veranstalten. Aber eine Oper? Niemals. Doch je länger die Künstler vor Ort in der Opernbauhütte arbeiteten, je selbstverständlicher sich beim abendlichen Grillen Passanten dazugesellten, die Alten zum Seniorencafé mit Lesung kamen, die Jugendlichen zu den Jugendparties und alle zum monatlichen Stammtisch der Opernbaubar, desto grandioser und gleichzeitig verrückter mutete das Projekt an. Weil es immer mehr Wirklichkeit annahm. Eine, die an diesem Ort »nicht normal« war.
Die EICHBAUMOPER, bestehend aus drei Uraufführungen —. ENTGLEISUNG. EINE KAMMEROPER, SIMON DER ERWÄHLTE und FÜNFZEHN MINUTEN GEDRÄNGE —, hat auch diejenigen überrascht und erstaunt, die den Eichbaum nicht besichtigt, die Opernaufführungen nicht besucht haben. Bewunderung und Verwunderung halten sich die Waage: Dass es dem Theater gelungen ist, einen verwahrlosten Ort in einen Kultort zu verwandeln und seine Geschichte umzuschreiben. Dieser Erfolg schwebt jetzt wie eine rosa Wolke über dem Eichbaum, eine HEIMSPIEL-Wolke — und es wird noch lange dauern, bis sie sich verflüchtigt. Vielleicht wird hier tatsächlich etwas Neues entstehen. Man muss wohl nachschauen gehen. Vielleicht hat ja dann schon der Biostand eröffnet, von dem in der Oper ein arbeitsloser Anwohner träumt. Auch das wäre dann ein Heimspiel. Eines von einer anderen Art.